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Eine unerhörte Geschichte

| 22. Februar 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 130, Fazitportrait

Foto: Marija Kanizaj

Wenn dieser Tage die neuesten Zahlen des steirischen Hörgeräteherstellers Neuroth bekanntgegeben werden, wird wieder ein neuer Umsatzrekord die Presseaussendung adeln. Mit 125 Millionen Euro im Geschäftsjahr 2015/16 wird zum zweiten Mal hintereinander ein Plus von 5 Millionen verzeichnet. Im Vergleich zum Wirtschaftsjahr 2009/10 (90 Millionen Euro Umsatz) entspricht das einer Steigerung von fast 40 Prozent. Wie macht das der Neuroth?

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Im Oktober 2011 folgt Lukas Schinko, damals gerade einmal 24 Jahre alt, in vierter Generation seiner Mutter Waltraud Schinko-Neuroth als Vorstandsvorsitzender nach. Neuroth war in Österreich längst die Nummer eins und hatte seine Fühler schon in die Schweiz, nach Slowenien und Kroatien ausgestreckt. Bereits 2012 expandiert das traditionsreiche Familienunternehmen, das heuer sein 110-jähriges Jubiläum feiert, weiter nach Europa und betreibt mittlerweile mehr als 240 Filialen, Fachinstitute genannt, in insgesamt sieben Ländern, davon 124 in Österreich. In der Schweiz sind es zurzeit 65, eines in Liechtenstein, 21 in Deutschland, zwölf in Slowenien, sieben in Kroatien und 13 in Frankreich. Die Zahl der Mitarbeiter ist auf mehr als 1.200 angewachsen. Im Jahr 2000 waren es noch knapp 120, ein Zehntel.

Lukas Schinko, der im März dreißig Jahre alt wird, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und legt Wert auf »ein gesundes Wachstum. Natürlich darf man die Reserven des Unternehmens, das Kapital wie auch das Humankapital, nicht überstrapazieren, Wachstum hat seine Grenzen. Aber ich sehe auch das Potenzial in der Branche. Sechzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung leiden an einer Hörminderung, davon sind nur etwa 25 Prozent mit einem Hörgerät versorgt.« Während man in Österreich davon ausgeht, dass ein Prozent der Gesamtbevölkerung entsprechend versorgt ist, sieht es in anderen Länder anders aus. Schinko: »In Skandinavien sind es zwei bis zweikommafünf Prozent, in Südosteuropa aber nur nullkommafünf bis nullkommasieben Prozent. Das hängt auch mit den unterschiedlichen Gesundheitssystemen zusammen.«

Wie eine Drehbuchvorlage
Seine Mutter Waltraud Schinko-Neuroth nickt zustimmend. Sie ist zwar nicht mehr im Unternehmen tätig, aber im Familienbeirat. Schließlich sind auch ihre beiden anderen Kinder im Unternehmen geblieben. Gregor (37), gelernter Rechtsanwalt, als Aufsichtsratsvorsitzender in Zürich und Julia Draxler-Schinko (35), Juristin, die mit ihrem Ehemann (und zwei Kindern) von Basel aus den französischen Markt aufbaut. Etwa alle zwei Monate finden die interfamiliären Besprechungen statt, die auch als Erfolgsgeheimnis angesehen werden. Diese Einstellung spiegelt sich auch bei den Mitarbeitern wider, die sich selbst als »Neuroth-iker« bezeichnen. Ein Ausdruck, hinter dem nicht nur ein Augenzwinkern, sondern auch Stolz steht. Das hat nicht nur mit momentanem Status, sondern auch viel mit Geschichte zu tun. Die Geschichte des Hauses Neuroth hat tiefe Wurzeln im Sinne von Historie, ist gekennzeichnet von einem geradezu karitativen Grundgedanken im Sinne von Heilsbringung, würde sich auch als Drehbuchvorlage für eine Familiensaga Hollywoodschen Ausmasses eignen und sie ist eine Erfolgsgeschichte.

Hopfen und Hörgeräte
Angefangen hat alles vor mehr als hundert Jahren mit Waltrauds Großtante Paula Neuroth: Selbst hörbehindert, gründet sie 1907 – zu einer Zeit, in der vorwiegend der Mann beruflich tätig war – ein eigenes Unternehmen. Gemeinsam mit ihrem Mann Johann August, einem Hopfengroßhändler, eröffnet sie in der Wiener Blechturmgasse – ab 1936 und bis heute in der Mariahilferstraße – das »1. Spezialhaus für Schwerhörigenapparate J. A. Neuroth«. Der erste Versuch, in Graz Fuß zu fassen, scheitert übrigens kläglich: 1924 untersagt der Grazer Stadtrat der Firma Neuroth den Betrieb mit elektronischen Hörapparaten. Begründung: Ein Zimmer im Hotel Erzherzog Johann sei kein geeigneter Ort zur Ausübung dieses Gewerbes. Neffe Carl August Neuroth, Vater von Waltraud Schinko-Neuroth, baut nach dem zweiten Weltkrieg das wirtschaftlich angeschlagene Unternehmen neben dem Hopfenhandel wieder auf und bringt die neuen Hörhilfen aus aller Welt auf den österreichischen Markt. Als er 1979 plötzlich stirbt, ist Waltraud zwar grundsätzlich auf die Führung des Unternehmens vorbereitet, nicht aber auf die kaufmännischen Belange.– Ein Umstand, den sie zwar meistert, ihren Kindern durch gute Ausbildung aber ersparen will. Die beiden älteren studieren Jus, Lukas besucht die Bulme und alle erlernen den Beruf des Hörgeräteakustikers.

Dieser kurze geschichtliche Abriss genügt natürlich noch nicht, aber falls Hollywood anruft, darf besten Gewissens auf ein Buch der verstorbenen Journalistin und Autorin Doris Piringer verwiesen werden. Titel: »Die Neuroth-iker«. Stimmungsvoll und kenntnisreich fängt sie die Atmosphäre Wiens an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert ein, benennt die Stars von Architektur, Literatur und Wissenschaft. So auch den wenig bekannten Arzt Adam Politzer, dessen praktisches Wissen wie auch sein »Lehrbuch der Ohrenheilkunde« seine Wiener Klinik zum Mekka dieses Fachs werden ließen. Just in dieser Zeit gründen die Neuroths in der Blechturmgasse das erste Spezialgeschäft für Hörminderung in der gesamten Monarchie. Die Kundenberatungen finden gezielt im ersten Stock statt, um neugierige Blicke von der Straße zu vermeiden. Schon damals gilt Schwerhörigkeit als »unschickliche« Erkrankung, eine Stigmatisierung, die sich bis in heutige Zeiten zieht. Einer neuen Philosophie folgend, ändert sich unter Waltraud Schinko-Neuroth die äußere Form der Geschäfte: offene Zugänge, Glasfassaden und große Schaufenster sollen zeigen, dass das Hören zum Leben gehört wie das Sehen, und niemand sich zu verstecken braucht.

Nach Brasilien abgehauen
Auch die menschliche wie geschäftliche Entwicklung des Erben der beiden Gründer hätte filmreife Dimensionen: Der erwähnte Neffe August Carl Neuroth, Fabrikantensohn mit großbürgerlicher Erziehung, sollte den Betrieb übernehmen. Doch als die Weltwirtschaftskrise von 1920 das Vermögen der Familie vernichtete, entfloh er in der siebenten Klasse Schule und Land und verdingte sich unter abenteuerlichen Umständen als Küchenhilfe und Tanzlehrer in Rio de Janeiro. Bis ihn nach fünf Jahren die Nachricht ereilte, dass Tante Paula ihn im Unternehmen benötigte. Zurück in Österreich, reüssierte er als Hopfenhändler und erkannte, dass es sinnvoll war, die Hörgeräte zu den Ernteverkaufsgesprächen in den Brauereien mitzunehmen. Diese Familienbetriebe setzten sich regelmäßig aus mehreren Generationen zusammen und so war praktisch immer jemand mit Hörproblemen dabei. Dann kommt, filmtechnisch gemeint, die Liebesszene: Heirat mit Katharina, Waltrauds (zukünftiger) Mutter. Dramaturgische Wende: der Zweite Weltkrieg. August Carl wurde eingezogen, schwer verletzt, seine Mutter und seine Frau verhungerten fast, Heimkehr, Wohnen in einer Hütte ohne Wasser, das Unternehmen gänzlich vernichtet – schon wieder. Doch August Carl war ein besonderer Mann. Er baute den Hopfenhandel nach dem Krieg wieder neu auf; Bier getrunken wurde immer gern. Er sammelte alte Hörgeräte wieder ein und ließ daraus neue bauen, ein Unternehmer durch und durch. Als seine Frau 1949 Zwillinge gebar, war das Glück perfekt: Waltraud und ihre Schwester Elfriede lebten die ersten Jahre mit ihren Eltern noch in der Holzbaracke, einem sogenannten Behelfsheim, in Wien, bis der Vater es sich leisten konnte, ganz in der Nähe eine neues Haus bauen zu lassen. »Auch wenn du nicht studiert hast, kannst du erfolgreich sein und im Leben viel erreichen«, war das Motto des charismatischen Genussmenschen – wie ein Filmheld eben.

Als er 1979 stirbt, übernimmt Elfriede den Hopfenhandel und betreut das Hörgerätegeschäft in Wien, Waltraud wird als junge Mutter Nachfolgerin im Hörgeräteunternehmen mit anfangs acht Mitarbeitern. Der Rest ist Geschichte.

Foto: Marija Kanizaj

Hightech und Know-how
Bereits 1980 entsteht das Fachinstitut am Grazer Südtirolerplatz, und 1983 baut sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem oststeirischen Bauunternehmer Georg Schinko, die Neuroth-Zentrale im entlegenen Wolfsberg im Schwarzautal. Auf diesem Hügel zwischen Feldbach und Leibnitz entwickelt sich im Laufe der Jahre ein sechstausend Quadratmeter großes Anwesen, das bis 2014 das Headquarter war. Heute befindet sich dort das europaweite Technik-und Logistikcenter mit der gesamten Produktion mit 160 Mitarbeitern, während in der neuen Grazer Zentrale 150 Mitarbeiter beschäftigt sind. Insgesamt sind es in der Steiermark 400. Heute zählen auch Optik (drei Brillengeschäfte), Medizintechnik und Gehörschutz (earwear) zu den Geschäftsbereichen von Neuroth. Die mit 3-D-Druckern wie von Geisterhand produzierten Otoplastiken (maßgefertigte Ohrpassstücke) sind so winzig, dass sich der Laie kaum vorstellen kann, dass auch noch intelligente mikroprozessorgesteuerte Bauteile, ein Mikrophon, ein Lautsprecher und eine Batterie (neu: Akkus) hineinpassen, je nachdem ob »Im-Ohr-«, »Komplett-im-Gehörgang-« oder »Hinter-dem-Ohr«-Hörgeräte zum Einsatz kommen. Kein Wunder, dass im Schwarzautal auch mit Mikroskopen gearbeitet wird. Die Hightech-Komponenten werden im Wesentlichen bei vier Herstellern zugekauft, weshalb es Lukas Schinko gar nicht so wichtig ist, von Innovations-, Qualitäts- oder gar Technologieführerschaft zu sprechen. Vielmehr geht es um Knowhow und empathische Ebenen. »Unsere Kernkompetenz liegt in der Anpassung an den individuellen Menschen. Das beginnt bei der Bedarfserhebung mit dem Kunden: Ist er eher viel zu Hause und benutzt häufig den Fernseher oder ist er viel unterwegs, sitzt bei Gesprächen am Stammtisch? Auch die Akzeptanz der Hörhilfe ist wichtig, aber auch ein Anpassungsprozess von etwa sechs Monaten, den wir in drei Phasen aufteilen, wobei das Hörgerät möglichst viel getragen werden muss. Diese Begleitung ist wichtig, ist unsere Stärke und natürlich im Preis inkludiert.« Die Entwicklung der Technologie, insbesondere die Rechenleistung, schreitet scheinbar unaufhaltsam voran, die drahtlose Verbindung mit dem Smartphone ermöglicht es schon heute, zu telefonieren und Musik zu hören. Lukas Schinkos Vision ist klar: Er will, dass Neuroth ein Begriff für Senioren wird, wie Red Bull oder Apple für Jüngere. Er will die Nummer eins in Europa werden. Nachzulesen im »Drehbuch« von Doris Piringer.

Neuroth AG
8042 Graz, Schmiedlstraße 1
Telefon +43 316 995600
neuroth.at

Fazitportrait, Fazit 130 (März 2017) – Fotos: Marija Kanizaj

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