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Soziale Feuerwehr

| 26. Juli 2018 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 145, Fazitgespräch

Foto: Erwin Scheriau

Der Grazer Stadtrat Kurt Hohensinner im Gespräch über die integrative Kraft des Sports und die sozialen Brennpunkte der Stadt Graz.

Das Gespräch führten Peter K. Wagner und Johannes Tandl.
Fotos von Erwin Scheriau.

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Das Büro verrät die Sportbegeisterung des Hausherrn. Ein Basketballkorb hängt über der Eingangstür, hinter dem Schreibtisch steht ein Rad und auf der Kommode liegen Bälle. Ein Basketball und ein weißer, der einem Fußball ähnelt.

»Wisst ihr was das ist?«, fragt Stadtrat Kurt Hohensinner die Fazit-Mannschaft, die den offiziellen Spielball der Weltmeisterschaft 2018 in Russland vermutet. »Nein«, lächelt Hohensinner. »Das ist ein Footvolley«. Die Sportart, eine Mischung aus Beachvolleyball und Fußball, war erst unlängst am Grazer Hauptplatz zu Gast. Und ermittelte dort im Juni den neuen Europameister.

»Der Ball ist übrigens schwerer als ein herkömmlicher Fußball und gar nicht so einfach zu bändigen«, erklärt Hohensinner. Und schon befinden sich der Stadtrat und die Fazit-Redaktion im Gaberl-Doppelpass. Ein Doppelpass als Nachspielzeit des Gesprächs der letzten Stunde. In dem zwar auch der Sport, aber vielmehr Integration und die sozialen Brennpunkte der Stadt bespielt wurden. Und beide Seiten ständig in die Offensive gingen.

***

Herr Stadtrat, ich habe unlängst einen elfjährigen Buben namens Nour kennengelernt. Ich habe ihn angesprochen, weil er in einer kleinen Gasse neben der St.-Andrä-Kirche im Bezirk Gries Fußball gespielt hat. Er hat mir erzählt, es gäbe leider keine Sportplätze in der Nähe. Warum muss der kleine Nour denn auf der Straße kicken?
Wir schauen natürlich, dass wir die Bezirkssportplätze ausbauen. Wenn man die Street-Workout-Parks dazu zählen, haben wir rund 27 davon. Mein erklärtes Ziel ist es, jedes Jahr einen Platz mehr zu haben. Wenn ich den jungen Mann beraten würde, würde ich ihm die Bezirkssportplätze in der Nähe empfehlen. Darüber hinaus gibt es auch ganz viele Vereine.

Ich habe sogar versucht, einen Verein für ihn zu finden, und bin auf den Grazer Sportclub gestoßen. Die Kosten dort belaufen sich auf etwa 75 Euro im Halbjahr plus zusätzliche Hallenkosten im Winter. Für Nour, den Sohn einer irakischen Flüchtlingsfamilie, nicht leistbar.
Wir haben für alle Vereine, die eine Sportförderung bekommen, ein Konzept. Die Vereine unterstützen solche Kinder mit 50 Prozent der Kosten und wir als Sportamt der Stadt Graz tragen den Rest. Darüber hinaus haben wir jetzt einen sehr niederschwelligen sportlichen Einstieg möglich gemacht. Die Sommersportkurse erfreuen sich schon seit Langem großer Beliebtheit. Neu gibt es in diesem Jahr den Grazer Sportgutschein. Über diesen stellen wir rund 1.100 Gratis-Jahresmitgliedschaften in den Grazer Vereinen zur Verfügung.

Ein anderes Problem ist aber, dass der Bub den GSC ohne meine Hilfe nie gefunden hätte.
Meinen Eltern war es wichtig, dass ich Vereine und Sportarten kennenlerne, diese Unterstützung haben aber leider nicht alle Kinder. In der Schule kann ich alle Kinder erreichen und deshalb habe ich vor drei Jahren das Projekt der Schulvereinssporttage auf die Beine gestellt. Sie finden am Ende des Jahres im Areal des Allgemeinen Turnvereins Graz statt. Rund 20 Sportarten haben wir dort präsentiert. Ich glaube, wenn wir den Kindern genügend Freizeitmöglichkeiten anbieten, ist das Risiko wesentlich geringer, dass sie einmal Angebote wahrnehmen, die nicht sehr förderlich sind für ihre Zukunft. Ob Drogenkonsum oder Ähnliches.

Wenn wir das wiederum auf ein Kind des Griesviertels umlegen, das im sozialen Brennpunkt der Stadt Graz heranwächst: Ist Sport eine der größten Chancen für solche Kinder?
Absolut. Sport ist nicht nur gesund, Sport ist integrativ und sozial. Uns ist es total wichtig, diese Möglichkeiten direkt anzubieten. Es gibt auch viele Kulturvereine, die sich in Graz etablieren. Moscheevereine etwa. Wenn die eigenen Sportangebote bereitstellen, ist das aus meiner Sicht nicht besonders integrativ. Wir müssen Kinder also in Vereine wie den GSC bringen.

Geht man auf solche Kinder aktiv zu in sozialen Brennpunktschulen des Griesviertels wie St. Andrä oder Bertha von Suttner?
Wir haben Schulsozialarbeit und verschiedene Angebote, unter anderem jene der Sozialräume.

Sind die Lehrer dort nicht völlig überfordert?
Die ganzen Bildungsdiskussionen könnten wir hintenanstellen, würden die Lehrer mehr unterstützt. Lehrer haben die Anforderung, dass sie immer mehr Aufgaben in den Griff bekommen müssen. Neben Bildung auch die Erziehung. Wir geben Lehrern nur nicht ausreichend Werkzeuge dafür, diese Aufträge umzusetzen. Ich lade immer wieder Journalisten ein, diese Brennpunktschulen mit mir zu besuchen und ihnen zu zeigen, welche zusätzlichen Angebote wir haben. Ob Sprachförderung, Unterstützung in der Ganztagesbetreuung oder Schulsozialarbeit. Mein Auftrag als Bildungsreferent ist es, den Kindern zu helfen, damit sie nach der Pflichtschule lesen, schreiben und rechnen können. Aber es geht auch um soziale und sportliche Grundkompetenzen, wie schwimmen oder einen Purzelbaum zu schlagen.

Foto: Erwin Scheriau

Das Problem ist, dass diese Schulen mit sehr hohem Anteil von Kindern nichtdeutscher Muttersprache von österreichischen Eltern ohne Migrationshintergrund gemieden werden. Was kann man dagegen tun?
Ich rede diese Herausforderung nicht klein. Der erste Ansatz der Integration ist daher die Migration. Ich muss schon beim Zuzug schauen, dass ich die Gesellschaft nicht überfordere. Gesellschaftliche Herausforderungen zeigen sich am Anfang immer in der Schule. Die Herausforderung der Bildungseinrichtungen ist, dass wir es teilweise nicht mehr geschafft haben, die vorhin angesprochenen Bildungsziele zu erreichen.

Bereits die Ausgangslage ist schlecht. Wir würden es auch ohne die Migrationswelle von 2015 nicht schaffen.
Wir müssen Auffangnetze zusammenknüpfen. Es gab unter den letzten Stadträten immer gute Netze für gefährdete junge Menschen, aber sie waren noch nicht zu einem großen Netz gespannt. Daher finde ich gut, dass ich diese nun – dank dem Zusammenspiel meiner Ressorts – aus einer Hand bereitstellen kann. Es gibt übrigens für Kinder im Sommer auch ein Projekt namens Gragustl, das über den gesamten August hinweg Lernangebote und Sport vereint. Das wäre sicher etwas für den kleinen Nour.

Sie haben gesagt, dass Kinder nicht in Moscheevereinen Sport treiben sollen. In Schulen bleiben sie aber unter sich, die St.-Andrä-Schule nennt man euphemistisch »Schule der Nationen«. So wie man Kinder in Vereinen aufteilen sollte – sollte man sie nicht auch in Schulen aufteilen?
Damit wir in die Zukunft arbeiten können, brauchen wir eben einen restriktiven Zuzug. Das ist der Anfang, um Migranten Perspektiven anbieten zu können. Das kann ich als Stadtrat aber nicht beeinflussen. Was ich kann, ist, für die Kinder meiner Stadt alles zu tun, damit sie alle Chancen im Leben haben. Diese Arbeit beginnt aber nicht in der Schule, sondern bereits im Kindergarten, wo wir im Gegensatz zur Schule auch für die Pädagoginnen zuständig sind und nicht nur dafür, Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Wir haben in den Kindergärten massiv in die Sprachförderung investiert, weil sich da jeder Integrationseuro zehnmal positiv auswirkt.

Überall wird händeringend nach Pädagogen gesucht. Wie geht es der Stadt Graz dabei?
Wir merken, dass wir genügend Betreuer haben, aber zu wenig Pädagogen. Das ist ein österreichweiter Trend, da muss man sich etwas überlegen. Die Ausbildung dauert fünf Jahre und schließt mit Matura ab, allerdings strebt nur die Minderheit der Absolventinnen auch den Beruf der Kindergartenpädagogin an oder bleibt langfristig in diesem Berufsfeld.

Bei der Migrationspolitik sind sich die Parteien schon in Ansätzen parteiübergreifend einig. Bei der Integration hat man hingegen das Gefühl, dass nun weniger Mittel zur Verfügung stehen und die Bemühungen zurückgefahren werden. Unterstützen Sie hier auch den Weg der Bundesregierung?
Weniger Mittel stehen nicht zur Verfügung. Ich bin bei den Regierungsverhandlungen ja auch Teil der Integrationsarbeitsgruppe gewesen. Es wurde einfach das Jahr davor budgetär betrachtet und für das darauffolgende Budget jene Summe verwendet, die im Jahr davor abgerufen wurde. Es ist nicht weniger in Summe.

Noch einmal präzisiert: Man hat als Kommunalpolitiker oft mehr Einblick als als Bundespolitiker. Gerade im Bereich der Integration stellt sich die Frage: Haben Sie dort in Wien damals nicht erklärt, dass Sie eigentlich gerne wesentlich mehr finanzielle Mittel zur Verfügung hätten bei all den Problemfeldern?
Das stimmt, dass ich mich bei praktischen Themen gut einbringen konnte. Zum Beispiel haben wir zusammen mit dem Land Steiermark und dem ÖIF – dem österreichischen Integrationsfonds – ein Projekt namens Startpunkt Deutsch. Wir haben es österreichweit als Pilotprojekt umgesetzt und es hat den Anspruch, alle Sprachkurse, die es gibt, zu vernetzen und auch die Wartelisten zu koordinieren. Ich habe der FPÖ in der Integrationsgruppe übrigens erst den Nutzen des ÖIF näherbringen müssen. In Sachen finanzielle Mittel kann es natürlich immer mehr sein. Ich erwarte mir etwa vom Bund, dass die finanziellen Unterstützungen für die Kindergärten mindestens im selben Ausmaß wieder einlangen.

Wir haben vorhin über die Kindergärten als Ansatzpunkt gesprochen, aber ich möchte noch einmal auf die vorhin bereits angesprochenen Brennpunktschulen zurückkommen: Muss man die Kinder nicht einfach nur besser aufteilen? Ich kenne eine muslimische Familie in einem kleinen Dorf, die blendend integriert ist. Wäre sie im Griesviertel aufgewachsen, wäre das ziemlich sicher nicht der Fall.
Die Grünen haben hier gefordert, dass man zugezogene Kinder auf alle Schulen aufteilt, damit jeweils nur maximal 30 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund in Bildungseinrichtungen zu finden sind. Rein rechnerisch muss ich den Grünen dafür einen glatten Fünfer geben, weil sich das bei 50 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund nicht ausgehen kann. Es ist außerdem nicht sinnvoll, nur über Kinder mit Migrationshintergrund zu sprechen. Es geht um Kinder mit Sprachförderbedarf, von denen es in Graz etwa 22 bis 25 Prozent gibt. Wir müssen einheitliche Standards schaffen, an denen Bildungsminister Heinz Faßmann gerade arbeitet. Danach muss sich die Förderung ausrichten. Wir sollten auch schauen, dass es da eine gute Durchmischung der Schulen gibt. Es über alle Kindergärten und Schulen zu schaffen, wird nicht möglich sein. Wenn aus Gries 100 Kinder nach Mariagrün kommen, müssten 100 Mariagrüner Kinder wo anders hinkommen. Etwas habe ich schon geschafft als Stadtrat: Graz besteht aus nur einem einzigen Schulsprengel. Ich habe daher die Schulanmeldung verändert. Der Ball wurde den Eltern zugespielt, die sich drei Wunschschulen aussuchen können. 95 Prozent der Erstwünsche können erfüllt werden und das führt zu etwas mehr Durchmischung. Ich unterstütze auch eine Studie, die zeigen soll, mit welchen anderen Steuerungsmethoden in anderen Städten gearbeitet wird, um mehr Durchmischung zu erreichen. Eine Idee ist etwa, Schule an der Grenze zwischen bürgerlichen Bezirken und Bezirken mit sozialen Herausforderungen zu bauen.

In Wien gibt es dieselbe Problematik seit wesentlich längerer Zeit. Und einen unglaublichen Run auf Privatschulen. Wie kann diese Entwicklung in Graz verhindert werden?
Der Kindergarten ist ein gutes Beispiel. Da hat mein Vorgänger Detlev Eisel-Eiselsberg mit dem Tarifmodell schon etwas sehr Schlaues gemacht. Andere Städte haben das Problem, dass Eltern ihre Kinder nur noch in private Einrichtungen geben wollen und nicht mehr in öffentliche. In Graz wurde darauf reagiert, in dem den privaten Einrichtungen gutes Geld in Form eines Tarifmodells gegeben wurde, wenn sie auch Qualitätsrichtlinien umsetzen, die Sozialstaffel beachten und alle Kinder nehmen. Das Modell funktioniert und führt zur gewünschten Durchmischung.

Man merkt, dass Sie willens sind, etwas zum Guten zu verändern. Nun haben Sie vorhin schon angedeutet, dass es auf Bundesebene mit der FPÖ – Stichwort Unkenntnis des Integrationsfonds – durchaus schwierig ist beim Thema Integration. Wie geht man mit einem Koalitionspartner um, der – wie zuletzt in seinem eigenen TV-Kanal – Menschen mit Migrationshintergrund offen diskriminiert? Es ging im konkreten Fall um das Zusammenleben in einem Wohnbau in Gries.
Wir sind nicht die FPÖ und die FPÖ ist nicht die ÖVP. Jeder will seine Linie erhalten und eine Koalition heißt, Kompromisse einzugehen. Schön finde ich, dass die FPÖ unseren Weg einer differenzierten Darstellung mitgeht. Vorher hat die FPÖ immer weitestgehend gegen Integrationsmaßnahmen gestimmt. Aber jetzt vertraut uns Mario Eustacchio, weil ich ihm auch zugesagt habe, genau hinzuschauen. Dass er manche Dinge aus seiner FPÖ-Sicht zuspitzt, ist seine Sache.

Foto: Erwin Scheriau

Mario Eustacchio ist mit dem Konzept in die Wahl gezogen, die Gemeindebauten ausländerfrei zu machen. Das zieht er aber nicht durch. Es gibt jetzt sogar eher mehr Migranten in den Gemeindebauten.
Es gibt eben die plakative Sprache im Wahlkampf und die politische Realität danach. Ihre Aussage lasse ich so aber nicht stehen. Er hat sich angeschaut, was möglich ist, und hat sehr wohl positive Veränderungen herbeigeführt. Nun wird eben einmal abgearbeitet, was aufgrund der Warteliste von Elke Kahr abzuarbeiten war. Und die adaptierten Richtlinien gelten für neue Anfragen.

Was über all den Fragen der sozialen Herausforderungen in Graz steht, ist eine rasant wachsende Stadt. Wächst die Stadt Graz schlicht zu schnell?
Man sollte einen Diskurs führen, was Zuzug nach Graz bedeutet. Wir haben die letzten zehn Jahre immer gejubelt – jedes Jahr 6.000 Menschen mehr. Wer A sagt, muss aber auch B sagen, und wir müssen auch für die Zukunft ein entsprechendes Bildungsangebot sicherstellen. Es sind nicht nur ältere Leute, die zu uns ziehen und das Kulturangebot genießen, sondern meistens handelt es sich um Familien. Ich sehe mich hier aber von Günter Riegler und Siegfried Nagl mit dem Budget, das zur Verfügung steht, gut unterstützt. Seit ich zuständiger Stadtrat bin, bauen wir Schulen aus. Insgesamt wurden bereits 63 Millionen Euro investiert. Wir wissen aber, dass wir bis 2030 um St. Pölten wachsen, wenn es so weitergeht.

Versucht man 2030 eigentlich noch einmal Olympia nach Graz zu holen? Nur professioneller und weniger spontan?
Eine lange Vorbereitungszeit war einfach nicht möglich, weil es diesmal die große Chance gegeben hat, eine neue Art von Spielen ohne große Investitionen durchzuführen. Es wären Kontraspiele geworden. Mit Sportlern im Mittelpunkt und bestehender Infrastruktur sowie einem Budget, das auf Punkt und Strich eingehalten wird. Diese Philosophie war Teil der Agenda 2020 des IOC. 2026 wird die Austragungsstadt erstmals mit dem Budget auskommen. Die dekadenten Olympischen Spiele, die wir zuletzt erleben mussten, werden der Vergangenheit angehören. In weiterer Folge werden sich daher wieder 100 Städte um die Ausrichtung von Olympischen Spielen bewerben. Und damit haben wir zu einem späteren Zeitpunkt bei Weitem nicht mehr die Chancen, die wir in diesem Zeitfenster gehabt hätten.

Herr Hohensinner, vielen Dank für das Gespräch!

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Kurt Hohensinner wurde am 16. Mai 1978 in Graz geboren. Er absolvierte die Fachschule für Sozialberufe der Caritas in Graz und ist diplomierter Behindertenpädagoge. 2003 zog er für die ÖVP in den Gemeinderat ein. Aktuell ist er Stadtrat für Bildung und Integration, Soziales, Jugend und Familie, Sport und die Stadtbibliotheken. Er ist verheiratet und hat einen Sohn.

Fazitgespräch, Fazit 145 (August 2018), Fotos: Erwin Scheriau

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