Anzeige
FazitOnline

Fazitthema Europäische Bürokratie

| 11. April 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 201, Fazitthema

Foto: Frederic Koberl/Unsplash

Am Vorabend der EU-Wahl zeigt sich einmal mehr: Europa hat den Faden verloren. Während die wichtigen Fragen seit Jahren ungelöst sind, beschäftigt sich der Beamtenapparat mit der Regulierung und Normierung jedes denkbaren Lebensbereiches. Ein Text von Johannes Roth.

::: Hier im Printlayout online lesen

Es war ja keine schlechte Idee, die im Vertrag von Lissabon festgeschrieben worden war. Nachdem eine gemeinsame europäische Verfassung an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, war der Vertrag selbst zwar nur eine Art Notlösung, aber er stellte das wichtigste Ziel der Europäischen Union endgültig außer Frage: Dieses sei, so der Artikel 3 des Vertrages, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.

So weit, so gut. In den folgenden Paragrafen wird dann beschrieben, wie man dieses Ziel erreichen will. Die Schaffung eines Wirtschaftsraumes ist ein Teil des umfangreichen Maßnahmenkataloges, Preisstabilität in einer Währungsunion ein anderer Teil, etc. etc. Interessant ist, was unter Schaffung eines Binnenmarktes sonst noch alles zusammengefasst ist: Die EU wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas hin, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie auf ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen, fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, selbstverständlich die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Alles in allem ist Artikel Drei eine Zusammenfassung rechter, linker und liberaler Ideale. Es ist ein Wir-machens-allen-recht-Paragraf, eine Wunschliste aufgeklärter politischer Strömungen.

Zu viele Ziele
Und genauso lesen sich die EU-Verordnungen, die immer unübersichtlicher und die in ihrer Anzahl immer mehr werden, dann auch. Denn, wie eine alte Binsenweisheit sagt: Allen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann. Was gut gemeint ist, verkehrt sich ins Gegenteil. EU-Verordnungen regeln mittlerweile jedes kleinste Detail des Zusammenlebens; und auch dort, wo die nationalstaatlichen und regionalen Gesetzgebungen bewusst einen Spielraum in der Gleichschaltung von Wirtschaft und Individuen gelassen haben. Die großen Fragen Europas – Migration, Verteidigung, Konkurrenzfähigkeit im internationalen Standortwettbewerb – bleiben indes unbeantwortet. Europa verliert sich im Kleingedruckten, konstatiert in diesem Kontext der Wirtschaftsforscher und Agenda-Austria-Chef Franz Schellhorn. Im Wochentakt werden neue Regularien auf den Weg geschickt, die einen einzigen Zweck haben: aus den Bürgern bessere Menschen zu machen. Das gilt vor allem für jene, die ein Unternehmen führen, so Schellhorn weiter.

Lieferkettengesetz
Diese Bemühungen sind indes ziemlich erfolglos, wie das jüngst zuerst zwar gescheiterte und dann doch noch beschlossene Lieferkettengesetz zeigt. Der Grundgedanke, die globalen Menschenrechte durch Zwang auf europäische Unternehmen dahingehend durchzusetzen, dass man nur mehr mit dokumentiert menschenrechtskonformen Betrieben Geschäfte machen dürfe, war ebenso verwegen wie lobenswert. In der Ausführung wurde es dann zu einem weiteren Beispiel einer langen Reihe von Verordnungen, die gut gemeint sind, die Wirtschaft aber mit schikanösen Verpflichtungen schwächen. Hauptkritikpunkt an den überschießenden Regulierungen ist, dass der Aufwand, den sie mit sich bringen, derart hoch ist, dass sich nur mehr große Unternehmen leisten können, ihn zu administrieren. Das bestätigt auch IV-Präsident Georg Knill, der jüngst in einem Interview in der Kleinen Zeitung klare Worte gegen das Gesetz gefunden hat: Die bürokratische Lawine beschränkt sich nicht nur auf die großen Betriebe, es sind doch alle vernetzt, Leitbetriebe, KMU, Mittelstand, Kleinstbetriebe sind alle in der Lieferkette. Am Beispiel von unserer Firma Rosendahl: Ich müsste jeden meiner 1.600 Lieferanten nach dem Lieferkettengesetz beurteilen. Und deren Lieferanten und deren Lieferanten. Ich wäre als Unternehmer für die gesamte Kette in beide Richtungen verantwortlich, also auch für die Kunden. Wie soll das gehen, in Indien oder Bangladesch? Mit Zertifikaten? Da waren Bürokraten am Werk, die von Wirtschaft keine Ahnung haben, so der IV-Präsident.

Österreich verliert an Wettbewerbsfähigkeit
Dass Bürokraten am Werk sind, die von Wirtschaft keine Ahnung haben, erweist sich als ausgesprochen destabilisierend für viele Wirtschaftszweige. Dabei wäre ein stabiles Umfeld für Österreich dringend nötig. Denn wir verlieren im Gleichklang mit unserem Nachbarn Deutschland laufend an Wettbewerbsfähigkeit. In der internationalen Rangliste der 64 wettbewerbsfähigsten Länder sind wir von Platz 20 auf Platz 24 gefallen, eine drohende Deindustrialisierung steht im Raum. 40 Prozent der Unternehmen, berichtet der Kurier, hätten in den vergangenen drei Jahren Teile ihrer Produktion ins Ausland verlagert. In Deutschland seien dies sogar zwei Drittel. Wir sind also von stabil weit entfernt. Daran ist natürlich nicht alleine die Überregulierung und der damit verbundene bürokratische Aufwand schuld, aber immer wenn eine Wortmeldung aus Brüssel eine neue Verbesserung angekündigt, zittern die Verfechter einer liberalen Wirtschaft vor dem Ideenreichtum Brüsseler Bürokraten.

Entwaldungsverordnung
Kaum ein Bereich bleibt von der Brüsseler Lust am Regulativ verschont. Selbst dort, wo man sie zunächst nicht vermuten würde, treibt sie manchen Wirtschaftszweigen den Angstschweiß auf die Stirn. Nur Auskenner wissen zum Beispiel über die Entwaldungsverordnung, die EUDR, Bescheid. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass Produkte, die aus bestimmten Rohstoffen (Kaffee, Kakao, Palmöl, Soja, Rindfleisch, Gummi und Holz) hergestellt und in der EU in Verkehr gebracht oder aus der EU exportiert werden, bei ihrer Herstellung keine Entwaldung oder Waldschädigung verursacht haben. Als Laie fragt man sich an dieser Stelle, welche Sorgen die Brüsseler Bürokratie angesichts eines ausgewiesenen Waldwachstums umtreibt, dass man sich zu einer solchen Verordnung genötigt sah. Immerhin ist die gesamteuropäische Waldfläche – ganz ohne die nunmehrigen regulierenden Eingriffe – einer Studie der Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen zufolge zwischen 2005 und 2020 um 1.500 Fußballfelder gewachsen. Täglich, wohlgemerkt, sodass sich die Waldfläche in Europa (ohne Russland) heute auf über 200 Millionen Hektar beläuft.

Fremde Probleme zu den eigenen machen
Die Antwort liegt auf der Hand: Die EU sorgt sich um die Wälder anderer Länder. Dort ist die Entwaldung zwar erheblich – weltweit sollen zwischen 1990 und 2020 420 Millionen Hektar Wald verloren gegangen sein –, in den meisten Fällen jedoch legal. Die EU möchte diesem klimaschädlichen Missstand dennoch Einhalt gebieten – wo kämen wir denn da hin, wenn man sich angesichts einer so ernsthaften Gefahr nur um seine eigenen territorialen Angelegenheiten kümmern würde? Und so müssen heimische Unternehmen in einem mörderischen Dokumentationsprozess zweifelsfrei nachweisen können, dass sie ausschließlich mit entwaldungsfreien Produkten handeln. Das funktioniert natürlich in der Praxis nicht: Kaum ein ambitionierter EU-Gastrounternehmer, der Sugo Bolognese in kleine Gläser füllt und verkauft, kann den Nachweis erbringen, dass das Rindfleisch für sein Faschiertes entwaldungsfrei ist. Nachdem also die Testphase der EUDR eklatante Mängel offenbarte und gezeigt hat, dass eine Umsetzung nach aktuellen Vorgaben nicht möglich ist, fordern die Verbände also ein Umsteuern: Man hat von Beginn an vor einer Überregulierung und realitätsfernen Vorgaben gewarnt. Frist und Anforderungen der EUDR müssen nun so angepasst werden, dass eine praxistaugliche und rechtssichere Umsetzung mit Entschärfungen für Länder mit nachweislich stabiler Waldfläche, nachhaltiger Waldbewirtschaftung und umfassender nationaler Gesetzgebung gewährleistet ist. Ansonsten droht die gesamte Wertschöpfungskette in Bürokratie zu versinken – mit negativen Folgen für Klimaschutz, nachhaltigen Wohnraum und die Wirtschaftsentwicklung der gesamten EU, erklärten die Dachverbände der Holzwirtschaft im DACH-Raum unisono.

Albtraum Medical Device Regulation
Beispiele dieser Art, bei denen eine übermotivierte Legislative in der Praxis untaugliche Regulierungen verordnet, gibt es viele. Ein anderes sehr plakatives Beispiel dafür, was die EU-Regulierungswut anrichtet, zeigt eine Verordnung mit der technischen Bezeichnung MDR 2017/745. Dabei handelt es sich um das Zulassungsverfahren für medizinische Geräte. Sie gilt im Prinzip für einfache Geräte wie Blutdruckmessgeräte ebenso wie für hochkomplexe Operationsroboter. Die Europäische Union hatte nun beschlossen, die alte Verordnung aufzuheben und durch eine neue, noch bessere, noch genauere zu ersetzen. Nirgends zeigt sich so deutlich, was Überregulierung für die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes bedeutet: Denn seit Inkrafttreten wird in Europa nur mehr ein Bruchteil jener medizinischen Geräte zugelassen, die davor in Verkehr gebracht wurden. Allein in Deutschland sank 2023 der Anteil der neuen Produkte, die deutsche Hersteller in Deutschland auf den Markt bringen, von 90 auf etwa 30 Prozent. Das Johner Institut, das Medizinprodukteherstellern den Weg durch den Bürokratiedschungel weist, spricht von einer riesigen Belastung, der viele Hersteller nicht standhalten. Einige haben aufgegeben, andere haben ihr Produktportfolio radikal zusammengestrichen, so Johner. Die Auswirkungen auf die Patientenversorgung seien jetzt schon unübersehbar.

Legitimation durch Selbstbeschäftigung
Auch in diesem Fall legitimiert sich das Brüsseler Beamtentum, das einen guten Teil der 32.000 EU-Bediensteten ausmacht, selbst, indem es sich nun damit beschäftigt, die Verordnung wieder zu entschärfen. Das dauert allerdings. In der Zwischenzeit überlegen sich viele Hersteller, mit ihren Produkten – die ja über einen langen Zeitraum sehr kostenintensiv entwickelt werden – einfach in den USA den Markteintritt zu planen. Denn dort ist es zwar auch nicht leicht, aber immer noch erheblich leichter als in der EU, die Zulassungsvoraussetzungen zu erfüllen. Im Gegensatz zur EU ist Planungssicherheit im aufwändigen und komplexen Zulassungsprozess gegeben und auch das Service sei besser, berichten Hersteller: Wer bei der US-Zulassungsstelle FDA eine Auskunft erbitten würde, würde sie umgehend erhalten, während man in der EU erst einmal einen Verantwortlichen finden müsse, der befugt ist, diese Auskunft zu erteilen. Die FDA geht nun auch aktiv auf deutsche Medizinproduktehersteller zu und fragt, was man tun könne, damit diese ihre Innovationen in den US-Markt bringe. Zur gleichen Zeit – auch das hält Zulassungsspezialist Prof. Christian Johner fest – plant die EU eine weitere Verordnung, die Medizinproduktehersteller zur Meldung zwingen soll, falls sie kritische Produkte vom Markt nehmen. Es ist eine Verordnung, vor der die Beamten selbst zittern, denn es ist noch völlig unklar, was sie mit der erwarteten Meldungsflut tun und wie sie sie verwalten sollen. So verschiebt man Innovationskraft und Fortschritt zielsicher in andere Märkte.

Finanzbranche gebeutelt
Ein prominentes Opfer der Überregulierung ist auch die Finanzbranche. Wer wem wann wie und wie viel Geld veranlagen, verleihen oder verrechnen darf, bestimmen zahlreiche EU-Regularien. Basel III legt Standards für Bankkapitalanforderungen, Liquiditätsmanagement und Risikomessung fest. Die Einhaltung erfordert komplexe Analysen und Reporting-Verpflichtungen. Die MiFID II (Markets in Financial Instruments Directive II) ist eine EU-Richtlinie, die den Handel mit Finanzinstrumenten betrifft. Sie beinhaltet strengere Anforderungen an die Transparenz, Handelsberichterstattung und den Anlegerschutz und hat weitreichende Auswirkungen auf Wertpapierfirmen und Märkte. Die Anti-Geldwäsche- und Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung (AML/CFT)-Regulierungen erfordern von Finanzinstituten, penible Maßnahmen zur Identifizierung und Überwachung verdächtiger Transaktionen umzusetzen, was einen erheblichen Aufwand für Compliance-Verfahren bedeutet. Versicherungsunternehmen leiden unter Solvency II – auch hier geht es um Kapitalanforderungen, Risikomanagement und Berichterstattung.

Goldplating in Österreich
Dazu kommen Spielereien wie Stresstests – die erfordern erhebliche Ressourcen in der Vorbereitung – oder der Umsetzung der Datenschutzverordnung DSGVO, die ebenfalls unvorstellbare Kräfte und Mittel bindet. Und noch eine weitere Besonderheit, die derzeit besonders in Österreich für Unmut sorgt. Denn überschießende EU-Regularien sind das eine, die Neigung heimischer Gesetzgeber, es noch besser und strenger handhaben zu wollen, ist das andere. Das betrifft Umweltschutzstandards ebenso wie Grenzwerte aller Art und natürlich auch das Bankenwesen. Stichwort KIM-Verordnung: Sie regelt die Kreditvergabe für Immobilienkredite und geht auf eine EU-Verbraucherschutz-Richtlinie zurück. Die österreichische Finanzmarktaufsicht nun war der Ansicht, diese Regulierung sei zu locker – und machte sie kurzerhand noch strenger. Mit verschärften Vergabekriterien bei Immobilienkrediten sollte das Risiko der Überschuldung und des Verlusts der Immobilie aufgrund von Zahlungsunfähigkeit für den Käufer minimiert werden. Mit bekanntem Ergebnis: Die Nachfrage nach Finanzierungen brach völlig ein, es wurden kaum mehr Kredite für Wohnraumbeschaffung vergeben.

Besserung ist nicht in Sicht. Zwar wird der Ruf nach Entbürokratisierung immer lauter, es scheint aber, als verhalle er ungehört. Neue EU-Vorgaben wie der AI-Act, der Data-Act, der Cyberresilience-Act und die PFAS-Regulierungen wurden oder werden verabschiedet, die Finalisierung der Legislativvorschläge des Net-Zero Industry Act und des Critical Raw Materials Act lassen weitere Regulierungen und bürokratischen Aufwand befürchten. Ob sich die Hoffnung auf eine spürbare, praktische Verbesserung der Lebenswelten der EU-Bürger dank dieser gut gemeinten Bemühungen erfüllen wird, darf bezweifelt werden.

Fazitthema Fazit 200 (März 2024), Foto: Frederic Koberl/Unsplash

Kommentare

Antworten