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Rohstoff Bildung

| 29. Juni 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 134, Fazitthema

Die Bodenschätze, die in Österreich gewonnen werden, sind längst nicht mehr maßgebend für den Wohlstand. Die wichtigsten Rohstoffe, mit denen das Land gesegnet ist, sind die Talente und das Wissen seiner arbeitenden Bevölkerung. Erst die Menschen in den Unternehmen und Betrieben machen Österreichs Ökonomie zu einer der produktivsten der Welt. Text von Johannes Tandl.

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Trotz eines deutlichen Rückfalls seit der Finanzkrise und einer weitgehend reformresistenten Regierung zählt Österreich immer noch zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Nationen der Welt. Das verdankt es ausgerechnet seiner Kleinheit. Denn ein Unternehmen, das in der Alpenrepublik groß werden will, kann das nur auf internationalen Märkten schaffen. Und obwohl unser Bildungssystem extremer Kritik ausgesetzt ist, bringt es Absolventen mit Voraussetzungen hervor, die fähig sind, sich jene Qualifikationen anzueignen, welche von den Unternehmen benötigt werden, um im internationalen Wettbewerb an der Spitze zu bleiben. Daher ist die Beschreibung von Bildung als wichtigstem Rohstoff der österreichischen Volkswirtschaft durchaus angebracht.
Doch die Verfügbarkeit dieses Rohstoffs ist gefährdet. Vor allem die Integration bildungsferner Zuwanderer stellt für die Schulen nämlich eine Herkules-Aufgabe dar, der sie kaum gewachsen sind.

In den Städten sind viele Volksschulen völlig überfordert
Kürzlich hat eine Wiener Volksschullehrerin für Aufsehen gesorgt, als sie beklagte, dass etwa ein Drittel ihrer Schüler nicht in der Lage sei, dem Unterricht zu folgen. Das Problem betreffe nicht nur ihre Schule, sondern sei in ganz Wien weit verbreitet. Als Ursachen gab sie die mangelnden Deutschkenntnisse, aber auch den bildungsfernen Hintergrund der Familien an. Auch die katastrophale Arbeitshaltung sei maßgeblich für den kaum vorhandenen Bildungserfolg, denn immer öfter seien Kinder außerstande, länger als 15 Minuten lang dem Unterricht zu folgen. Dazu komme häufiges nicht entschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht; mit dem Ergebnis, dass auch die Leistungen der lernwilligen Kinder sinken. Die schwersten Problemfälle seien aber nicht die unmittelbaren Zuwanderer, sondern in Österreich geborene Kinder mit türkischem Migrationshintergrund. Die Kinder würden erst mit dem verpflichtenden Kindergartenjahr beginnen, Deutsch zu sprechen. Dabei seien die mangelnden Sprachkenntnisse nicht einmal das größte Problem. Viele Kinder hätten noch nie in ihrem Leben ein Gesellschaftsspiel gespielt. Und sie könnten auch nicht mit Stiften oder einer Schere umgehen, weil sie beides bis zum Kindergarteneintritt noch nie in den Händen gehalten hätten. Außerdem würden die meisten von ihnen kein einziges Buch besitzen.

Die Bildungsferne der Elternhäuser bildet sich auch in unzähligen unentschuldigten Fehlstunden ab. Um dieses Problem Herr zu werden, schlägt die Lehrerin vor, ab 140 Fehlstunden die Familienbeihilfe zu streichen, denn sie höre von den Kindern sehr oft die Begründung, dass die Mama keine Lust gehabt hätte, das Kind in die Schule zu bringen. Besonders verstörend ist der Ratschlag, den diese Lehrerin den Eltern von begabten oder »normalen« Kindern – mit oder ohne Migrationshintergrund – mitgibt: Sie könne vor diesem Hintergrund nur zum Wechsel an eine Privatschule raten, da sie und ihre Kollegen sich außerstande sehen würden, ein adäquates Lernumfeld zu gewährleisten.

Die Flucht an die AHS als einziger Ausweg
Nach der Volksschule sehen Eltern für ihre Kinder im Besuch einer AHS oft die einzige Möglichkeit, ihren Kindern trotz der Migrationsprobleme zu einer erfolgreichen Schullaufbahn zu verhelfen. Und so gehen in den Städten mittlerweile bereits 70 Prozent der Kinder in die Unterstufen der Gymnasien, während sich viele städtische Neue Mittelschulen (NMS) in einer Abwärtsspirale befinden und sich als Restschule für jene 30 Prozent der Jugendlichen, die es aus welchen Gründen auch immer nicht in eine AHS geschafft haben, von Jahr zu Jahr schwerer tun, die Bildungsstandards zu erfüllen.

Die Unterstufen der Gymnasien haben sich in den größeren Städten deshalb längst zu einer Art Gesamtschule ohne Risikoschüler entwickelt. Ihren Status als Eliteschule für besonders Begabte hat sie dadurch natürlich eingebüßt. Das mag von den Gegnern eines differenzierten Schulsystems zwar begrüßt werden. Die meisten städtischen NMS sind dadurch jedoch zu Restschulen verkommen, in denen die Risikoschüler die Mehrheit stellen. Die Lehrer stehen daher oft auf verlorenem Posten. Dass das Konzept der NMS gut ist und was diese zu leisten imstande sind, kann man hingegen in den meisten ländlichen Regionen erleben. In Österreich wurden im Vorjahr bundesweit die Bildungsstandards des Deutschunterrichts getestet. Dabei ist das gute Abschneiden der ländlichen Neuen Mittelschulen aufgefallen, die meist zu den AHS in den Ballungsräumen aufschließen konnten. Ebenso auffällig war übrigens das gute Abschneiden der steirischen Schulen, die quer über alle Schultypen hinweg an die Spitze vorstoßen konnten. Die amtsführende Landesschulratspräsidentin Elisabeth Meixner begründet das mit einem landesweit durchgeführten Leseschwerpunkt. In ihrer Meinung, dass die Lesekompetenz eine Grundvoraussetzung für das Erreichen der Standards auch in den anderen Fächern wie Mathematik oder Naturwissenschaft bildet, wird sie übrigens von vielen Bildungsexperten bestätigt.

Bildungsreform als kleiner, aber wichtiger erster Schritt
Für die Landesschulratspräsidentin ist hingegen klar, dass die aktuell doch noch beschlossene Bildungsreform, mit der Zusammenfassung mehrerer örtlich benachbarter Schulen zu Bildungsclustern und der verbesserten Schulautonomie, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist. Dass dieser jedoch bei weitem nicht ausreichen kann, um unser Schulsystem im Spitzenfeld zu halten, ist angesichts der ungelösten Integrationsherausforderungen, welche die Schulen zu bewältigen haben, ebenfalls klar. Was beschlossen wurde, ist nämlich nur der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Politik und Gewerkschaft eingelassen haben.
Und so hat Österreich seinen Bildungsvorsprung in den letzten Jahrzehnten nicht nur gegenüber Mittel- und Westeuropa, sondern auch gegenüber den meisten Reformstaaten und vielen Schwellenländern eingebüßt. Auch die steirische Bildungslandesrätin Ursula Lackner sieht im Bildungspakt eines der wichtigsten Reformprojekte der Bundesregierung. Sie hält die darin enthaltenen organisatorischen und pädagogischen Verbesserungen für unverzichtbar und sieht in der Clusterbildung einen Meilenstein, um für die Schulen – von der Volksschule bis zum Gymnasium – die benötigten Handlungsspielräume zu schaffen, um sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen auszurichten.

Bei den PISA-Tests kämpfen unsere Schulen um den Anschluss
Bei der Bewertung ihrer Zukunftschancen stehen die Volkswirtschaften im internationalen Bildungswettbewerb. Und da liegen unsere Schüler – zumindest wenn man die PISA-Studie heranzieht – in den naturwissenschaftlichen Kompetenzen zwar im OECD-Schnitt und bei Mathematik sogar darüber. Um die Lesekompetenz ist es in Österreich jedoch schlecht bestellt. Auch die Zahl der Risikoschüler, die in einem der drei getesteten Bereiche erhebliche Mängel aufweisen und daher erst mit großem Mehraufwand – nach der Pflichtschule – arbeitsmarktfähig gemacht werden müssen, ist mit einem Drittel der 15-Jährigen extrem hoch. 13 Prozent der Schüler sind sogar in allen drei Bereichen (Naturwissenschaft, Mathematik und Lesen) in der Risikogruppe zu finden und daher völlig ungeeignet für den ersten Arbeitsmarkt. Funktionelles Analphabetentum gab es zwar auch in der Vergangenheit, früher fanden die Betroffenen jedoch Hilfsarbeiterjobs, von denen inzwischen die meisten der Automatisierung zum Opfer gefallen sind.
Ob die PISA-Studie zu mehr taugt, als ein Bildungssystem zu schaffen, bei dem Kinder zu voll funktionsfähigen »Arbeitsameisen« herangezogen werden, ist umstritten. Kreative und soziale Fähigkeiten gelten vielen Bildungsexperten nämlich als ebenso wichtig wie die in PISA abgefragten Kompetenzen. Diese werden von der OECD jedoch – wohl auch aufgrund der schwierigen Vergleichbarkeit – nicht bewertet, was wiederum zum Ergebnis führt, dass die kreativ- und geisteswissenschaftlichen Unterrichtsfächer immer stärker zusammengekürzt und beschnitten werden. In kaum einer NMS gibt es daher noch einen Schulchor oder eine Theatergruppe.
Vor dem Hintergrund der Gesamtschuldiskussion wäre eine nach Schultypen differenzierte Auswertung der PISA-Studie interessant, doch das mit der Durchführung der Tests betraute »Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens« (Bifie) weigert sich seit Jahren beharrlich, die qualitativen Unterschiede der unterschiedlichen Schultypen bekanntzugeben. Das unterschiedliche Leistungsvermögen von AHS-Schülern und Schülern der Polytechnischen Schulen wurde daher zum letzen Mal im Jahr 2003 differenziert ausgewertet. Damals erzielten die AHS-Schüler mit 572 Punkten beim Lesen ein deutlich besseres Ergebnis als der später als Bildungswunderland vermarktete PISA-Sieger Finnland mit 543 Punkten. Die Polytechnischen Schulen schnitten mit 397 Punkten hingegen verheerend ab. Sie lagen damit allerdings noch besser als die Schüler aus Tunesien, dem Letztplatzierten der PISA-Studie 2003 mit 375 Punkten. Die Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften ergaben ein ähnliches Bild.

Endlich echte Reformen!
Solange der Streit um die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen nicht in die eine oder andere Richtung entschieden ist, wird unser Bildungssystem nicht das leisten, was es aufgrund der hohen Kosten zu leisten imstande sein müsste. Denn während sich die Bildungsexperten längst darin einig sind, dass die größte Aufgabe in der Integration von Zuwandererkindern liegt, die gar nicht oder kaum Deutsch sprechen können, streitet die Politik nur wegen der Gesamtschule. Die Bildungspolitiker zeigen sich außerstande, die ideologischen Barrieren zu überwinden.
Die Gesellschaft darf die Integration jedenfalls nicht länger den extrem überforderten Lehrern in den Brennpunktschulen der Migrantenquartiere überlassen. So muss eine leistungsfähige Schulverwaltung in die Lage versetzt werden, die Migranten einigermaßen gleichmäßig auf alle Schulen in einer Region zu verteilen. Das betrifft sowohl die Volksschulen als auch später die AHS und die NMS. Und natürlich müssen auch die Privatschulen unter dem angedrohten Verlust des Öffentlichkeitsrechts den ihnen zustehenden Anteil von Migranten übernehmen. Darüber wäre vielleicht sogar ein Plebiszit angebracht, dessen Ausgang den gordischen Blockadeknoten endlich zerschlagen würde.

Dass eine regionale Aufteilung der Zuwanderer jene ländlichen Abwanderungsregionen, in denen es kaum Migranten gibt, bevorzugen würde, kann als Beitrag zur Chancengerechtigkeit in peripheren Regionen und zum Erhalt der Kleinstschulen gewertet werden.

Fazitthema Fazit 134 (Juli 2017)

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