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Politicks Dezember 2017

| 30. November 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 138, Politicks

Die türkisblaue Regierung und ihre Feinde
Noch ist völlig unklar, wie weit die Reformen einer ÖVP-FPÖ-Regierung reichen werden. In der Beschränkung der illegalen Migration sind sich beide Parteien zwar einig. Doch wie das gehen soll, ohne das Völkerrecht oder die Menschenrechte zu verletzen, ist unklar. Denn sobald Zuwanderer beim Überschreiten der Grenzen das Zauberwort »Asyl« rufen, werden sie nach derzeitiger Rechtslage zu legalen Asylwerbern.

ÖVP-Chef Sebastian Kurz geht es vor allem darum, das Land zu modernisieren. Als einzige Bedingung hat er ein klares Europabekenntnis der gesamten türkisblauen Regierung definiert. Die FPÖ verfolgt hingegen ganz andere Ziele. Sie will vor allem die vom rotschwarzen Proporz geprägte österreichische Realverfassung verändern. Aktuell zeichnen sich drei Bereiche ab, bei denen die blauen Reformen ansetzen sollen; nämlich eine Ur-, wenn nicht sogar Volksabstimmung über die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern, die Reduzierung der Sozialversicherungen von 21 auf sechs sowie die verpflichtende Durchführung von Volksabstimmungen nach erfolgreichen Volksbegehren.

Für FP-Chef Heinz Christian Strache scheint völlig klar zu sein, dass er sowohl die heiligen Kühe der SPÖ als auch jene der ÖVP schlachten muss, wenn er den Proporz so weit eindämmen will, dass seine FPÖ auf Augenhöhe mit der Volkspartei regieren kann. Um nachhaltig erfolgreich zu sein, muss er daher die Rolle der Sozialpartner als Schattenregierung beenden; und zwar indem er sie entweder dramatisch schwächt oder ganz zerstört.

Gestärkt von seinem 99-Prozent-Ergebnis beim FPÖ-Parteitag, stellte Strache in Richtung ÖVP klar, dass sich die FPÖ dieses Mal nicht überhastet in eine Koalition treiben lassen werde. Jörg Haider hatte nach dem Regierungseintritt der FPÖ im Jahr 2000 die Säulen des Proporzes nicht angetastet und auf die stille Zustimmung der Sozialpartner gehofft. Obwohl die Schüsselregierung die Kammern ungeschoren ließ, hat es diese Zustimmung aber nie gegeben.

Widerstand gegen die FPÖ-Pläne ist daher nicht nur von linken NGOs und der SPÖ, sondern auch von der »alten ÖVP« zu erwarten. Denn nicht nur Strache will das Proporzsystem beenden, auch Sebastian Kurz dürfte viel eher dazu bereit als sein Vorgänger bei Schwarzblau I. Schließlich war Wolfgang Schüssel, bevor er in die Spitzenpolitik wechselte, Wirtschaftskammergeneralsekretär und damit selbst ein in der Wolle gefärbter Sozialpartner.

Die unangebrachte Gelassenheit der Kammern
Spricht man dieser Tage mit Wirtschaftskammerfunktionären, hört man nur wenig Negatives über die Regierungsverhandlungen. Erst hinter vorgehaltener Hand geben einige Wirtschaftsbündler zu, dass sie sich von Sebastian Kurz verraten fühlen. Die Spitzenfunktionäre der Wirtschaftskammern scheinen sich hingegen – wie auch ihr designierter Präsident Harald Mahrer – zähneknirschend mit einem im Raum stehenden Plebiszit über den Fortbestand der Pflichtmitgliedschaft abgefunden zu haben. Noch sehen WK und AK kaum Gründe, dass ein Votum diesmal anders ausgehen sollte als im Jahr 1996. Damals standen die Kammern im Zuge der Rechberger-Affäre unter heftiger Kritik, und sie versuchten, die Diskussion zu beenden, indem sie freiwillig Urabstimmungen über die Pflichtmitgliedschaft durchführten. Doch wenn die FPÖ die Pflichtmitgliedschaft diesmal tatsächlich abschaffen will, gibt es keinen Grund, eine ähnliche suggestive Fragestellung wie damals, die klar darauf abzielte, den Fortbestand der Pflichtmitgliedschaft zu sichern, zuzulassen.

Die WKO stellte ihren Mitgliedern 1996 folgende Frage: »Sind Sie dafür, dass die Wirtschaftskammer mit ihren Innungen, Gremien und Fachgruppen als gemeinsame gesetzliche Interessenvertretung für alle Unternehmerinnen und Unternehmer bestehen bleibt?« Mit dem Ergebnis, dass von den 322.000 stimmberechtigten Unternehmern 117.000 oder 36,4 Prozent teilnahmen. Die 82 Prozent, die damals mit »ja« stimmten, entsprechen nicht einmal 30 Prozent der gesamten Pflichtmitglieder. Die Interpretation des Ergebnisses als Legitimation der Pflichtmitgliedschaft ist daher bei Gegnern der »Zwangsmitgliedschaft« und der »Zwangsgebühren« bis heute höchst umstritten.

Sollte die Regierung den Kammern die Fragestellung für ihre Urabstimmungen diktieren, oder gar eine gemeinsame Volksabstimmung für alle Kammern beschließen, ist wohl mit dem Ende der Pflichtmitgliedschaft zu rechnen. Welche Auswirkungen das auf zukünftige Kollektivverträge hätte, ist völlig offen. Mit dem Ende der Pflichtmitgliedschaft würde sich das Verhandlungsmandat von AK und WKO jedenfalls auf die freiwillig verbleibenden Kammermitglieder beschränken, was gerade in schlecht organisierten Branchen wie dem Gastgewerbe, dem Bau oder dem Handel massive Auswirkungen auf die Lohn- und Gehaltsentwicklung hätte. Möglich wäre ein Ausweg in Form einer »Pflichtmitgliedschaft light« bei gesetzlichen Vertretungen, deren Aufgabe sich ausschließlich auf die Lohn- und Gehaltsabschlüsse beschränken würde.

Keine Angst! Und schon gar nicht vor dem Volk!
Strache forderte auf seinem Jubelparteitag, dass mindestens die Hälfte des Koalitionsübereinkommens eine klar freiheitliche Handschrift tragen müsse. Den Ausbau der direkten Demokratie definierte Strache gar zur roten Linie. Den Freiheitlichen schwebt ein Modell vor, das bei Volksbegehren, die von mehr als 250.000 Wählern unterschrieben werden, unweigerlich eine Volksabstimmung auslöst. Damit entstünde eine Demokratie nach Schweizer Vorbild, bei der Gesetze tatsächlich vom Volk ausgehen. Derzeit kann ja nur über Fragen abgestimmt werden, die vom Nationalrat – wie zuletzt beim EU-Beitritt – mit Mehrheit beschlossen wurden.
Der Ausbau der direkten Demokratie wäre schon deshalb zu begrüßen, weil man mit plebiszitären Elementen so manche Dauerbaustelle des Politalltags beenden würde. Der gordische Knoten der Bildungsreform oder die jahrzehntelang verschleppte Bundesstaatsreform müssten von der Politik ebenso rasch in Angriff genommen und gelöst werden wie die Gesundheitsreform. Wenn die Politik weiterhin auf der Bremse steht, hätten nämlich die Bürger die Chance, das Problem ohne die Parteien zu lösen.

Um populistische Ja-nein-Initiativen zu verhindern, muss die Politik die brennenden Reformen daher entweder beschließen oder zumindest geeignete Gesetzestexte formulieren, über die dann in einer Ja-nein-Abstimmung entschieden werden kann. Ob sich die ÖVP darauf einlässt, ist offen. Sympathien genießt das freiheitliche Modell jedenfalls bei den NEOS, die es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht haben, die Bürgerdemokratie zu stärken. Es soll, so die FPÖ, nur über Angelegenheiten abgestimmt werden können, die auch vom Nationalrat beschlossen werden könnten, also den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes nicht widersprechen. Offen ist jedoch, was mit jenen 70 Prozent der Gesetzesmaterie geschieht, mit denen das Parlament EU-Rahmenbeschlüsse in nationales Recht umwandelt. Denn, wenn sich die freiheitliche rote Linie, die eine Stärkung der direkten Demokratie fordert, mit der roten Linie der ÖVP, die der gesamten Regierung ein klares Europabekenntnis abverlangt, überschneidet, hat Türkisblau schon vor Beginn ein Riesenproblem.

Schwarze Länder gegen türkise Verhandler?
Dass sich auch einige schwarze Spitalsreferenten für den Fortbestand eigenständiger Gebietskrankenkassen ausgesprochen haben, mag befremdlich wirken. Der Grund dafür ist die Kompetenzaufteilung. Die Spitäler befinden sich nämlich in der Zuständigkeit der Länder. Finanziert werden sie jedoch von den Ländern und Sozialversicherungen gemeinsam. In der Vergangenheit hat das dazu geführt, dass die Krankenkassen tendenziell dazu neigten, so viele ärztliche Leistungen wie möglich bei den gemeinsam mit den Ländern finanzierten Spitälern anzusiedeln, während die Länder die niedergelassenen – ausschließlich von den Patienten und Krankenkassen finanzierten – Ärzte stärken wollten.

Um die Krankenhäuser leistungsfähig und effizient zu halten, ist eine dauerhaft enge Kooperation mit der jeweiligen Gebietskrankenkasse unerlässlich. Bei der Fusion der neun österreichischen Gebietskrankenkassen zu einer einzigen besteht aus Sicht der Länder die Gefahr, dass sie mit einer gemeinsamen Riesen-GKK einem einzigen – entsprechend mächtigen – Verhandlungspartner gegenüberstehen, der nur wenig Interesse haben könnte, auf bundeslandspezifische Anliegen einzugehen.

Zu Wort gemeldet haben sich der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner als Vorsitzender der Landeshauptleutekonferenz sowie die Spitalsreferenten von Kärnten, Salzburg und Tirol. Die Beibehaltung der neun Gebietskrankenkassen sei für die Länder eine rote Linie, grenzt sich der zur ÖVP gehörende Vorarlberger Landeshauptmann von der Kurz-ÖVP ab. Der steirische Gesundheitslandesrat Christopher Drexler hat nicht nur die steirische Gesundheitsreform in enger Kooperation mit der steirischen GKK erfolgreich in die Wege geleitet. Er ist auch Teil des türkisen Verhandlungsteams. Obwohl ihm klar sei, dass die Länder kompetente und entscheidungsfähige GKK-Ansprechpartner vor Ort brauchen, spricht sich Drexler gegen eigene Länderkassen aus. Zur Zusammenarbeit mit den Ländern würden auch teilautonome Einheiten innerhalb der GKK reichen. Seinen Kollegen in den Bundesländern richtete er aus, dass sie aufpassen sollen, dass die Länder nicht als Anwälte des Status quo oder als Hohepriester des Strukturkonservatismus wahrgenommen werden.

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Politicks, Fazit 138 (Dezember 2017)

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