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Brexit. Die Chance auf ein noch besseres Europa

| 1. August 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 125, Fazitthema

Foto: Europäisches Parlament

Mit dem Brexit liegt der europäische Einigungsprozess in seiner bisherigen Form in Trümmern. In den Tagen seit dem britischen Referendum hat sich jedoch herausgestellt, dass zumindest vorläufig kein anderes Land dem britischen Beispiel folgen wird. Text von Johannes Tandl

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Stattdessen ist man sich einig, dass Europa jetzt dringender denn je Reformen benötigt. Doch wenn man einen gemeinsamen Ansatz oder gar eine gemeinsame Richtung für diese Reformen sucht, ist es mit der Einigkeit auch schon wieder vorbei. Sämtliche Institutionen der Europäischen Union haben schon kurz nach dem Brexit-Votum ihre Professionalität unter Beweis gestellt. Es war tatsächlich beeindruckend, wie rasch Kommission, Rat und Parlament zur einheitlichen Linie »Erst das Austrittsschreiben, dann Verhandlungen!« gefunden haben. Die EU-Politiker wollen die Infektionsgefahr, die von dem Votum auf andere Länder ausgeht, minimieren, indem sie eine weitere britische Rosinenpickerei unter allen Umständen verhindern.

Und auch die wichtigsten europäischen Medien haben im Sinne Brüssels agiert. So wurden der spektakuläre Verfall des britischen Pfunds und die negativen Folgen des bevorstehenden EU-Austritts für Großbritannien in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt, während die durchaus dramatischen Auswirkungen des Votums auf die verbleibenden EU-27 vorerst nur am Rand vorkamen. Die internationalen Medien haben ihre Chance auf ein bisschen Quote genutzt und die britischen EU-Gegner als von unverantwortlich agierenden Politikern verführte, nationalistische Hinterwäldler dargestellt. Die Brexit-Auslöser David Cameron, Nigel Farage und Boris Johnson wurden gar mit Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, gleichgesetzt.

Die Botschaft an die Austrittsmotivierten in Ländern wie Italien, Frankreich, Finnland, aber auch Österreich war klar: »Ohne EU seid ihr schneller weg vom Fenster, als ihr euch das bisher vorstellen konntet!« Und tatsächlich will vorläufig kein anderes Land dem britischen Beispiel folgen. In Österreich rudert neuerdings sogar die FPÖ zurück. So will der freiheitliche Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer nun nichts mehr von einem EU-Austrittsvotum wissen und Heinz-Christian Strache spricht von einer Beschränkung der EU auf das Wesentliche. Für ihn ist das der Binnenmarkt, bei gleichzeitiger Stärkung der Nationalstaaten. Ein Referendum über den Verbleib Österreichs in der EU sollte nur dann abgehalten werden, wenn der EU-Beitritt der Türkei ansteht.

Die EU muss ihre Kompromissfähigkeit wieder erlangen
Bevor die Briten nun ihren Austrittsantrag – rechtlich ist die britische Regierung dazu nicht verpflichtet – einreichen, sollte doch geklärt werden, worüber tatsächlich abgestimmt wurde. Es kann nämlich durchaus sein, dass für die Bürger die Verlockung einfach zu groß geworden ist, mit einem Brexit-Votum ganz vielen Schienbeinen einen Tritt zu verpassen. Denn dass die Briten auch dem Zusammenwachsen Europas, der Aussöhnung mit Deutschland oder dem gemeinsamen politischen Eintreten für die europäischen Werte – Aufklärung, Menschenrechte oder die Gleichstellung von Mann und Frau – eine Absage erteilen wollten, ist undenkbar. Eine überhastete Eile und beschleunigte Austrittsverhandlungen sind daher nicht angebracht.

Den meisten Europäern ist völlig klar, dass sie die wichtigsten Errungenschaften der EU nur der Kompromissfähigkeit der Mitgliedsländer zu verdanken haben. Dort, wo diese Kompromissfähigkeit hingegen verlorenging, wie etwa bei der Migrations- oder der Sicherheitspolitik, häufen sich die Probleme. Und auch der mühsame Umsetzungsprozess, der den Kompromissen folgt, ist den Bürgern kaum als Erfolg zu vermitteln: Jedes Ergebnis muss in Verträge gegossen werden, die gecheckt und gegengecheckt und in vielen Fällen gesondert ratifiziert, wieder aufgeschnürt und dann neu verhandelt werden, bevor es irgendwann zu einer Umsetzung kommt oder das Ganze aus irgendwelchen Gründen doch noch scheitert.

Was ist aus dem Freiheitsprojekt Europa geworden?
Einem Wähler, der halbinformiert den Stimmzettel zum Denkzettel macht, sind diese Mühen bei der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene kaum vermittelbar. Zum Brexit kam es aber auch, weil die britischen Wähler das Gefühl hatten, dass die Verträge in letzter Zeit ohnehin jeder so interpretiert hat, wie er will. Außerdem konnten sie in der EU schon seit längerer Zeit kein Mehr an Freiheit erkennen. Stattdessen sehen auch in allen anderen europäischen Ländern immer mehr Bürger etwa die Mitarbeiter der EU-Institutionen fälschlicherweise als demokratisch nicht legitimierte Bürokraten, die einer zentralistischen Führung unterstehen und in jeden Lebensaspekt der »braven Steuerzahler« einzugreifen versuchen; die ihnen die Glühbirnen verbieten oder den Wasserdurchsatz ihrer Duschköpfe regeln. Das – und nicht die Friedens- und Freiheitsunion – wollten die Briten nicht mehr als alternativlos hinnehmen. Und so ist Europa in ihren Augen unfreiheitlich geworden. Dazu kommt, dass viele Briten von Europa eigentlich immer schon nur den Binnenmarkt wollten. Dass sie sich auf einmal als Teil einer Solidargemeinschaft wiederfanden, die auch jene belohnt, die sich nicht an die Regeln halten, wollten sie nicht länger akzeptieren. Einen weiteren Aspekt dieser Unfreiheit erkannten die britischen Brexit-Betreiber schließlich im Euro. Obwohl Großbritannien den Euro immer abgelehnt hat, sah es sich mit einer sich dreist über ihren Stabilitätsauftrag hinwegsetzenden EZB konfrontiert, die den EU-Bürgern, ohne demokratische Legitimation, jährlich hunderte Milliarden an Kaufkraft entzieht.

Botschaft an Austrittswillige: Das wird teuer!
Angesichts des politischen Durcheinanders, das in Großbritannien seit dem Referendum entstanden ist, ist längst nicht mehr sicher, ob der Antrag auf einen EU-Austritt je in Brüssel eintreffen wird. Das Dilemma der Brexitbefürworter ist, dass sie zwar im Binnenmarkt bleiben, nicht aber die Personenfreizügigkeit beibehalten wollen. Für die EU ist das ein absolutes »No-go«. Und man hat den Briten mehr als einmal klar gemacht, dass man darüber nicht einmal verhandeln wird. Insofern war die Haltung von Angela Merkel, Jean-Claude Juncker, aber auch Martin Schulz, erst über die Austrittsbedingungen zu verhandeln, nachdem der Antrag eingetroffen ist, goldrichtig. Denn so gehen die Briten nun das enorme Risiko ein, als Preis für den Verbleib im Binnenmarkt nicht nur ihre Mitsprachemöglichkeit, sondern auch ihren Britenrabatt von etwa zehn Milliarden Euro jährlich einzubüßen. Statt der fünf Milliarden Euro, die Großbritannien bisher als Nettozahler jährlich nach Brüssel zahlt, könnten es nach dem Austritt 15 Milliarden sein.

Die neue Premierministerin Theresa May hat angekündigt, »Brexit bedeutet Brexit« und sie werde daraus einen Erfolg für das Vereinigte Königreich machen. Auch die Ernennung von Boris Johnson zum Außenminister ist vor allem als innenpolitisches Signal zu werten, das Brexit-Votum ernst zu nehmen. Vor allem die alles dominierende britische Finanzindustrie drängt massiv darauf, ihre Geschäfte mit dem Kontinent weiterhin von London aus tätigen zu können. Doch das geht nur, wenn Brüssel das in den Austrittsverhandlungen zulässt. Außerdem stehen Frankfurt, Paris und die anderen EU-Finanzmetropolen schon in den Startlöchern und bedrängen sowohl ihre nationalen Regierungen als auch die EU-Kommission, gegenüber London in dieser Frage unbedingt hart zu bleiben. Da die britische Finanz-
industrie zwei Drittel ihrer Umsätze klassischen EU-Geschäften verdankt, wird es daher – wenn überhaupt – wohl nur zu einem »Brexit light« kommen. Und der wird für die Briten extrem teuer werden.
Falls der von May versprochene Antrag – entgegen vielen Erwartungen – dennoch kommt, wird die nächste Diskussion darüber entbrennen, welchen Status Großbritannien während der Austrittsphase haben wird. Um ihre Wirtschaft und die Direktinvestitionen zu halten, brauchen die Briten nämlich so rasch wie möglich eine positive Binnenmarktperspektive. Und auch die werden sich der Rat und Kommission teuer abkaufen lassen.

Die Großbaustellen auf der EU-Agenda
Die EU hat derzeit aber auch noch ganz andere Sorgen. Denn dass das europäische Projekt dringend reformbedürftig ist und eine neue demokratische Legitimation innerhalb der europäischen Bevölkerung benötigt, ist offenkundig. Daher wollen die Staats- und Regierungschefs – und nur sie können über den Kurs bestimmen – nun zuerst einmal in einer Abkühlphase die Brexit-Wogen glätten. Darauf könnte dann eine durchaus längere Nachdenkphase über die Zukunft der EU folgen, in der man sich abseits der Öffentlichkeit über den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, von dem aus die »EU Neu« weiterentwickelt werden soll.
Noch liegen die Vorschläge der Mitgliedsstaaten extrem weit auseinander. So will etwa der finanzschwache EU-Süden die Währungsunion so schnell wie möglich zu einer vollständigen Transfer- und Haftungsunion umbauen, während Deutschland und die Niederlande das »No-Bailout-Prinzip« diesmal tatsächlich wasserdicht machen wollen. No-Bailout bedeutet »Nichtbeistand«. Die Klausel ist seit Bestehen der Europäischen Union Teil des Vertragswerkes und soll verhindern, dass ein Mitgliedsland für die Schulden des anderen einstehen muss. Deutschland setzte die No-Bailout-Klausel auch als Bedingung für den Vertrag von Maastricht durch und sieht darin eine wesentliche Voraussetzung für sämtliche künftige EU-Beitritte. Dass im Zuge der Eurorettung mehrfach gegen das No-Bailout-Prinzip verstoßen wurde, ändert nichts an der deutschen Haltung. Einen weiteren offenen Konflikt gibt es auch mit den europäischen Sozialdemokraten. Während Konservative, Christdemokraten und Liberale den gemeinsamen Nenner in der Besinnung auf die Grundfreiheiten und die Vertiefung des Binnenmarktes sehen, fordern die Sozialdemokraten den Umbau der EU zu einer Sozialunion. Darüber, was sie unter dieser Sozialunion verstehen, hält sich EU-Präsident Martin Schulz jedoch – möglicherweise bewusst – bedeckt. Denn solange er die Sozialunion als das gemeinsame Vorgehen gegen Lohn- und Sozialdumping bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen verkaufen kann, ist eine Mehrheit in Rat und EU-Parlament zumindest möglich. Dass es die »Socialists and Democrats« dabei jedoch nicht bewenden lassen wollen, steht auch fest. Denn der eigenen Klientel verkaufen sie die Sozialunion als europaweite Transferunion, bei der die Sozialtransfers von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden sollen. Im Klartext könnte das heißen, dass die national aufgebrachten Sozialabgaben nicht mehr nur zur Finanzierung des eigenen Gesundheitssystems und der eigenen Pensionen verwendet werden, sondern dass sie in einen gemeinsamen europäischen Topf fließen. Auch die Verlagerung der Sozialhilfe auf die europäische Ebene wäre für die Nettozahler wohl nicht besonders lukrativ.
Auch die Steuerharmonisierung ist unter den EU-Mitgliedern heftig umstritten. Vor allem die kleinen Staaten wollen auch in Zukunft Standortnachteile, die sich aus der geringen Größe ihrer nationalen Märkte ergeben, durch niedrigere Unternehmenssteuern aufwiegen, um so Direktinvestitionen anzulocken. In der Asyl- und Migrationspolitik drängen dafür jene Länder, die sich in der Vergangenheit eine besonders liberale Asylpraxis leisteten und praktisch niemanden abschieben wollten, auf die Europäisierung der Folgen ihrer Politik. Nach europäischem Recht wird Asyl nämlich auch Personen gewährt, die aufgrund von Bürgerkriegen oder einer anderen Gefahren für ihre körperliche Unversehrtheit vorerst nicht in ihr Heimatland zurückkehren können und nach der Genfer Flüchtlingskonvention keinen Schutzstatus hätten. Um zu verhindern, dass es auf diese Art zu einer Einwanderung in die Sozialsysteme der Mitgliedsstaaten kommt, hat sich die EU im Dublin-II-Abkommen darauf geeinigt, dass Asylwerber nur in jenem Land Asyl bekommen können, in dem sie die EU erstmals betreten. Dieses Abkommen wurde jedoch von den Ländern an der EU-Außengrenze – wie etwa Griechenland oder Ungarn – ausgehebelt, indem sie den Asylwerbern so schlechte Bedingungen boten, dass der Europäische Menschengerichtshof die Anwendung der Dublin-II-Verordnung, das heißt die Abschiebung in diese Länder, untersagte. Fest steht, dass »Dublin II« nicht funktioniert. Eine EU-weite Vereinheitlichung der Grundversorgung ist jedoch ebenso unrealistisch wie die Durchsetzung von Flüchtlingsquoten. Auch Behelfskonstruktionen wie der Flüchtlingspakt, den die deutsche Kanzlerin mit der Türkei geschlossen hat, haben wohl keinen Bestand. Und auch bei der Sicherung der EU-Außengrenze nach spanischem Vorbild geht nichts weiter.
Dazu kommt das brennende Problem des drohenden Kollapses des italienischen Bankensystems. Um formal solvent zu bleiben, haben italienische Großbanken nämlich 360 Milliarden an faulen Krediten angehäuft und nicht wertberichtigt. Die Summe überfordert den italienischen Auffangfonds um ein Vielfaches. Damit steht die nächste »alternativlose Bankenrettung« auf EU-Ebene an.

Eine Reform ist tatsächlich alternativlos
So unterschiedlich die Standpunkte zwischen dem Staats- und Regierungschefs und zwischen Rat und Parlament bei den aufgezeigten Problemen auch sein mögen, den Verantwortungsträgern ist unabhängig von ihrer Perspektive bewusst, dass sie die Risse kitten müssen. Denn überall in Europa treten die Bürger der EU inzwischen mit einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber. Diese Skepsis mag in allen 28 Ländern unterschiedlich begründet und wohl auch das Ergebnis einer populistischen Politik oder Medienlandschaft sein. Sie kann jedoch nur durch eine neue demokratische Legitimation der EU und ihrer Institutionen überwunden werden. Und solange es »die in Brüssel« und nicht »wir in Brüssel« heißt, wird die EU der Reibebaum für populistische Regierungs- und Oppositionspolitiker bleiben.

Dass es Demokratiedefizite gibt, hat inzwischen ja sogar der als ansonsten ziemlich »beratungsresistente« EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker begriffen. Als ihn nämlich der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer kürzlich bei einem Besuch in Brüssel wegen der »Drüberfahrermentalität« der EU bei der geplanten Absegnung des kanadisch-europäischen Freihandelsabkommens Ceta (Comprehensive Economic and Trade Agreement, Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen; auch als Canada-EU Trade Agreement gelesen) kritisierte, nutzte Juncker den Auftritt seines steirischen Freundes, um in der Frage der Ratifizierung deutlich zurück zu rudern. In einem gemeinsamen Pressestatement mit Schützenhöfer kündigte Juncker an, »aus demokratiepolitischen Gründen« nun doch die nationalen Parlamente in die Beschlussfassung über Ceta einzubinden. Ursprünglich wollte Juncker den Vertrag – juristisch aufgrund des Mandats der EU-Kommission völlig korrekt – nur auf europäischer Ebene ratifizieren.
Um zu verhindern, dass die Bürger sämtliche nationalen und regionalen Wahlgänge der näheren Zukunft zu Abstimmungen über die EU und deren Politik machen, braucht das europäische Projekt eine neue demokratische Legitimation. Doch bevor es so weit ist, muss erst noch ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, der als Basis für die zukünftige Integration taugt und von der Mehrheit der Unionsbürger akzeptiert wird. Das britische Votum hat alle Beteiligten aufgerüttelt. Und so lebt die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist für ein noch besseres Europa auf Basis der Aufklärung, der Menschenrechte und der Freiheit.

Titelgeschichte Fazit 125 (August 2016) – Foto: Europaparlament

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