Anzeige
FazitOnline

Die Verwahrlosung der Demokratie in Österreich wird immer breiter

| 19. Februar 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Editorial, Fazit 110

»Die Volkspartei muss sich aus sich heraus erneuern. Oder sie wird untergehen.« So habe ich mein Editorial vor rund einem Jahr hier übertitelt. Es hat übrigens eher an Aktualität gewonnen, daher erlaube ich mir, Ihnen zu empfehlen, es auf unserer Webseite nachzulesen.

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Damals hat die ÖVP noch unter Obmann Michael Spindelegger ihren »Evolutionprozess« begonnen. Dieser Tage wurden nun – wohl als ein erster Evolutionshöhepunkt gedacht – die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung präsentiert. Rund zwei Prozent aller Mitglieder der ÖVP haben im Internet 39 Fragen zu allgemeinen politischen Angelegenheiten beantwortet. Ich war eines davon und ich muss festhalten, dass das »Allgemeine« dieses Themenkatalogs beachtlich war. Wir Mitglieder der ÖVP durften so gewichtige wie brennende (Ja-Nein-)Fragen ankreuzen, ob wir »für das richtig, richtig Gute« oder doch eher »für das Supergute, das richtig gut ist« sind.
Auch unsere Position zu den wirklich heiklen Themen, wie etwa eine »ÖVP-Mitgliedschaft auf Zeit« – wohl gedacht für den urbanen Typus »Oigrohorz« (opportunistischer Intellektueller mit einem zu großen Horizont für so Kleinigkeiten, wie stringente Ausrichtung von Denken und Handeln) – wurden demokratisch abgefragt, wie auch der »Evergreen« der ÖVP-Diskussionen, die »Beschränkung der Mandatszeit für Funktionäre«. (»LOL« würde der internette Pappendeckel hier dazu schreiben.)

Das zarte Hirn und jede Pressekonferenz vor in Falterprofilstandard sich empörenden Junggeistesriesen nur belastende Bereiche, wie die Position der ÖVP zu Migration, Fortpflanzungsmedizin oder gar Familienbild oder noch schlimmer Vermögens- wie Erbschaftssteuer wurden in großer Genialität und mit noch größerer Gelassenheit in diesem Evolutionsprozess ausgespart. Man ist ja auch nicht ganz so dämlich, wie das Gros der schreibenden Zunft glaubt, man weiß schon, wie man dort gut ankommt.

Die wahrscheinlich brisanteste Frage war jene, ob sich die ÖVP »für ein differenziertes Schulsystem stark machen« soll, »in dem die Talente und Potenziale jedes Einzelnen bestmöglich gefördert werden«. Nun ist zwar schon die Fragestellung eher verwaschen, die 84,3 Prozent »Ja« kann man aber durchaus als eindeutiges Votum für das Gymnasium und eben gegen die Gesamtschule sehen. Nicht so der neue Bundesparteiobmann Reinhold Mitterlehner in einem Presseinterview vom 12. Februar. Dort weicht dieser der konkreten Frage des Journalisten aus, um zu ergänzen, da müsse noch mit den Experten diskutiert werden. Wozu habe ich dann diesen Fragebogen ausgefüllt?
Viel schlimmer ist aber das Fehlen jedes einzelnen – oben schon angesprochenen – wirklich wichtigen innenpolitischen Themas (mit Ausnahme eben der Schulpolitik, die ja aber jetzt dankenswerterweise mit Experten diskutiert werden wird).

Als überzeugter Anhänger der Vertretungsdemokratie und damit eher gegen allzuviele direktdemokratische Entscheidungen eingestellt, halte ich es für ein unglaubliches Manko, wenn dann aber die mich in Parlamenten vertretende Partei keinen sinnvollen innerparteilichen Diskussionsprozess durchführt.

Ich habe unlängst mit einem guten Freund darüber diskutiert, wie breit und immer breiter die Themenbereiche werden, wo ich mich und meine Meinung überhaupt nicht mehr vertreten sehe. Von der Migration, der Fortpflanzungsmedizin über die Genderthematik und das Familienbild hin zum Homosexuellenadoptionsrecht oder jetzt besonders und traurigerweise brandaktuell der Sterbehilfe. Er hat mir lapidar geantwortet, dass sei eben »Zivilisation«, wir »entwickelten uns eben weiter«.

Das  erscheint mir ausnehmend kurz gedacht. Selbstverständlich muss und kann nicht alles nach genau meinem Gutdünken entschieden werden (welch platte Erkenntnis, aber offenbar zu treffen), nur – und das habe ich halt als eine der wichtigsten Errungenschaft der »Zivilisation« in Erinnerung – sollte nicht eine Minderheit aus welchem Titel heraus auch immer über eine Mehrheit entscheiden, oder auch nur die Gefühlslage entstehen, dass dies der Fall sei. Nur sollte es zumindest in wesentlichen Fragen Richtungsentscheidungen geben, wo der einzelne Bürger mitentscheiden kann. Wenigstens ab und an. Und wenigstens bei der Programmerstellung (s)einer Partei.

Editorial, Fazit 110 (März 2015)

Kommentare

Antworten