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Wenn Mauern fallen

| 22. Dezember 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 129

Foto: Kay Herschelmann

Interdisziplinarität unterstützt durch Rechnerleistung scheint das Mittel zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit zu sein. Das »Falling Walls«-Symposium in Berlin lieferte am 9. November, dem Jahrestag des Mauerfalls, wieder Einblicke in bahnbrechende Forschung, die die Mauern zwischen einzelnen Disziplinen überwindet.

::: Text von Thomas Goiser
::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Nicht weit vom Ostbahnhof und der East Side Gallery (einem künstlerisch gestalteten und erhalten gebliebenen Teil der Berliner Mauer) konnte man eine Art »Sendung mit der Maus aus der Zukunft« für Erwachsene erleben: Jeweils 15-minütige Kurzvorträge beleuchteten Durchbrüche bei Themen, von denen wir wohl noch zu hören bekommen werden. Hier werden nun einige Sprecher und ihre Vortragsthemen in (aller) Kürze porträtiert.

Einstürzende Mauern zwischen Medizin,
Natur und Ökologie
Die dänische Ozeanographin Katherine Richardson prägte das Konzept der »Planetary Boundaries« zu ökologischen Belastungsgrenzen der Erde. Sie erklärte anhand historischer Daten, dass die Menschheit vom Klima abhängiger ist, als wir heute glauben. Sie tritt für ein weltweites Management der natürlichen Ressourcen ein und zeigte am Beispiel des Ozonlochs auf, wie eine problematische Entwicklung durch menschliche Eingriffe in einen sicheren Bereich zurückgeführt werden konnte.
Die südafrikanische Epidemologin Quarraisha Abdool Karim entwickelt anhand der Verteilung von Aids-Infektionen Programme zur besseren Vorsorge. Wenn man die Infektion von jungen Frauen zwischen 15 und 25 Jahren erfolgreich verhindern kann, ließe sich die Aids-Epidemie im südlichen Afrika entscheidend eindämmen. Randolph Nesse von der Arizona State University wiederum forscht an »evolutionärer Medizin«, darunter fallen auch Antibiotika-Resistenzen, Autoimmunerkrankungen und Krebs. Aktuell untersucht er, wie die natürliche Selektion unsere psychologischen Zustände, Stimmungen und Ängste geprägt hat. So habe es sich etwa in der Evolution ausgezahlt, bei Geräuschen, die auf ein Raubtier hindeuten, schreckhaft zu sein – trotz häufiger »Fehlalarme« …
Salah Sukkarieh von der Universität Sydney stellte vor, wie schon bald Roboter automatisch und hoch effizient die Pflege von Feldern übernehmen können. Analytik, automatisierte Entscheidungen in Echtzeit und selbststeuernde Landmaschinen machen eine Revolution der Produktion von Nahrungsmitteln mit geringeren Eingriffen in die Umwelt möglich – bei Pflanzen wie in der Tierzucht.
Der Mikrobiom-Forscher Rob Knight beschäftigt sich mit den Einzellern, die im und am menschlichen Körper leben und mehr als die Hälfte der Zellen eines Menschen ausmachen. Ihre Zusammensetzung hat große Auswirkungen auf unsere Gesundheit, wir leben mit unserem Mikrobiom in einem gemeinsamen System. Und dieses ist bei jedem Menschen anders und beispielsweise über Ernährungsgewohnheiten beeinflussbar.

Technologie und Physik als Treiber
und Ziel von Verständnis
Jack Gallant von der Univeristät in Berkeley, Kalifornien, kann mit Hilfe von bildgebenden Verfahren (»Brain Decoder«) bereits schemenhafte animierte Bilder von gesehenen bzw. vorgestellten Bildern machen. Weil die Messverfahren und Modelle immer besser werden und die verfügbare Rechenleistung zunimmt, werden hier rasch Fortschritte sichtbar werden. Auch die »innere Stimme« wird so sichtbar.
Der Direktor des Zentrums für Bits und Atome am MIT, Neil Gershenfeld, arbeitet daran, wie die Welt des Digitalen und des Physischen miteinander verschränkt werden kann. Er hat die Fab-Lab-Bewegung initiiert, die für Privatpersonen Zugang zu 3-D-Druckern und anderen Geräten ermöglicht. Er meint, dass bald Star-Trek-ähnliche Möglichkeiten zur Replikation Wirklichkeit werden könnten.
Sadie Creese forscht an der Uni Oxford zu Cybersicherheit. Sie erklärte, dass wir alle dauerhaft in dem Thema gefordert sind und das Thema nicht den IT-Fachleuten überlassen sollten. Mehr Bewusstsein und Selbstverantwortung für den Schutz persönlicher Daten und kritischer Infrastrukturen – darunter vor allem die Energieversorgung, Verkehr und das Finanzwesen – sind gefragt. Der deutsche Physiker Karsten Danzmann gilt als einer der führenden Experten bei der Erforschung von Gravitationswellen, die Anfang des Jahres nachgewiesen werden konnten. Er beschrieb die Messverfahren, mit denen Forscherteams heute arbeiten, wenn sie etwa beschreiben, wie zwei schwarze Löcher verschmelzen.

Politik und Gesellschaft:
Auseinandersetzung mit neuen Grenzen
Der Philologe Gregory Crane von der Uni Leipzig möchte der das Verständnis von Gegenwart und Zukunft mit Hilfe von digitaler Technologien und modernen Analyse-Tools bei alten Texten verbessern. Er plädiert für mehr »Citizen Science«, also den Dialog zwischen Experten und der Gesellschaft und die Verbreiterung der Forschungsbereiche über die westlichen Quellen hinaus. Die Informationstechnologie hilft dabei heute durch die Vernetzung des Wissens und automatisierte Verfahren. Der Terrorismusforscher Peter Neumann vom King’s College in London forscht über Radikalisierung von Europäern, die als »foreign fighters« in den Bürgerkrieg nach Syrien gehen. Er beschreibt Radikalisierung als einen Prozess, der bei jeder untersuchten Person anders verlaufen ist. Ihm gelang es, durch die Analyse von Social Media Daten und persönliche Gespräche die Wege von hunderten Kämpfern zu untersuchen, nun entwickelt er Programme gegen Radikalisierung.
Eyal Weizman arbeitet als Architekt an »Forensischer Architektur« und rekonstruiert anhand der Überreste und Trümmer nach Drohnenangriffen oder bei Fällen von Völkermord die Ereignisse. Mithilfe der Aussagen von ehemaligen Häftlingen hat er mit seinem Team ein Foltergefängnis in Syrien rekonstruiert.
Am Thema »zeitgenössische Sklaverei« forscht im englischen Nottingham Kevin Bales, der auch weltweit als Aktivist dagegen auftritt. In den vergangenen Jahrzehnten sei der Preis für die Versklavung eines Menschen stark gefallen. Er schätzt, dass heute ca. 46 Mio. Menschen weltweit Sklavenarbeit verrichten, die oft mit Umweltzerstörung einhergeht – etwa im Abbau von Rohstoffen, der Rodung von Wäldern oder der Tierzucht. Die moralische Schande Sklaverei ist damit auch ein globales Umwelt-Problem.

Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis. Besonders spannend wird es, wenn man die einzelnen Themen gedanklich miteinander verknüpft. Wir leben in spannenden Zeiten. Geworden ist es ein Tag voller Inspiration und Motivation. Wem das nicht reichte, der konnte sich bei der Veranstaltung auch für »Brain Dates« anmelden. Wie in einem Sozialen Netzwerk konnte man Angebote und Wünsche formulieren und sich anhand gemeinsamer Interessen mit bisher fremden Menschen treffen. Rund 200 solcher Begegnungen fanden dann statt. Wenn Sie Zeit haben, verpassen Sie nächstes Jahr am 9. November den Livestream nicht oder fahren Sie nach Berlin!

Falling Walls
Seit 2009 jährlich am 9. November stattfindendes Wissenschaftssymposium in Berlin
falling-walls.com

Fazit 129 (Jänner 2017)

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