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In letzter Konsequenz entscheidet die Mehrheit in der Demokratie über alles

| 27. Oktober 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Editorial, Fazit 127

Dieser Tage hat ein Werk von Ferdinand von Schirach, Strafverteidiger und Autor, für gesamtdeutschsprachige Aufmerksamkeit gesorgt. Sein Theaterstück »Terror« wurde in Deutschland, der Schweiz und Österreich zeitgleich im Hauptabendprogramm unter dem reißerischen Titel »Terror. Ihre Entscheidung« ausgestrahlt.

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Die Zuschauer hatten dabei die Möglichkeit, einer – fiktiven – Gerichtsverhandlung zu folgen und danach quasi als Laienrichter »ein Urteil zu fällen«. Dazu wurde die Sendung unterbrochen und man konnte mittels Televoting für »schuldig« oder »unschuldig« stimmen. Angeklagt des vielfachen Mordes war ein Luftwaffepilot, der eine vollbesetzte Passagiermaschine (170 Menschen) abgeschossen hat, die von Entführern auf ein ebenso vollbesetztes Fußballstadion (70.000 Menschen) zum Absturz gebracht werden hätte sollen. Der Pilot handelte dabei gegen den ausdrücklichen Befehl seines Kommandos, das – basierend auf einem Karlsruher Verfassungsgerichtshofentscheid – diesen Abschuss eben nicht erlaubte. Das »Voting« des Publikums fiel in allen drei Staaten deutlich für »nicht schuldig« aus, in der Schweiz mit 84, in Deutschland und Österreich mit jeweils 86,4 Prozent.

Dieses dem ganzen Theater zu Grunde liegende philosophische Gedankenspiel der Abwägbarkeit von Menschenleben bzw. von staatlich herbeigeführtem »geringeren« Leid, das dadurch »größeres Leid« verhindere und somit gerechtfertigt sei (oder eben nicht), wird spätestens seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center von 2001 in diversen Spielarten diskutiert. In einer derart breiten Öffentlichkeit ist es eine Premiere. Und es ist wahrscheinlich abzulehnen. Nie und nimmer soll, kann und darf die »Schuld« eines Menschen durch einen derartigen* Mehrheitsentscheid festgestellt werden; hoffentlich ohne sich dessen bewusst zu sein, haben die öffentlich rechtlichen Anstalten (!) dieser drei Staaten, um ihre Einschaltquoten zu maximieren, den Circus Maximus wiederaufleben lassen, in dem mit dem Daumen für oder gegen den Tod eines Menschen entschieden wird. Es ist abzulehnen!

Die meisten Kommentare in der Woche nach dieser Fernsehterrorshow lehnten dies auch ab, etwa der meist viel zu pathetische Heribert Prantl (SZ), der von einem Populisten-Porno schrieb und in seiner ihm üblichen Selbstgerechtigkeit natürlich ein weiteres Urteil fällte: nämlich über alle Zuseher der Sendung, die er nicht weniger als »die Menschenwürde verraten« gesehen (und damit schuldig gesprochen) hat. Inhaltlich ist sein Kommentar lesenswert; wenn man eine eingehende juristische Betrachtung vorzieht, sollte man dazu Thomas Fischer in der Zeit lesen – »Ferdinand von Schirach auf allen Kanälen!« (Und gleichzeitig sich der Regel gewahr sein: zwei Juristen, drei Meinungen!)

Abzulehnen also. Aber. Zurecht monierten wie erwähnt querbeet alle Kommentatoren dieses Abstimmen über einen Menschen und seine Schuld bzw. Unschuld und lehnten das gesamte Sendungskonzept als reine Quotenmasche ab. Dabei – abgesehen davon, dass man ein Fernsehprogramm nicht gleich so überbewerten sollte – ist meines Erachtens den Machern der Sendung nur ein wesentlicher Fehler unterlaufen: nicht über Schuld und Unschuld wäre abzustimmen gewesen, sondern über das Verhalten an sich. Also, und darum geht es ja in der philosophischen Frage, was soll, muss und kann der Staat tun. Was ist »richtiges«, moralisch bzw. ethisch richtiges Verhalten? Diese Frage wäre jedenfalls zulässig. Und ich wage zu behaupten, dass danach das Gros der Zuseher entschieden hat. Und diese – nur Juristen (zurecht) und empörten Journalisten (naja) sehr wichtige – Unterscheidung gar nicht oder zumindest wenig gemacht haben. Was zu einem weiteren Irrtum vieler Kommentatoren führt, nämlich »Recht« ausschließlich als ein übergeordnetes Konstrukt zu verstehen, das nichts mit der »Meinung« seiner ihm Unterworfenen zu tun hat. Unser Recht kann nur versuchen abzubilden, was geboten ist zu tun und was nicht. Basierend also auf dem, was »die Gesellschaft« als richtig oder falsch empfindet. Und einfache Gesetze wie Verfassungen sind so gesehen in letzter Konsequenz sehr wohl »Resultat einer Abstimmung« und damit Spiegel der Bevölkerung. Und nicht einer juristischen höheren Gewalt. Seit dem Aufkommen der Massenmedien, spätestens mit dem Internet, ist immer die Rede von »der Teilhabe aller Menschen« an Entscheidungen. Achtzig Prozent sind ein klarer Ausdruck dessen, was »die Gesellschaft« in einer solchen – hypothetischen Frage – für richtig hält. Auch die Demokratie ist dem Menschen zumutbar.

* Erratum Das Wort »derartig« fehlt leider in der Druckversion. Durch eine notwendige Kürzung musste ich einen weiterführenden Gedanken auslassen und ohne das »derartig« könnte der Eindruck entstehen, ich lehne auch jede Art von Geschworenengericht ab. Das ist nicht der Fall.

Editorial, Fazit 127 (November 2016)

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