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Der große Rückzug

| 27. April 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 132, Fazitthema

Illustration: Carl Spitzweg (Der Sonntagsspaziergang)

Immer wenn die Zeiten unruhig sind, ist von einem Trend die Rede, der sich als »Rückzug ins Private« beschreiben lässt. Das können Phasen sein, in denen die Eliten sich dem gesellschaftlichen Mainstream unterwerfen und das Leben darauf ausrichten, nur nirgends anzuecken. Der Rückzug kann aber auch ökonomische Gründe haben, weil den Haushalten ganz einfach die Mittel fehlen, um ihr gewohntes öffentliches Leben fortzusetzen, oder er kann durch rationale oder irrationale Ängste verursacht sein. Text von Johannes Tandl

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Von der Trendforscherin Faith Popcorn wurde der »Rückzug ins Private« in den Neunzehnachtzigerjahren unter der Bezeichnung »Cocooning« thematisiert. Davor war in den USA bereits der Begriff »Cosy Home« bekannt. Damit ist ein Einigeln in den eigenen vier Wänden gemeint, das mit einem Rückzug aus der Zivilgesellschaft einhergeht. Und seit dem elften September (»Nine-Eleven«) ist in den USA von »Homing« die Rede. Ein Trend, bei dem die Menschen das eigene Zuhause zum Lebensmittelpunkt machen. Anders als beim »Cocooning« bleiben beim »Homing« die sozialen Kontakte jedoch aufrecht, werden aber von zu Hause aus gepflegt.

Schau, dort spaziert Herr Biedermeier
und seine Frau, den Sohn am Arm;
sein Tritt ist sachte wie auf Eier,
sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.
Aus »Herr Biedermeier« von Ludwig Pfau, 1847

Kuschelige Videoabende statt Kinobesuche, Essen mit Freunden in der eigenen Wohnung statt im Restaurant, die Freizeit am Pool im eigenen Garten anstatt an überfüllten Stränden in terrorgefährdeten Urlaubsländern. Und natürlich wurde der Trend längst von der Freizeitindustrie und vom Handel aufgenommen. Immer schon führten unsichere Zeiten bei einem Teil der Bevölkerung zu so großer persönlicher Orientierungslosigkeit und Verunsicherung, dass sie aufhörten, sich in der Öffentlichkeit zu positionieren. Daher dürfte durchaus etwas dran sein, wenn Publizisten den Trend, die Schotten dicht zu machen, immer öfter als »neue Spießigkeit« bezeichnen.

Doch ganz egal ob »Cosy Home«,»Cocooning« oder »Homing« – all diese Begriffe stehen für eine Lebensweise, die in den deutschsprachigen Ländern schon seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als »Biedermeier« bekannt ist. Dabei handelte es sich um ein gesellschaftliches Phänomen, das sich weit weniger elegant auch als Mitläufertum beschreiben lässt.

Die Spießer und die Revolutionäre
Vor 200 Jahren waren es die unbarmherzigen Polizeistaats- und Spitzelmethoden Metternichs und später Kolowrat-Liebsteinskys, mit denen die Bürger zum Rückzug ins Private gezwungen wurden. Ziel war es, die deutschen Fürstentümer und die Habsburgermonarchie nach den Napoleonischen Kriegen zu restaurieren. Das konnte jedoch nur gelingen, wenn das Bürgertum politisch kleingehalten wurde. Der aufkeimende Liberalismus und Nationalismus mussten brachial unterdrückt werden. Der Ausdruck Biedermeier bezieht sich auf die hausbackene Kultur jener Schichten, die sich mit der romantischen Glorifizierung des heimischen Idylls dem Staat fügten.

Doch die Biedermeierzeit ging auch als Vormärz in die deutsche Geschichte ein. Denn mit der Französischen Revolution von 1789 sprangen auch die Verheißungen der Demokratie – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – auf das aufgeklärte Bürgertum innerhalb des Deutschen Bundes über. Doch schon damals war die Gesellschaft geteilt. Ängstliche Spießbürger, die im Staat den Garanten sahen, dass die jakobinischen Gräuel der Französischen Revolution nicht auch die deutschen Staaten erreichen konnten, auf der einen Seite und revolutionäre Studenten und Intellektuelle, die sich in Burschenschaften organisierten und eine Revolution gegen den Kaiser und die Fürsten vorbereiteten, auf der anderen.

Der moderne Spießbürger empört sich!
In einer Analogie auf die Biedermeierzeit bezeichnete der deutsche Autor Henning Sußebach den Lebensstil und das Konsumverhalten der tendenziell urbanen, gutverdienenden und gut gebildeten »bourgeoisen Bohemiens«, oder kurz Bobos, in einer Reportage für »Die Zeit« schon 2007 als »Bionade-Biedermeier«. Er sieht in ihnen moderne Mitläufer, die zwar einen nachhaltigen Lebensstil und die Teilnahme an der Zivilgesellschaft andeuten, echtes politisches oder gesellschaftliches Engagement aber dennoch vermissen lassen. Gesellschaftliche Partizipation wurde sozusagen durch einem dem Mainstream entsprechenden pseudoökologischen Lebensstil ersetzt und findet nur in sozialen Medien statt. Der moderne gut angepasste Spießbürger will den drohenden Klimawandel ernst nehmen und fährt daher mit dem Fahrrad oder E-Bike. Er zieht auf seinem Terrassenhochbeet eigenes Gemüse und gibt damit vor, seinen ökologischen Fußabdruck vermeintlich klein zu halten. Auf die jährliche Flugreise in den Urlaub oder die Nutzung der Klimaanlage verzichtet er jedoch kaum. Dafür empört er sich mit Gleichgesinnten etwa über US-Präsident Donald Trump und natürlich über sämtliche Verstöße gegen die Gebote der politischen Korrektheit.

Heimat als Wert
Staatliche Repression fällt als Ursache für den modernen Rückzug aus der Zivilgesellschaft weg. Es gibt jedoch einen Megatrend, der sich am ehesten mit »Sehnsucht nach Heimat« definieren lässt und dem, glaubt man den Analysten, sogar der grüne Bundespräsidentschaftskandidat Alexander van der Bellen seinen Sieg verdankt, weil er sich erst mit der während der Kampagne zur Schau gestellten Heimatliebe gegen den Kandidaten der selbsternannten »Heimatpartei« durchsetzen konnte. Der Dosen- und Medientycoon Dietrich Mateschitz hat seinen Verlag mit großem Erfolg auf diesen Trend ausgerichtet. Das Servus-Magazin ist aufgrund der stringenten inhaltlichen Heimatorientierung und regionalen Ausrichtung längst zum wirtschaftlichen Backbone des Verlags aufgestiegen. Die Sehnsucht nach »Heimat« wird auch von einer Studie der Grazer Marktforscherin Claudia Brandstätter vom Dezember 2013 bestätigt. So sehnen sich zwei Drittel aller Österreicher nach gesunden Produkten aus der Region. Die lokale Herkunft von Lebensmitteln ist für viele Menschen zum wesentlichen Kaufkriterium aufgestiegen. Und natürlich hat die Wirtschaft das neue Heimatbewusstsein als Trend mit einem enormen Potenzial für die regionale Wertschöpfung erkannt. Handel und Industrie überschlagen sich seither mit regionalen Attributen, die für einen Wettbewerbsvorteil ihrer Erzeugnisse herhalten sollen.

Der Rückzug der Absteiger
Neben dem selbstgewählten Rückzug aus dem öffentlichen Raum gibt es in besonders wohlhabenden Gesellschaften aber auch den erzwungenen Rückzug. Die meisten Menschen verbringen den Urlaub nicht deshalb auf Balkonien, weil es dort viel schöner ist als an der Adria oder in der Karibik. Und sie geben die Mitgliedschaft im Tennis-, Golf- oder Fitnessclub nicht deshalb auf, weil ihnen ihr physischer Zustand auf einmal egal ist, sondern weil sie wirtschaftlich nicht länger mithalten können. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von disruptiven Ereignissen wie einer Scheidung bis zu einem plötzlichen Jobverlust. Oft reichen aber auch schon die stetig steigenden Wohnkosten oder die langfristig stagnierenden Löhne, um eine dauerhafte soziale Teilhabe wie regelmäßige Kino- oder Konzertbesuche einzuschränken.

Illustration: Carl Spitzweg (Rosenduft Erinnerung)

Die Antwort der individuellen Frage »Wie und wo kann ich jetzt sparen?« führt in aller Regel zu einem geänderten durchaus nachhaltigerem Konsumverhalten. Das führende deutsche Weblog zum Thema Werbung und Konsum »werbeblogger.de« hat bei Menschen, die in wirtschaftlichen Hochzeiten als bekennende Konsumjunkies galten, sogar eine Art »Cocooning-Sprech« festgestellt. Damit sind Floskeln gemeint, mit dem sie ihr einer veränderten wirtschaftlichen Situation geschuldetes Verhalten rechtfertigen: »… zu Hause schmeckt es eh am besten …«, »wofür brauche ich ein neues Auto, das alte tut es doch noch wunderbar…«, »Fahrradfahren ist sowieso viel gesünder…«, »… in Deutschland gibt es auch schöne Urlaubsorte …«, »… es muss nicht immer Kaviar sein …«, »…der Anzug sieht doch noch fabelhaft aus …«, »… ich stehe ja auch mehr auf natürliche Schönheit …«, »… wofür haben wir denn den Garten, wenn wir ihn nie benutzen würden …« oder »… überheizte Wohnungen sind ungesund…«.

Zuhause, aber dennoch voll vernetzt
Der Trend zum »Homing« hat mit eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten wenig zu tun, sondern wird eher durch die Digitalisierung verstärkt. Gerade Jugendliche zeigen durch Smartphone und Internet völlig veränderte Kommunikationsgewohnheiten. Und nicht nur »Digital Natives« können durch WhatsApp, Facebook und Skype den direkten persönlichen Kontakt zu Freunden, Bekannten, Mitarbeitern und Geschäftspartnern massiv reduzieren, denn die sozialen Medien ermöglichen es allen, die intensive persönlicher Beziehung aufrecht zu erhalten, auch ohne sich alle paar Tage persönlich treffen zu müssen.
Es gibt aber auch Soziologen wie die Amerikanerin Sherry Turkle, die seit den Neunzehnneunzigerjahren vor einer digitalen Vereinsamung warnt. Turkle macht darauf aufmerksam, dass menschliche Fähigkeiten wie Denken, Zuhören und Sprechen durch intensiven Computergebrauch zurückgedrängt werden können. Doch die digitale Kommunikation hat sich in den letzten Jahren dramatisch in Richtung Interaktivität verändert. Das Internet ist inzwischen sogar dazu in der Lage, dem richtigen Leben bei der Anbahnung von Beziehungen Paroli zu bieten. Dating-Apps bringen, je nach Interesse, Paare zusammen, die auf dauerhafte oder kurzfristige Beziehungen aus sind. Das Angebot von Parship.at bis Tinder bietet für alle, die ihre Einsamkeit langfristig beenden oder auch nur kurzfristig unterbrechen wollen, etwas.

Der Rückzug der Verängstigten
Immer öfter begründen Menschen ihren persönlichen Rückzug ins Private mit einem generellen Unwohlsein in der Öffentlichkeit. Die Gründe sind mannigfaltig. Wer sich in einer Straßenbahn unwohl fühlt, in der kaum ein deutsches Wort gesprochen wird, und lieber mit dem Auto oder Taxi fährt, mag zwar seine xenophoben Vorurteile pflegen, er ist deshalb aber noch lange kein Rassist. Frauen, die die Straßenseite wechseln, wenn ihnen eine Gruppe – womöglich arabisch aussehender – männlicher Jugendlicher entgegenkommt, ganz sicher auch nicht. Und Menschen, die sich beim Spaziergang durch die Herrengasse öfter umdrehen als noch vor einigen Jahren, haben dafür seit 2015 ebenfalls ihre Gründe. Selbst wenn die Gefahr, Opfer eines Terroranschlags, einer Vergewaltigung oder eines anderen gewalttätigen Übergriffs zu werden, viel geringer sein mag, als von einer umstürzenden Straßenlaterne getroffen zu werden, sind die Ängste real. Obwohl von den vielen Millionen Touristen, die in der Vergangenheit ihre Ferien in Ägypten, Tunesien oder der Türkei verbracht haben, keine 100 bei Terroranschlägen ums Leben kamen, sind diese Länder als Urlaubsdestinationen gestorben.
Als guter Indikator für die Terrorangst eignen sich übrigens die Verkaufszahlen von Reiseführern. Der Verlag »Michael Müller« musste bei der Istanbul-Ausgabe im vergangenen Jahr ein Minus von 80 Prozent hinnehmen, bei Brüssel waren es 70 Prozent und bei Paris 50 Prozent. Und auch »Mair Dumont« erging es nicht besser. Die Verkaufszahlen der Istanbul-Reiseführer seien unter die Wahrnehmungsschwelle gefallen, so eine Verlagssprecherin.

Megatrend »Homing«
Die Ursachen für den Rückzug ins Private sind, wie dargestellt, völlig inhomogen. Der Trend ist jedoch so stark, dass inzwischen sogar die Immobilienwirtschaft darauf reagiert. So entstehen in Berlin oder München immer öfter Wohnbauten, die an eine neue »Dörflichkeit« erinnern – mit zahlreichen Gemeinschaftseinrichtungen, die mit selbst gewählten Gleichgesinnten geteilt werden. Anstatt in Doppel- oder Mehrfamilienhäusern nebeneinander zu leben, wird gemeinsam geplant, gebaut und gewohnt; familiäre Geborgenheit in einer Patchworkkommune im anonymen städtischen Umfeld. Dadurch wird modernes Wohnen in den Kernlagen der Städte selbst für Käufer möglich, die, wenn sie es alleine versuchen würden, an den hohen finanziellen Einstiegsbarrieren scheitern würden. Die besondere Motivation ist jedoch nicht das Geld, sondern die inzwischen auch in vielen US-TV-Soaps vorgelebte Sehnsucht nach sozialer Wärme in einer selbst geschaffenen Großfamilie. Der Rückzug ins Private wird durch zahlreiche Annehmlichkeiten, mit denen Dienstleister, Handel und Industrie auf den Megatrend »Homing« reagieren, erleichtert. Statt ins Kino oder ins Stadion zu gehen, werden Filme und Fußballspiele immer öfter über »Sky« oder »Amazon« digital erworben. Kultur und Entertainment findet seltener als Massenereignis, dafür immer öfter im vertrauten Familien- oder Freundeskreis statt.
Inzwischen nehmen Arbeitnehmer Home-Office-Tage in Anspruch. Der Onlinehandel boomt, während die Einkaufszentren stagnieren und die innerstädtischen Handelsflächen jährlich um etwa fünf Prozent zurückgehen. Dienstleiter denken sich serviceorientierte Logistikketten aus, bei denen vor allem die »Comfortability« im Mitttelpunkt steht.

»Green Cocooning« – Der Rückzug der Bürgerlichen
Eine besonders beliebte Form des Rückzugs ins Private stellt das »Green Cocooning« dar. Im Mittelpunkt steht die Entspannung im eigenen Garten. Der Trend zum »Rückzug in den eigenen Garten« führt nicht nur zu immer mehr Gartensendungen im Fernsehen und zu Magazinen wie »Servus« oder »Lebenslust«, die einen neuen regional geprägten Lebensstil unterstreichen, sondern auch zum Boom von Fachzeitschriften wie »Mein schöner Garten« oder »Garten Flora« und »Kraut & Rüben«. In vielen Städten gibt es mittlerweile Dachimker, Gemeinschaftsgärten und sogar die völlig uncool gewordenen Kleingartenvereine erleben einen großen Zulauf. Die Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten im Grünen ist wesentlicher Bestandteil des Neobiedermeier und bietet für immer mehr Zeitgenossen den optimalen Ausgleich zum Alltagsstress und den täglichen »Bad News« über Kriege, Massenmigrationen oder die als frustrierend wahrgenommenen politischen Strukturen. Die Sehnsucht nach häuslichem Glück ist getrieben vom Wunsch nach Entschleunigung. Sie lässt Gartencenter entstehen und die Verkaufszahlen von immer teureren Grillaccessoires explodieren. Daneben boomen Seminare über den richtigen Baumschnitt oder den Bau von Hochbeeten. Die biedere Bürgerlichkeit erlebt eine unglaubliche Renaissance, von der noch niemand weiß, wohin sie uns gesellschaftspolitisch führen wird. Sie ist ein mächtiger Gegentrend zu einer immer stärker beschleunigten Umwelt und geht – noch – mit einer weitgehenden Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens einher. Die Lust auf einen intensiven politischen Diskurs wurde den Bürgerlichen durch ein enges Korsett politisch korrekter Aussagen genommen, gegen welches es sich nicht aufzustehen lohnt.  In einer Gesellschaft, die keine Toleranz mehr mit abweichenden Meinungen zulässt, stellt der Rückzug eine durchaus befriedigende Alternative zur Partizipation dar; zumindest eine Zeit lang.

Fazitthema Fazit 132 (Mai 2017) – Illustrationen: Carl Spitzweg

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