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Tandl macht Schluss (Fazit 161x)

| 29. April 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 161x, Schlusspunkt

Die Lust an der Unfreiheit? Wer hofft, dass es nach mehreren Wochen im goldenen Coronakäfig nun ein Zurück zu unseren gewohnten Freiheiten gibt, dem droht eine große Enttäuschung. Denn die Regierung stellt uns jetzt eine »Neue Normalität« in Aussicht, die so lange andauern wird, bis ein wirksames Coronamedikament bzw. eine Impfung auf dem Markt ist. Die dringend erforderliche vollständige Aufhebung des Shutdowns ist daher nicht in Sicht. Und so werden Monate vergehen, bis wir uns wieder treffen dürfen, wo und mit wem wir wollen. Und auch unser beruflicher Alltag wird sich wegen der Abstandsgebote noch lange nicht normalisieren.

Der Begriff »Neue Normalität« ist daher nichts anderes als ein Euphemismus für einen autoritären Staat, der unsere Freiheit auf unbestimmte Zeit in einem Ausmaß einschränkt, das wir bis vor kurzem für unvorstellbar gehalten haben.Völlig unglaublich ist in diesem Zusammenhang, dass die Zustimmung zur Regierung gestiegen ist, je mehr Freiheiten uns genommen wurden.

Obwohl keine Rede mehr davon ist, dass die Coronaeinschränkungen bald gänzlich aufgehoben werden, geht die Mehrheit der Österreicher immer noch mit den Einschränkungen unserer Freiheit mit.
Sowohl Bundeskanzler Sebastian Kurz als auch Gesundheitsminister Rudolf Anschober, Vizekanzler Werner Kogler und sogar Innenminister Karl Nehammer erreichten Anfang April beim OGM-Vertrauensindex Rekordwerte. Die Menschen befänden sich in einer fast euphorisch anmutenden »Blood, Sweat and Tears«-Stimmung und rückten näher zusammen, analysierte OGM-Chef Wolfgang Bachmayr das Ergebnis seiner 800 Interviews. Inzwischen ist die Regierung immerhin dabei, den Shutdown stückweise zurückzufahren. Bis wann wir endlich wieder ins Kino, zu einem Fußballspiel oder auf ein Konzert gehen dürfen, ist trotzdem noch nicht absehbar. Dabei wurde uns vom Gesundheitsminister über Wochen suggeriert, dass alles gut wird, wenn die Reproduktionszahl des Virus endlich unter Eins sinkt. Ab dann würde die Zahl der Neuinfektionen sinken und nicht mehr exponentiell ansteigen.

Nun gut! Die Reproduktionszahl ist seit einigen Wochen kleiner als Eins. Aber über eine völlige Aufhebung des Shutdowns darf nicht einmal laut nachgedacht werden. Anstatt die Schäden für Gesellschaft und Wirtschaft zu minimieren, folgt nun die »Neue Normalität«. Natürlich sind die Zustimmungswerte zu Kurz und Co mit den schrecklichen Bildern aus der Lombardei und New York – die so nie ausgestrahlt werden hätten sollen – erklärbar. Dort waren die Intensivstationen dermaßen überlastet, dass ältere Menschen ohne Chance auf eine künstliche Beatmung sterben mussten. Die Zustimmung zu den Freiheitsbeschränkungen kann man aber nicht nur mit der medial geschürten Angst, sondern auch mit der Lust der Österreicher an einem gewissen Maß an Unfreiheit interpretieren.

Überall in der Welt und auch bei uns in Europa erleben autoritäre Strukturen eine längst überwunden geglaubte Renaissance. Im Zuge der Pandemiebekämpfung wurden uns die strengen Maßnahmen von China oder Singapur sogar als vorbildlich präsentiert.  

Je länger es dauert, bis unser Land in die »Alte Normalität« zurückkehrt, desto normaler erscheint uns die autoritäre »Neue Normalität«. Dabei kosten die Einschränkungen unsere Wirtschaft jede Woche Milliarden und die Steuerausfälle gefährden längst unser Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem. Hoffentlich lässt sich die Regierung bei ihren Freiheitsbeschränkungen in Zukunft nicht nur von Virologen, sondern auch von Public-Health-Experten und Ökonomen beraten. Und hoffentlich lässt sie sich bei der Beendigung der »Neuen Normalität« nicht von der Lust der Bevölkerung an ihrer neu gewonnenen Unfreiheit bremsen. Sollte sich herausstellen, dass die angeblich unvermeidliche zweite Infektionswelle tatsächlich schlimmer wird als die erste, kann man den Shutdown ja jederzeit wieder hochfahren – mittlerweile weiß man ja, wie das geht.

Die kontinentaleuropäische Gesellschaftsethik orientiert sich vor allem am Wohl des Individuums. Vielleicht sollte Europa einige utilitaristische Elemente der angloamerikanischen Gemeinwohlidee aufnehmen. Im Utilitarismus gelten Handlungen des Staates nämlich nur dann als moralisch gerechtfertigt, wenn sie den größtmöglichen Nutzen für die gesamte Gesellschaft zur Folge haben. Bezogen auf die Bekämpfung der Coronapandemie bedeutet das, dass nicht nur die Zahl der mit Covid-19 Gestorbenen über die Maßnahmen entscheidet, sondern auch die Opfer aufgrund von Arbeitslosigkeit, Rezession und Hoffnungslosigkeit. Die gesellschaftlichen Kosten der Seuchenbekämpfung dürfen nicht größer sein als ihr gesellschaftlicher Nutzen..

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Tandl macht Schluss! Fazit 161x (Mai 2020)

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