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Der Traum von einem Migranten als Kanzler von Österreich

| 27. April 2017 | 2 Kommentare
Kategorie: Fazit 132, Gastkommentar

Foto: Jeff MangioneDie Türkei hat sich mehrheitlich und demokratisch für ein autoritäres Präsidialsystem entschieden, bei dem die Machtkonzentration an der Staatsspitze höher ist, als beim mächtigen US-Präsidenten. In Österreich leben 115.000 türkische Staatsbürger. Davon haben 56.000 am Referendum teilgenommen und rund drei Viertel dieser Stimmen ging an das »Ja«-Lager. Die Frage, die sich im hitzigen Diskurs keiner stellt: Warum stimmen gerade Austrotürken aus einer tollen Demokratie für mehr Autorität in der Türkei?

::: Text von Muamer Becirovic [Hier im Printlayout lesen.]

Die selbsternannte intellektuelle Twitterelite Österreichs ortet beim Stimmungsverhalten der Austrotürken ein massives Integrationsproblem. Die dominierende Meinung ist – wenig überraschend – jene, dass die »Ja«-Befürworter doch Österreich verlassen mögen, wenn es ihnen hier nicht passt. Zweifelsfrei kann man die Schuld nicht bei Österreich suchen, wenn sich Austrotürken darüber beschweren, dass sie nicht als Österreicher wahrgenommen werden, wenn sie doch bei einem Referendum für ein autokratisches System, für die Todesstrafe und für die Inhaftierung von kritischen Journalisten und politischer Konkurrenten stimmen. Zugleich regen sich dann diese Austrotürken über Rechtsextreme in Österreich zurecht auf, aber unterstützen einen Autokraten.

Die Hauptgründe für das »Ja« sind: mangelnde Bildung, die Anfälligkeit für Propaganda und mangelnde Wertschätzung. Faktum ist, dass es zwischen einem Schafshirten aus Anatolien und einem Stadtmenschen in der Türkei gravierende Unterschiede gibt. Faktum ist, dass die hierlebenden Türken von allen Migrantengruppen die schlechtesten Bildungsergebnisse haben und regierungsnahen Journalismus aus der Türkei konsumieren. Faktum ist, dass wir Österreicher zur Kenntnis nehmen müssen, dass die fehlende Willkommenskultur dazu beigetragen hat, dass sich junge Austrotürken in Österreich nicht heimisch fühlen. Sie haben den Eindruck, dass sie Österreicher zweiter Klasse sind.

Nur jeder zweite Migrant fühlt sich in Österreich »völlig heimisch« oder »zuhause«. Das Gefühl, sich nicht heimisch zu fühlen, haben nicht nur die Austrotürken. Auch mich überkommt dieses Gefühl, wenn Politiker für politisches Kleingeld darüber diskutieren, dass meine Schwester dazu gezwungen werden muss, ihr Kopftuch abzunehmen, wenn sie als Austrobosniakin Kindergärtnerin werden will.

Wir laufen mit unserem kollektivem »Haut doch ab, wenn euch hier was nicht passt«-Geschreie Gefahr, die jungen Austrotürken für Österreich gänzlich zu verlieren. Erdogan hat das getan, was die österreichische Politik versäumt hat: Er schloss die Lücke der mangelnden Wertschätzung und hat die Austrotürken für sich gewonnen, indem er ihnen zu Füßen lag. Bei seinem Wien-Besuch sagte Erdogan »Ich bin stolz auf Euch.« Hat das ein österreichischer Politiker jemals gesagt? Haben die Gastarbeiter und Gastarbeiterkinder nach 60 Jahren hart verrichteter Arbeit – für den Mitaufbau der Republik – diese Worte von österreichischen Repräsentanten denn nicht verdient? Haben sie definitiv! Dennoch: Migranten müssen aus der gemütlichen Opferrolle heraus und für Anerkennung und Wertschätzung kämpfen. Ich kenne kein historisches Beispiel, wo dies nicht erkämpft werden musste.

Jeder hat in Österreich die Möglichkeit etwas zu werden, wenn er nur möchte. Faktum ist, dass man als (südländischer) Migrant mehr als 150 Prozent leisten muss, um annähernd die gleiche Chance zu bekommen. Wer das bezweifelt, kennt die Realität nicht. Sozialen Frieden gibt es wohl nur dann, wenn bei uns diese Jungen alles werden können. Das bedeutet zugleich, dass der junge Austrotürke aus Wien – der nicht daran glaubt, dass er Polizist werden kann – auch österreichischer Bundeskanzler werden kann. Nichts hoffe ich mehr, als dass ich zu meinen Lebzeiten einen »Kanaken« erlebe, der es zum österreichischen Bundeskanzler geschafft hat. Die Kanaken werden ja auch einen österreichischen Traum haben dürfen.

*

Muamer Becirovic ist Herausgeber der philosophischen Interviewplattform »Kopf um Krone« und studiert Jus an der Linzer Johannes-Kepler-Universität. Er besuchte das islamische Realgymnasium in Wien, war dort Schulsprecher und engagiert sich politisch als Bezirksobmann der JVP-Rudolfsheim-Fünfhaus.

Gastkommentar, Fazit 132 (Mai 2017), Foto: Jeff Mangione

Kommentare

2 Antworten zu “Der Traum von einem Migranten als Kanzler von Österreich”

  1. Marina
    28. April 2017 @ 18:41

    Ich hoffe nur, dass die Migrantinnen die gleiche Chancen haben werden und nicht nur die Migranten z.B. eine Bundespräsidentin…

  2. Redaktion Redaktion
    10. Mai 2017 @ 18:58

    Liebe Marina! Verzeihung, dass wir erst heute reagieren, wir haben in einer weiteren Spamattacke diesen Kommentar schlicht übersehen. (In größerer Zahl bekommen wir Kommentare auch eher auf Facebook …) Vielen Dank also und wir dürfen versichern, dass Muamer Becirovic jedenfalls auch Frauen mitgemeint hat! Es ist sogar denkbar, dass wir beim Redigieren dies geändert haben, weil wir bei Fazit grundsätzlich das generische Maskulinum verwenden. Ausnahmen bestätigen die Regel; und hier wäre es wohl besser gewesen, zumindest einmal auch eine weibliche Form zu verwenden. Als wichtiges Symbol. Muamer ist aber jedenfalls kein Vorwurf zu machen. MfG aus Graz

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