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Der digitale Wandel im Handel

| 28. September 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 116, Fazitthema

Illustration: Peter Pichler

Der stationäre Handel kämpft mit dem Internet. Was viele vergessen: Er ist eigentlich noch immer Marktführer. Aber auch das macht seine Zukunft nicht unsicherer.Von Adrian Engel. Mitarbeit: Peter K. Wagner.

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Senta Berger sitzt in einem der üppigen Zimmer des Grand Hotels Wien. Keine aufregende Szene. Doch dann beschreibt die 74-jährige Schauspielerin ihr Shopping-Verhalten. »Natürlich nehme ich mir Zeit. Aber zu Hause. Ohne diese engen Kabinen.« Sie trägt einen schwarz-weiß karierten Mantel. »Man darf halt nicht altmodisch sein«, sagt sie. Während die Tonspur über das Bild läuft, folgt ein hastiger Schnitt. Gemeinsam mit Christiane Hörbiger und Hannelore Elsner stolziert Senta Berger nun zu Dubstep-Musik in Zeitlupe über die barocken Stiegen des Burgtheaters. Sie trägt eine kecke Sonnenbrille. Ihre letzten Worte aus dem Grand Hotel flossen noch mit rüber in die neue Szene. »So what?« Dieser provokative Werbespot des Online-Versandhändlers Zalando mit dem Slogan »Seid nicht altmodisch« trifft stationäre Händler ins Herz. Die Message: Einkaufen in realen Läden ist nicht mehr zeitgemäß. »Ich war fassungslos, als ich das gesehen habe«, sagt Ulrike Stibor-Stark. Sie führt ein Schuhhaus in der Steiermark mit fünf Filialen. Nachdem die Unternehmerin den Zalando-Werbespot vor ein paar Tagen zum ersten Mal im Fernsehen sah, verfasste sie einen offenen Brief an die drei Schauspiel-Legenden. Darin kritisiert sie, dass die Schauspielerinnen »den Einzelhandel als altmodisch darstellen«, obwohl gerade »sie wahrscheinlich zig Jahre lang wahnsinnig zuvorkommend und aufmerksam beraten und bedient« worden seien. Der Einzelhandel steht mitten im digitalen Wandel.

40 Prozent an Amazon
»Für die meisten Marktteilnehmer ist das eine disruptive Situation, in der wir uns befinden«, erklärt Rainer Will, der Geschäftsführer des Handelsverbandes. 55 Milliarden erwirtschaftete der österreichische Handel im Jahr 2014. 3,1 Milliarden davon setzten Online-Angebote um. Geschätzte 3 Milliarden werden in der Bilanz gar nicht aufgewiesen. Online ist der Markt potenziell global und dadurch die Erfassung schwieriger. »In gewissen Segmenten wie bei Büchern, Computern oder Lederwaren werden Online-Käufe sogar bis zu 70 Prozent im Ausland getätigt«, sagt Will. 326.100 Arbeitsplätze schafft der österreichische Handel. »80.000 davon werden sich ändern müssen«, meint Will. Manche werden auch aufgrund des Flächenüberangebotes verloren gehen, viele werden sich stärker in Beratung und Kundenservice unter Nutzung der neuen Technologien, aber auch in Richtung Kommissionierung, Logistik und Zustellung verschieben. Online werden sich österreichische Unternehmen stärker mit ausländischer Konkurrenz messen. Die digitale Binnenmarktstrategie der Europäischen Kommission soll die Vormachtstellung von Global Playern aufbrechen und Regulierungen vereinheitlichen. Dies könnte Chancen für wettbewerbsfähige Händler erhöhen. In Deutschland erwirtschaftet Amazon im Vorjahr 40 Prozent des gesamten Online-Umsatzes. In Österreich dürfte es ähnlich sein.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind schnell erklärt. »Es gibt nur eine Kaufkraft. Je mehr Online-Handel es gibt, desto schwieriger ist es für den stationären Handel«, sagt Thomas Foscht, Dekan der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität in Graz. Und dies sei nun einmal der Fall. »Die Gruppe der Personen, die das Internet nützt, repräsentiert immer mehr die Gesamtgesellschaft. Es gibt kaum mehr Personengruppen, die gar nicht im Internet unterwegs sind.« Dennoch gebe es in Österreich auch Besonderheiten, die die Digitalisierung des Markts fördern, erklärt Will. »Wir haben in Österreich einen Überschuss an Verkaufsflächen, in den vergangenen Jahren war die Expansion zu hoch und der stationäre Handel leidet unter einigen nationalen Regulierungen, die andere Länder nicht haben.« Die im Juli von der Koalition beschlossene Speichermedienabgabe führe beispielsweise dazu, dass sich Konsumenten USB-Sticks nicht mehr bei österreichischen Anbietern kaufen, sondern auf Amazon, wo künftig Speichermedien um sechs Prozent billiger sein werden, meint Will.

Die Pensionisten als Chance
»Anbieter aus dem Ausland zahlen wesentlich weniger Ertragsteuern und haben wesentlich geringere Lohnnebenkosten zu bezahlen. Das Steuerproblem ist ein EU-Problem«, nennt Gerhard Wohlmuth weitere wesentliche Kritikpunkte an der österreichischen Gesetzgebung. Laut dem Obmann der Handelssparte in der steirischen Wirtschaftskammer steigt auch in der Steiermark die Nutzung von Online-Shops stark an. Wohlmuth sieht den Grund dafür vor allem in der wachsenden Zielgruppe der Pensionisten. »Der Anteil der Internetnutzer, die zwischen 60 und 74 Jahre alt sind, ist in den vergangenen zehn Jahren von 51 Prozent auf 81 Prozent gestiegen. Die Hälfte aller Nutzer von Online-Shops ist zwischen 55 und 75 Jahre alt.« Die Digitalisierung sei vor allem eine »Chance«. Denn die Steiermark befinde sich durchaus am Puls der Zeit. »70 Prozent der Betriebe in der Steiermark betreiben eine Website. 19 Prozent verkaufen darauf in einem Online-Shop auch ihre Produkte«, sagt Wohlmuth. Dass der steirische Handel zukünftig weniger Arbeitsstellen bieten kann, glaubt er nicht. »Die Verkäuferanzahl bleibt gleich und es kommen noch Mitarbeiter für das Online-Angebot hinzu – beispielsweise für die Logistik.« Naturgemäß ganz anders sieht das der Präsident der steirischen Arbeiterkammer. »Der Trend zur Teilzeitbeschäftigung ist ungebrochen. Dadurch gibt es gewaltige Probleme bei der Alterssicherung«, erklärt Josef Pesserl. Und es gebe auch eine geringe Tendenz der Posten-Rückgänge. Zwar gab es zwischen 2010 und 2014 einen generellen Zuwachs von 2,6 Prozent. Zwischen 2013 und 2014 sei die Beschäftigungszahl im steirischen Handel jedoch um 0,2 Prozent zurückgegangen. Vor allem bei den Lehrlingsstellen wurde ab 2010 ein Rückgang von 7 Prozent verzeichnet. Alles in allem seien das sehr erhebliche Erosionen. Immerhin seien 15 Prozent der Beschäftigten im Handel angestellt. Und eine Senkung der Lohnnebenkosten wäre »untragbar«, sagt Pesserl: »Ich würde mir wünschen, dass die Wirtschaftskammer die Energie, die sie dafür aufwendet, um die österreichischen Standards an die schlechten Standards anderer Mitgliedsländer anzupassen, dafür aufwenden würde, um die Standards in den anderen Ländern anzuheben.«

Liberale Öffnungszeiten sind keine Lösung
Nur in einem Punkt sind sich Arbeitnehmervertreter und Arbeitgebervertreter einig: Eine Liberalisierung der Öffnungszeiten wäre wirkungslos. »In der Steiermark können Geschäfte zwischen 9 und 21 Uhr offen haben. Damit sind sie eigentlich schon sehr flexibel. Und der Großteil der Betriebe nützt die möglichen Öffnungszeiten gar nicht«, erklärt Wohlmuth. Und Josef Pesserl findet außerdem: »Die Menschen kaufen dann nicht mehr, als sie brauchen.« Doch was muss dann passieren?
»Es geht darum, die Leute dort abzuholen, wo sie sind«, sagt Thomas Foscht. Bei manchen Zielgruppen seien das soziale Medien und andere wiederum würden immer noch gerne in der Innenstadt oder Einkaufszentren shoppen. »Die meisten Leute haben schon noch das Bedürfnis, mit anderen Leuten über ein Produkt zu diskutieren. Um dem gerecht zu werden, ist natürlich die Voraussetzung, dass man entsprechend kompetente Mitarbeiter hat«, sagt Foscht. Und gewissen Zielgruppen kann man besser mit der Flexibilität des Internets begegnen.

Ein Best-Practice-Beispiel dafür, wie ein Unternehmen online eine Marktlücke schließen kann, ist das Start-up Outfittery. Das Kapital von Outfittery ist das Einkaufsverhalten seiner Zielgruppe: shoppingfaule Männer. Das Portal bietet Männern, die keine Zeit für Shopping aufwenden wollen, einen erschwinglichen Beratungsdienst. Nach dem Ausfüllen eines Online-Fragebogens und einem Telefonat mit einem persönlichen Stilberater sendet Outfittery seinen Kunden ein vom Berater zusammengestelltes Outfit zu. Was gefällt, bleibt bei ihm, was nicht, darf kostenfrei zurückgeschickt werden. »Die Kunden schätzen es, dass sie ein Päckchen zugeschickt bekommen und merken: Da hat sich jemand Gedanken gemacht«, erklärt die Vorarlberger Geschäftsführerin Julia Bösch das Konzept. Damit traf das Berliner Unternehmen den Nerv der Zeit. Die neuesten Optimierungen des Serviceangebots von Outfittery sind ein WhatsApp-Service und Körperscanner, die man gerade an öffentlichen Orten aufstellt. Outfittery gründete sich 2012 und belieferte in der Zwischenzeit 200.000 Kunden – 20.000 davon in Österreich. Im Vorjahr stieg der Venture Capital Investor Highland Capital Partners mit einer Investition in der Höhe von 13 Millionen Euro ein. Das Ziel ist groß. »Wir wollen die Nummer eins für Männermode in Europa werden«, sagt Bösch.

Zauberwort Kundenbindung
Doch auch spezialisierte und lokale Unternehmen haben im Internet die Chance, ihr Potenzial besser auszuschöpfen. »Sie haben im Internet natürlich die Chance, mit einem Schlag international präsent zu sein. Für sie gibt es mehr potenzielle Kunden«, erklärt Thomas Foscht. Für klassische Einkaufszentren gelte es, die Verkaufsflächen auch außerhalb der Einkaufszeiten für Kundenbindung zu nützen. »Der Europapark in Salzburg ist ein gutes Beispiel dafür, wie man ein Einkaufszentrum auch für Unterhaltungszwecke nützen kann«, sagt Foscht.

Für Mittel- und Großbetriebe ist es wichtig, eine zeitgemäße Verzahnung der Online- und Offline-Kanäle zu schaffen. Bei der Sportartikelkette Hervis – ein Tochterunternehmen der Spar Österreichische Warenhandels-AG – steht auf dem Patentrezept mit dem Stichwort »Multichanneling«. Kunden können ihre online bestellten Waren in der gewünschten Filiale abholen und umtauschen. Außerdem kann man die Ware im Geschäft per Tablet und QR-Code scannen, bestellen und nach Hause liefern lassen. »Kunden können so je nach Lust und Laune 24/7 shoppen und gleichzeitig auf die Servicekompetenz im stationären Handel zurückgreifen«, erklärt Hervis-Geschäftsführer Alfred Eichblatt. Im Dezember vergangenen Jahres startete Hervis zusätzlich ein neues Shop-Konzept in Österreich. In Innsbruck eröffnete ein Express-Laden – dort ist das gesamte Sortiment auf einer relativ kleinen Fläche verfügbar. Schlussendlich gilt es schlichtweg abzuwägen: Was ist ein Hype und was ist ein Trend? Für Rainer Will ist klar: »Es gibt nach wie vor einige Produkte, die sich für die Online-Zustellung weniger gut eignen.« Und der stationäre Handel kann ganz einfach punkten, indem er auf seine Stärken setzt: persönliche Beratung und Service sowie erlebbares Einkaufen. Denn noch nie waren Kunden so gut informiert wie heutzutage. Per Smartphone kann man sich über Preis und andere Details eines Produktes sogar noch im Laden informieren. Um dem Beratungsbedürfnis dennoch gerecht zu werden, braucht es gut ausgebildete und kompetente Mitarbeiter. Dann würden weiterhin viele Leute lieber in den Laden gehen, als sich Kleidung auf »Zalando«, Bücher über »Amazon« oder Laptops über »Notebooksbilliger« zu bestellen, meint Will. »Vor allem dann, wenn man sich frei inspirieren lassen und Sachen angreifen und ausprobieren möchte«, erklärt er. Und fest steht auch: Der stationäre Handel dominiert immer noch deutlich den Markt. »Für 95 Prozent der erfassten Umsätze im Handel sind noch immer stationäre Geschäfte verantwortlich«, sagt Will. Überlegen müssen sich Unternehmer dennoch einiges, wie sie dem tendenziellen Online-Trieb ihrer Kunden gerecht werden können. Manche stationäre Händler werden unter niederschwelliger und bequemerer Online-Konkurrenz leiden. Das Internet ist heutzutage Alltag und das ist nicht aufzuhalten. Manche werden für das »Social Animal« Mensch weiterhin den Reiz des realen Erlebnisses haben.

»Der Einzelhandel ist nicht altmodisch«
Ulrike Stibor-Stark hat in ihren Schuhgeschäften, die keinen Online-Shop führen, keine Umsatzeinbußen. Nachdem sie zwei Geschäfte umgebaut habe, seien die Geschäfte in der Innenstadt gewohnt attraktiv für flanierende Kunden. Viel eher spürt sie aufgrund der Digitalisierung eine andere Veränderung. »Beratung wird heute von Kunden als kostenfreie Dienstleistung angesehen«, sagt sie. Das Verständnis dafür, dass man in einem realen Geschäft mehr bezahlen müsse, weil man bedient wird, sei nur sehr gering. Ihr persönlicher Lösungsansatz ist es daher, aufzuklären. »Meinungsbildung« nennt sie es. Daher verfasste sie den öffentlichen Brief. Auf diesen habe sie bereits Reaktionen im »vierstelligen Bereich« erhalten. »Wir sind nicht der arme Einzelhandel, der nichts kann. Wir sind nicht altmodisch«, sagt Ulrike Stibor-Stark. Der Kampfton der Zalando-Werbung habe sie aufgeregt. Dabei müsse doch der eine nicht den anderen bekämpfen. »Es hat uns jetzt lange nebeneinander gegeben. Es wird uns weiterhin nebeneinander geben.« So what?

Titelgeschichte Fazit 116 (Oktober 2015) – Illustration: Peter Pichler

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