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Der alte Mann und die Schule

| 28. November 2011 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 77, Fazitgespräch

Hannes Androsch ist viel unterwegs. Trotz seiner 73 Jahre. Bevor der Industrielle und ehemalige Finanzminister in der nächsten Woche seine AT&S-Produktion in Shanghai besucht, rührt er allerorts die Werbetrommel für das von ihm initiierte Bildungsvolksbegehren. Am 3. November beginnt die finale Unterschriftenwoche, die über die Wirkung des Volksbegehrens entscheiden wird. Wir trafen Androsch an einem der letzten warmen Herbsttage auf der Teichalm, um über sein Engagement zu sprechen.

Das Gespräch führten Michael Thurm und Johannes Tandl.

::: Interview als PDF: DOWNLOAD

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Herr Androsch, bis jetzt sind 52.000 Unterschriften zur Unterstützung des Bildungsvolksbegehren zusammengekommen. Was bedeutet diese Zahl jetzt, kurz vor der Woche des Volksbegehrens?
Diese Unterstützungsunterschriften waren nötig, um ein Volksbegehren rechtswirksam initiieren zu können – da hätten natürlich auch 8.000 Stimmen gereicht. Wenn in der Woche vom 03. bis zum 10. November noch einmal mindestens so viele Unterschriften zusammenkommen wie bisher – also insgesamt 100.000 –, dann muss sich der Nationalrat damit befassen. Aber das genügt uns natürlich nicht. Wenn nämlich nur an einem Tag eine Debatte stattfände, wäre das die Mühe nicht wert gewesen und dem Anliegen würde es noch weniger entsprechen.

Würden Ihnen die 100.000 Unterschriften genügen, um von einem politischen Erfolg zu sprechen?
Formell reicht das, aber um den politischen Druck auszulösen, den wir wollen, brauchen wir so viele wie möglich. Und daher ist es mein Appell an jeden Einzelnen, vom Urgroßvater bis zu den Sechzehnjährigen, sich der bescheidenen Mühe zu unterziehen und unterschreiben zu gehen.

Österreich hat schon einige Volksbegehren hinter sich: 1946 stimmten 832.000 für das Rundfunkvolksbegehren, 1997 waren es 1,2 Millionen gegen die Gentechnik und 2002 votierten 625.000 gegen den Kauf der Abfangjäger. Sowohl Gentechnik als auch Abfangjäger sind längst Realität. Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass beim Bildungsvolksbegehren mehr Erfolg möglich ist als bei den vergangenen?
Diese drei sind ja wohl grundverschieden. Sie haben das „erfolgreichste“ genannt – zumindest was die Anzahl der Stimmen angeht, aber diese Abstimmung war gegen etwas und deshalb inhaltlich nicht erfolgreich. Das Rundfunkvolksbegehren von Hugo Portisch war für etwas und die Rundfunkreform ist gekommen. Aus einem faden Staatsrundfunk ist ein lange Zeit erfolgreicher ORF geworden. Und daher ist das auch der einzige Vergleich, den ich relevant finde. Genau so etwas wollen wir erreichen, nämlich dass für eine bessere Bildung gestimmt wird und dann die Reformen kommen, die das Bildungswesen ins 21. Jahrhundert bringen.

Können Sie sich auf eine Zahl festlegen? Wie viele Unterschriften werden nötig sein, um die bestehenden Strukturen aufzubrechen? Da meine ich die Haltung der ÖVP zur Gesamtschule …
Also, die ÖVP gibt es nicht. Es gibt viele ÖVPs, zum Beispiel haben wir auch die steirische ÖVP, die das Bildungsvolksbegehren unterstützt.

Aber die niederösterreichische ÖVP ist die mächtigste und diese und die Bundes-ÖVP unterstützen das Volksbegehren eben nicht.
Da gibt es drei Dutzend Leute in den Parteien und den AHS-Lehrergewerkschaften, die das Land mit ihrer bornierten Haltung in Geiselhaft genommen haben. Die sind die Hindernisse für Veränderung und die gilt es zu überwinden. Und je mehr Unterschriften wir dafür haben, umso besser.

Warum werden Sie zynisch, wenn Sie über die Gegner des Volksbegehrens reden? Es sind ja nicht nur 36 Leute aus Gewerkschaft und ÖVP.
Selbstverständlich sind Verallgemeinerungen immer falsch, aber es ist offensichtlich eine Minderheit von Funktionären und die hält das ganze System in Schach. Deshalb gehört die gesamte Strategie im Bildungssystem in die Kompetenz des Bundes und gleichzeitig muss den Schulen und Lehrern sehr viel mehr Autonomie gegeben werden. Natürlich gekoppelt an eine Evaluierung, um zu sehen, was denn dann an den einzelnen Schulen herauskommt. Aber wir brauchen keine Zersplitterung, die nur dem Zweck dient, möglichst viele Direktoren ernennen zu können. Das macht alles so teuer, dass von zwei ausgegebenen Euro nur einer im Unterricht ankommt. Deshalb brauchen wir Schulzentren mit vernünftigen Arbeitsplätzen für Lehrer und Schüler.

Damit sind wir mitten in den Inhalten des Begehrens. Einige Punkte wie die von Ihnen angesprochene Bundeskompetenz oder auch die Ausbildung von Kindergärtnern und Lehrern sind sehr konkret – andere Punkte sind sehr schwammig formuliert: Von der Gesamtschule ist nie explizit die Rede, ebenso wenig von Zugangsbeschränkungen. Sind die vorliegenden Punkte schon der kleinste gemeinsame Nenner der Initiatoren, oder ist das Ihr persönlicher Masterplan?
Mir hätte es völlig genügt, zu sagen: Wir brauchen ein höheres Bildungsniveau und dafür ein besseres Bildungssystem. Wir sind aber sehr viel weiter gegangen, da haben sich über 60 Organisationen direkt oder indirekt beteiligt und jetzt steht das drin, was man auf einer A4-Seite unterbringt. Das sind zwölf Punkte, die sich mit den wichtigsten Fragen befassen, von den Kindergärten über die Lehrerausbildung und
-auswahl bis hin zur unbedingt notwendigen Ganztagsschule.

Warum steht die Gesamtschule nicht drin?
Viele haben sich für die gemeinsame Schule ausgesprochen, aber das geht nur mit einer Ganztagsschule. Wir haben ja in den ländlichen Regionen, dort wo es keine AHS gibt, schon jetzt viele gemeinsame Schulen. Dort ist es gar nicht mehr möglich, zu trennen, weil es sonst zu wenig Schüler sind. Und man muss ja nur nach Südtirol schauen, wo es nur gemeinsame Schulen gibt; das ist kein Land, das von irgendeiner Links-Regierung regiert wird. Die gemeinsame Schule funktioniert aber nur, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Es müssen qualifizierte Lehrer in hinreichender Zahl sein, um die Begabten zu fördern und die Schwachen zu unterstützen. Dazu gehören Unterstützungslehrer und da wo es nötig ist  begleitende Psychologen und Verhaltenstherapeuten, die im Team arbeiten. Wenn das in den Nachmittag und private Nachhilfe verlagert wird, so wie das heute normal ist, dann ist das ein schwerer Verstoß gegen die Chancengleichheit und es ist extrem sozial ungerecht.

Ministerin Claudia Schmied hat Ihnen Unterstützung zugesichert, obwohl ihr die Forderungen nicht weit genug gehen, anderen geht es schon zu weit. Ist es ein Vor- oder Nachteil, so in der Mitte zu stehen?
Im Einzelfall wird es immer unterschiedliche Stimmen geben. Viele haben eine Meinung zum Volksbegehren, ohne dass sie diese eine Seite mit den zwölf Punkten gelesen haben. Am sinnverstehenden Lesen mangelt es ja nicht nur den 15-Jährigen. Bei den Erwachsenen wurde nur kein Test gemacht.

Der Grazer Soziologe Manfred Prisching hat gesagt, dass selbst der Durchschnittsmensch im Überfluss lebt und deshalb niemand eine Notwendigkeit sieht, etwas gegen bestehende Probleme zu unternehmen.
Es mag schon sein, dass es uns recht gut geht, aber wir dürfen nicht übersehen, dass wir von den Ernten früherer Aussaaten leben. Und wenn wir heute nichts tun, werden wir künftig keine Ernten mehr haben. Dabei sind die Anforderungen aufgrund der Globalisierung, der Demografie und der soziokulturellen Entwicklung enorm gestiegen. Von den technologischen Veränderungen ganz zu schweigen.

Zynisch gesprochen lässt sich auch das Gegenteil formulieren: Die Anforderungen für den Einzelnen sind geringer geworden, weil man sich mit einer Mindestsicherung ohne Problem ein iPhone leisten kann. Es besteht also keine Notwendigkeit zur Bildung bzw. keine Aussicht darauf, dass Bildung Erfolg bringt.
Ob das schon so ein glückliches Leben ist, wenn man eine Mindestsicherung von 750 Euro hat und dann kostet die Wohnung für 40 Quadratmeter noch 400 Euro, das wage ich dann doch zu bezweifeln. Und wenn zehn Prozent der 15-Jährigen keine Ausbildung erfahren, weil sie nicht lesen, schreiben und rechnen können – also praktisch Analphabeten sind –, dann heißt das, dass sie Gelegenheitsarbeiter werden, in der Arbeitslosigkeit landen und später in der Sozialhilfe. So bald wie möglich werden sie in die Frühinvalidität geschickt, damit das Problem vom Tisch ist. Und im schlechtesten Fall landen sie in der teuersten Privatschule, und das ist der Häfn.

Aber glauben Sie, dass diese Generation, die diese Phase hinter sich hat, das Volksbegehren unterschreiben wird?
Wenn die alle unterschreiben, dann müssten wir fast fünf Millionen Unterschriften bekommen …

Sie werden schon wieder zynisch.
… aber um die zehn Prozent geht es bei den Unterschriften nicht, sondern um die anderen 90 Prozent.

Ist Bildung noch ein Wert, oder ist er als solcher verloren gegangen?
Es ist zunächst ein humanistischer Wert und von diesem hängt ab, wie jeder mit seinen Talenten umgehen kann, die er entweder durch die Schöpfung oder die Evolution – je nachdem wo man da steht – erhalten hat.

Damit können aber wohl nur jene etwas anfangen, die bereits so gebildet sind, dass sie wissen, was Humanismus ist.
Es ist nicht nötig, dass jeder das Fremdwort erklären kann, aber jeder muss die Möglichkeit bekommen, aus seinen Talenten ein selbstbestimmtes und erfolgreiches Leben zu entwickeln und erfolgreich zu führen. Das ist Chancengleichheit. Und die Eliten müssen wissen, wie sie ein solch gerechtes und humanistisches System organisieren. Zusätzlich hängt unsere wirtschaftliche Entwicklung und unser Wohlstandsniveau davon ab, wie wettbewerbsfähig wir sind. Und um da den aktuellen Stand trotz niedriger Geburtenrate und längerer Lebenszeit zu halten, brauchen wir qualifizierte Leute.

Haben wir heute mehr unqualifizierte Menschen als früher, oder sind die früher nicht aufgefallen?
Damals waren die Anforderungen andere: Noch vor zwei Generationen war Bildung eine sinnvolle Möglichkeit, heute ist es eine zwingende Notwendigkeit. Wir brauchen keine Arbeiter mehr für einfache Tätigkeiten, weil das alles automatisiert ist. Um ein Feld zu mähen, hat es in meiner Jugendzeit noch zwölf Leute gebraucht, heute macht das ein einziger mit seinem Traktor. Diese Produktivitätssteigerung hat sich allein in meiner Lebenszeit vollzogen.

Sie haben die Verantwortung der Eliten angesprochen – jetzt unterstellen wir für einen Moment, dass Politiker dazugehören: Warum gelingt es nicht, dass die politischen Eliten jene Notwendigkeiten erkennen, die Sie beschrieben haben?
Wenn das gelungen wäre, dann müssten wir das Volksbegehren nicht machen. Es gibt eine gar nicht so große, aber ausreichend einflussreiche Gruppe von Betonierern, die der Meinung sind, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Aber die kapieren nicht, dass man dafür vieles ändern muss, weil sich die Umwelt komplett verändert hat.

Christian Buchmann hat es im letzten Fazitgespräch gesagt: „In der Politik gilt: Mehrheit ist Wahrheit.“ In einer Demokratie wie der unseren muss es offensichtlich die Mehrheit in den beiden größten Parteien sein, die dagegen ist, und nicht eine kleine Gruppe, wie Sie behaupten.
Wir haben ein politisches Kräfteparallelogramm, das die Entwicklung verhindert. Die Landeshauptleute und der Föderalismus bekommen ein Gewicht über die Parteiobleute, das ihnen nicht zusteht.
Die Landeshauptleutekonferenz finden Sie nicht einmal in der Verfassung. Und dennoch sagt ein Landeshauptmann: Ich werde meinen Abgeordneten sagen, wie sie abstimmen müssen. Als ob das feudale Leibeigene wären. Und der Landeshauptmann entscheidet auch, wer aus seinem Bundesland in den Nationalrat kommt, und der hat natürlich auch das Geld für seine Bundespartei. Und selbst wenn der eigene Neffe an der Parteispitze steht, droht er damit, die Finanzierung einzustellen, um sich durchzusetzen.

Ist das die Schwäche der beiden Parteiobleute, oder haben die keine andere Wahl?
Man kann sich offensichtlich Inserate kaufen, aber keinen Mut.

Sie sprechen einen der „politischen Skandale“ an, die in den letzten Monaten öffentlich geworden sind …
Na, ob das schon ein Skandal ist, weiß ich nicht. Das wird jetzt in einen Topf geworfen mit den strafrechtlichen Verfehlungen der letzten zehn Jahre. Diesen Augiasstall gilt es schon aus hygienischen Gründen auszumisten, und da wird jetzt alles zusammengeworfen.

Das klären die Gerichte. Aber erweckt diese Häufung von moralischen oder juristischen Fehlverhalten nicht den Eindruck, dass Bildung und Fähigkeiten kaum noch eine Rolle beim individuellen Erfolg spielen, sondern die persönlichen Bekanntschaften und die ausreichende Kaltschnäuzigkeit, diese auszunutzen?
Man darf aus den allzu vielen Fehlern, die jetzt öffentlich werden, keine Verallgemeinerung machen. Es sind immer noch Einzelfälle.

Aber genau das wird doch momentan von vielen getan. Meist wird dieses Misstrauen als Politik- und Politikerverdrossenheit bezeichnet.
Auch dann würde mehr Bildung und mehr Engagement helfen. Nicht Empörung, sondern Engagement sind gefragt.

Damit spielen Sie auf Stéphane Hessel an, der vor allem in Frankreich mit seinen Büchern „Empört euch“ und „Engagiert Euch“ die politische Diskussion in Schwung gebracht hat. Hessel wird Ende Oktober 94 Jahre alt, Sie selbst sind 1938 geboren. Woher kommt dieses Engagement im hohen Alter?
Das zeigt doch, dass man an Jahren alt sein kann und im Herzen jung. Und da gibt es ja einige Beispiele. Konrad Adenauer war 72 Jahre alt, als er Bundeskanzler wurde. Deng Xiaoping war 75, als er die Führung Chinas übernommen hat, und beide haben ihr Land und nebenbei die Welt verändert. Als politischer Mensch ist man nie aus der Politik draußen. Und wenn man wie ich über der Baumgrenze ist und nicht mehr in den Auseinandersetzungen des Tages verheddert, dann hat man einen anderen Überblick. Wir hatten die Möglichkeit zu einem erfolgreichen Leben und wir haben die verdammte Verantwortung, unseren Nachkommen das auch zu ermöglichen.

Sehen Sie im Engagement der älteren Generation, das momentan sehr geballt auftritt, auch ein Legitimationsproblem der parlamentarischen Demokratie?
Ich will das nicht überbewerten. Aber das Tempo und Ausmaß der Veränderungen in den letzten 20 Jahren war so gewaltig, dass wir mit unseren Institutionen und Entscheidungsmechanismen nicht folgen konnten. Daraus ist dieses lähmende Kräfteverhältnis geworden, aber es wäre verhängnisvoll, darin zu verharren.

Ist das Wissen darum, dass die verbleibende Lebenszeit knapp wird, ein Grund, aktiv zu werden? Hessel und Erhard Busek haben beide davon gesprochen, „noch etwas tun zu müssen“.
Jetzt bewegen wir uns in tiefenpsychologischen Bereichen. Dafür bin ich der Falsche.

Aus der Perspektive meiner Generation (Jahrgang 1987) sieht es so aus, als würden Politiker immer erst dann vernünftig werden, wenn sie nicht mehr im Amt sind. Nun habe ich Sie nicht während Ihrer Amtszeit erlebt …
Das ist ja nicht wahr. Ich war lang genug in der Regierung und weise das entschieden zurück. Sie werden so einen Vorwurf weder einem Helmut Kohl noch einem Giscard d’Estaing oder auch einem Helmut Schmidt anhängen können. Und ein Überengagement kann man der Jugend nun auch nicht vorwerfen; da würde ich mir mehr wünschen. Wir Eltern müssen uns da den Vorwurf machen, dass wir euch unter zu bequemen Umständen haben groß werden lassen.

Wenn dann aber etwas getan wird, zum Beispiel in den letzten beiden Jahren bei den Bildungsprotesten, dann wird deutlich, dass sich dadurch nichts ändert.
Da wurden aus den Hörsälen für einige Zeit Wärmestuben gemacht, das ist ja keine Bildungsreform. Eingezogen sind dann die Obdachlosen und nicht die Studierenden. Die mussten in Kinosäle ausweichen.

Das ist im Einzelfall vorgekommen, aber es gab viele Studierende, die sich monatelang durch Besetzungen und Demonstrationen hinter die Forderung nach mehr Geld für Universitäten gestellt haben.
Die Initiatoren dieser Besetzungen hatten ja keine Vorstellung davon, wie eine Universität funktionieren soll.

Sie hoffen also nach wie vor, dass man innerhalb des politischen Systems Änderungen durchsetzen kann. So wie durch ihr Bildungsvolksbegehren, das ja einen ganz klar vorgeschriebenen Weg geht.
Die Hoffnung ist des Glaubens liebstes Kind, das lassen wir in der Kirche. Ich hab eine Zielsetzung. Mit der Hoffnung sterben kann ich mir für später aufheben.

Herr Androsch, vielen Dank für das Gespräch.

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Fazitgespräch, Fazit 77 (November 2011)


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