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Wir sollten den Brexit zur großen Chance für Europa werden lassen

| 4. Juli 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Editorial, Fazit 124

Die Bürger des Vereinigten Königreiches haben sich – mit knapper Mehrheit, 52 zu 48 Prozent – gegen einen Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen. Trotzdem ist die Sonne am 24. Juni 2016 wieder über Europa aufgegangen. Diese Entscheidung des britischen Wahlvolkes ist natürlich aus vielen Aspekten heraus bedauerlich, sowohl für das Königreich als auch für die Rest-EU. Wenn sich die Börsenturbulenzen kurz nach dem Referendum auch wieder legen werden, sind die finanziellen Folgen für Bürger wie staatliche und private Institutionen hie wie dort wenig abschätzbar. Und es wird nachteilige Auswirkungen geben.

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Trotzalledem ist diese Wahlentscheidung nicht nur negativ zu betrachten. Kontinentaleuropäische Medien, zumindest deutsche und österreichische, haben ja noch bis kurz vor Mitternacht auf »vorliegende Exitpolls« verwiesen, die den Verbleib der Briten versprochen hätten, um dann am Freitag in der Früh in totale Mißmut zu verfallen und mit Livetickern und sonstigem Gedöns von einem »schwarzen Freitag« und dem »Brexit-Schock« zu sensationieren. Als mein Leben lang ein »glühender Europäer« und großer Befürworter der Europäischen Union, kann ich diesen Ausgang einer demokratischen Abstimmung nur als eines sehen: als Chance für diese EU. Ich denke nämlich, die großen Fehler, die wesensbestimmenden für den miserablen Zustand der heutigen Union, die wurden bereits in den späten Neunzigern und frühen Nullerjahren gemacht. Man hatte damals einfach »Angst vor der eigenen Courage«. Ein wirkliches Zusammenrücken zu einer Art Vereinigter Staaten von Europa – natürlich sui generis! – wäre damals möglich gewesen, ist aber den eigenenen, nationalen Interessen geopfert worden. Spätestens mit dem Scheitern des Verfassungsentwurfs von 2004 und dem dann folgenden Lissabonner Vertrag (2009 in Kraft getreten) geht die Union viel zu oft in die falsche Richtung. Im Zusammenhang mit der Bankenkrise wurden dann auch regelmäßig klare Vertragsbrüche als »Auslegungssache« durchgesetzt und die Union schlitterte immer mehr in eine Akzeptanzkrise. Die Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten, wie es Frank Schäffler am Tag nach dem Referendum schrieb, »wurden nicht mitgenommen«.

Und das ist fatal. Denn zu dieser Akzeptanzkrise vermengte sich die immer stärkere Desavuierung aller Kritiker der EU – ob jetzt gemäßigt und damit sinnvoll oder eben auch radikal und damit unbeachtenswert – als »rechte und nationale Spinner« durch eine linke Meinungsschickeria und die Postulierung der »Alternativlosigkeit der EU«. Wir sehen heute, wohin eine solche Punzierung der Bevölkerung führen kann. Die Linke ist dabei auch wenig lernfähig, zahlreiche diffamierende Zuschreibungen (und vermeintliche Erklärungen) der Wähler für einen Austritt als »alt«, »rechts«, »national« und »ungebildet« nur Stunden nach dieser Entscheidung bestätigen das. Dabei haben diese Erklärungsbeauftragten eines offenbar überhaupt nicht kapiert oder zumindest vergessen: Wir leben in einer Demokratie. Die Demokratie lebt von der Wahl. Und eine Wahl, bei der man sich nicht entscheiden darf, bei der es nur ein »richtiges« – das »gute« nämlich – Ergebnis geben kann, ist keine solche! Der Wahlausgang ist also zu akzeptieren. Nicht mehr und nicht weniger. Hier große, zu große Emotionen hinein zu imagininieren, kann nicht sinnvoll sein. Und die Wähler, das britische Volk, als zu dumm abzukanzeln schon gar nicht.

Aber zurück zur Chance. Die kann, die muss, die sollte die Europäische Union und damit vor allem jeder einzelne Staat der EU jetzt nutzen. Nutzen zu einem totalen Neustart. Dabei werden wir uns die Frage stellen müssen, was will die Union überhaupt sein, was kann sie sein und wo will die Union in zehn, zwanzig Jahren stehen. Es wird notwendig sein, über so zentrale Fragen wie eine europäische Verfassung oder eine europäische Staatsbürgerschaft nachzudenken. Und auch über die adäquate Form der europäischen Verteidigung – gemeinsame Armee, gemeinsamer Wehrdienst als ein weiteres europäisches Identifikationsmerkmal? – wird nachzudenken sein. Das alles sollten die besten Köpfe Europas zusammenbringen. Und, das ist zwar nicht der wichtigste Punkt aber mit ein wichtiger: Wenn Jean-Claude Juncker und Martin Schulz diesem Kontinent einmal einen Dienst erweisen wollen, dann sind die beiden bei Drucklegung dieses Magazins bereits zurückgetreten.

Editorial, Fazit 124 (Juli 2016)

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