Anzeige
FazitOnline

Das Gute im Streit mit dem anderen Guten

| 28. September 2015 | 3 Kommentare
Kategorie: Fazit 116, Kunst und Kultur

Foto: Lax ImagesAnmerkungen zu Jonathan Haidts Bestseller »The Righteous Mind« Von Michael Bärnthaler

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Die Frage, der Jonathan Haidt in »The Righteous Mind« nachgeht, lautet: Wie kommt es, dass gute Menschen durch Politik und Religion voneinander getrennt sind? Zentral ist hier die Annahme, dass es auf beiden Seiten einer Debatte gute Menschen gibt, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Der amerikanische Psychologe, der an der New York University lehrt, ist ein politischer Zentrist, der mit seiner Forschung auch explizit dazu beitragen möchte, dass Rechte und Linke, dass Konservative und Linksliberale einander besser verstehen. Dieses Anliegen ist zweifellos sehr aktuell.

Wie kommt es nun, dass permanente Meinungsverschiedenheiten, dass Streit und Dissens der Normalzustand sind, nicht Konsens und Harmonie? Haidt findet den Grund in der menschlichen Natur, wie sie evolutionär entstanden ist. Sein im weiteren Sinne konservativer, man könnte sagen: metakonservativer Blick auf die Konflikte zwischen Linken und Rechten fokussiert auf den Menschen als irrationales, aber rationalisierendes, sich in rivalisierenden Gruppen organisierendes Tier. Eine solche Anthropologie schiebt jeder utopischen Hoffnung einen Riegel vor, lädt jedoch zu der Anstrengung ein, sich um echtes Verständnis des jeweils anderen zu bemühen.

In diesem Zusammenhang präsentiert Jonathan Haidt drei Prinzipien der Moralpsychologie, die seinem Buch auch die Struktur geben. Der erste Grundsatz, dass moralische Intuitionen stets strategisch-rationalem Denken vorausgehen, lässt sich mit der Metapher von Elefant und Reiter illustrieren: Unser Geist ist geteilt; der größere Teil ist der Elefant, also all die unbewussten Prozesse, die unser Verhalten großteils steuern, darauf sitzt der Reiter, unser bewusstes Nachdenken, dessen Job es ist, dem Elefanten zu dienen, ihm zu helfen, seinen Weg zu finden. Haidts zweites Prinzip weist uns darauf hin, dass Moral aus wesentlich mehr als nur Überlegungen zu Leid und Fairness besteht – worauf der säkulare Westen, also wir, sie beschränken möchten. Metapher: Der Righteous Mind, also der gerechte, gerechtigskeitsbedürftige und selbstgerechte Geist des Menschen ist eine Zunge mit sechs moralischen Geschmacksrezeptoren: Fürsorge/Leid; Fairness/Betrug – Loyalität/Verrat – Autorität/Subversion – Heiligkeit/Profanierung – Freiheit/Unterdrückung. Leider fehlt hier der Platz, um das näher auszuführen.

Haidts drittes Prinzip schließlich lautet: Morality binds and blinds. Das heißt, dass Moral, ohne die wir nicht existieren können, uns immer auch an Ideale und Gruppen von Menschen bindet und uns tendenziell blind macht für das, was außerhalb davon liegt. Diese Struktur von Moralität lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Wir sind also notwendig auch Heuchler, in unterschiedlichem Ausmaß; der Mensch ist nicht gut, er kann nur wissen, dass er nicht gut ist und so das Ausmaß seiner Schlechtigkeit minimieren – etwas drastisch formuliert.

Während ich diese Zeilen schreibe, spitzt sich die europäische Flüchtlingskrise weiter zu. Menschen, die nicht genug Begeisterung über die vielen Asylwerber aus Afrika und Asien zeigen, Menschen, die, eingeleitet mit einem »Aber …«, Bedenken anmelden, werden als »Aber-Nazis« diffamiert. Wir beobachten die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft. Durch divergierende moralische Intuitionen getrennte Gruppen von Menschen entfremden sich mehr und mehr voneinander. In gewisser Hinsicht ist das der Normalzustand. Aber wir sollten alles tun, um zu verhindern, dass diese spaltenden Tendenzen unsere Gesellschaft zerstören. Leider ist »The Righteous Mind« noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen.

Foto: Vintage BooksThe Righteous Mind – Why Good People are Divided by Politics and Religion. Von Jonathan Haidt, USA 2013, 528 Seiten. righteousmind.com

 

 

 

 

 

Alles Kultur, Fazit 116 (Oktober 2015) – Fotos: Lax Images, Vintage Books

Kommentare

3 Antworten zu “Das Gute im Streit mit dem anderen Guten”

  1. nicht nichts › Für eine realistische Anthropologie (Jonathan Haidt)
    15. Januar 2016 @ 21:50

    […] Eine Lektüreempfehlung im FAZIT […]

  2. nicht nichts › Jonathan Haidt: Globalismus vs. Nationalismus
    15. Juli 2016 @ 13:58

    […] Wer ist Jonathan Haidt? […]

  3. Die Koronakrise und der Einschnitt in unsere Privatsphäre – 21st century veg
    29. März 2020 @ 07:13

    […] sondern weil ich Introspektion betreibe und mit Erschrecken feststelle, dass es stimmt. Und genauso wie Haidt entwickle ich mich durch kritische Selbstreflexion, die Anwendung seiner Theorie, sowie das Leben […]

Antworten