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Über die Kunst, Kunst zu machen – Fazitgespräch mit Veronica Kaup-Hasler

| 14. Juli 2011 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 74, Fazitgespräch

Gerade ist es Sommer geworden, aber im Grazer Palais Attems ist immer Herbst. steirischer herbst. Hier wird ein ganzes Jahr lang an einem der bedeutendsten europäischen Kunstfestivals gearbeitet, das zuletzt auch von der Europäischen Kommission zu den 18 wichtigsten Festivals gezählt wurde. Und das, obwohl viele den steirischen herbst schon abgeschrieben hatten. Erst fehlte das Geld, dann die Provokation. Und dann übernahm Veronica Kaup-Hasler die Intendanz.

Das Gespräch führte Michael Thurm.

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Frau Kaup-Hasler, 2006 haben Sie die Intendanz des steirischen herbst übernommen, der damals in einer tiefen finanziellen Krise war. 2011 scheint der ganze Kontinent in der Krise zu stecken. Wie reagiert der steirische herbst als Kulturfestival darauf?
Bisher waren wir da eher vorausschauend tätig. 2007 hatten wir das Motto „Strategien zur Unglücksvermeidung“, das war genau ein Jahr, bevor Lehmann Brothers pleite gegangen ist und in dessen Folge die große Krise hereinbrach. Das waren schon Momente, wo wir vorausahnend Themen aufgegriffen haben. Im Jahr darauf hatten wir die Frage nach Werten: Was gilt, wenn alles gleich und gültig ist?

… „all the same“ war da das Thema …
Woran können wir uns orientieren, wenn wir so viele Antworten haben, auf all die komplexen Probleme? Wir können ja nicht einfach verharren. Aber gleichzeitig werden viele Parameter obsolet, die uns vorher Halt gegeben haben.

Dieses Jahr steht unter dem Titel „Zweite Welten – second worlds“. Das klingt so, als bräuchten wir diese „zweite Welt“, weil die „erste Welt“, also die Welt, in der wir alle leben, nicht mehr zu gebrauchen ist.
Diese Welten gibt es parallel. Das fängt an bei transzendentalen Ereignissen, also gibt es eine Welt jenseits des Materiellen, ohne dass wir esoterisch sein wollen. Es geht darum, Welten zu zeigen, die wir nicht immer mit unseren Kategorien begreifen können. Aber es geht auch um Peripherien. Was spielt sich an den Rändern ab und welche Parallelgesellschaften existieren.

Ist die „second world“, mit der Sie sich heuer befassen, jene „Strategie zur Unglücksvermeidung“, die 2007 Thema des herbst war?
Also diese zweite Welt ist nicht der Exit. Diese These will ich nicht aufstellen. Es geht darum, analytisch festzustellen, dass es verschiedene parallele Systeme gibt, die einander beeinflussen. Und das bedeutet für uns, immer die eigene Perspektive zu überprüfen. Was wir aber nicht wollen, ist, eine These als einzige Antwort zu formulieren.

Aber viele finden ihren Ausweg inzwischen darin, sich ins Private zurückzuziehen.
Das ist sicher etwas, was sich in den letzten 20 Jahren vollzogen hat. Aber gerade in der Kunst ist man wieder politischer geworden.

2004, um noch ein drittes Motto zu nennen, stand der herbst unter dem Titel „Krise ist immer“. Warum ist der herbst so stark mit dem Thema Krise verknüpft?
Wir als Festival für zeitgenössische Kunst, na ja, das Wort Avantgarde nimmt man heute nicht mehr ernsthaft in den Mund, wir befassen uns mit herausragender, aktueller Kunst und dadurch stellen wir auch Positionen vor, die Tendenzen in unseren Lebenswelten aufzeigen. Und wenn man sich damit befasst, Entwicklungen sichtbar zu machen, kommt man an Krisen nicht vorbei. Die Künstler und Künstlerinnen bilden ja Welt ab, sie verhalten sich zur Welt.

Das sollen sie, aber tun sie es immer?
Selbst wenn es bei manchen einen Rückzug in die Abstraktion gibt, ein Beharren auf eine Kunst, die nicht immer vordergründig politisch ist. Auch wenn sie sich einer leichten Lesbarkeit entzieht, also antikonsumistisch ist, verhält sie sich zur Gesellschaft. Und wenn ich sehe, was die spannenden Positionen in der aktuellen Kunst sind, hat man immer eine genuin kritische Auseinandersetzung mit der Welt, die uns umgibt.

Was kann der Rückzug ins Abstrakte für eine Bedeutung, für die Gesellschaft haben?
Ich bin der Meinung, dass die sinnliche und ästhetische Erfahrung etwas unglaublich Wichtiges ist. Es geht ja nicht darum, etwas zu produzieren, was sofort in einem sozialen Kontext interpretiert werden kann. Das ist gut und richtig, das machen wir auch, aber gleichzeitig ist es wichtig, auf einen Autonomiecharakter der Kunst zu beharren, auf die Widerständigkeit, die Kunst an und für sich darstellt.

Ein Beispiel aus dem letzten herbst: Marino Formenti hat acht Tage lang im Stadtmuseum Klavier gespielt, in einem Raum, in dem er sich der Gesellschaft entzieht. Obwohl natürlich jeder zuhören konnte, aber er hat das eigentlich nur für sich gemacht.
Ja, aber Marino Formenti hätte in den acht Tagen auch Konzerte machen können, die alle mit Eintrittsgeldern und in einem traditionellen Konzertrahmen stattfinden. Aber diese unglaubliche Hingabe und Großzügigkeit von jemandem, Dinge zu tun, egal ob dabei jemand sitzt oder liegt und zuhört, sondern einfach um der Sache wegen, das ist eine ganz große Haltung in einer Zeit, die immer auf Auslastung, auf ökonomischen Parametern beruht. Das sehe ich auch als Mehrwert für eine Gesellschaft, dass sie Vorbilder, Perspektiven und Haltungen entdecken kann.

Lange Zeit hat der herbst diese Aufgabe mittels Provokation erfüllt. Mit Ihnen kam eine Wende, weil Sie meinten, „Provokation kann nicht Selbstzweck der Kunst sein“.
Möglich ist Provokation immer wieder. Wer will denn nicht provokant sein? Also im Wortsinn etwas herausrufen. Das können manchmal sehr radikale Positionen sein, wie heuer Rodrigo Garcia mit „Gólgota Picnic“, bei dem auch Marino Formenti wieder spielen wird. Da ist das Bühnenbild ein riesiger Berg von Hamburger Brötchen, ein Schlachtfeld der Konsumgesellschaft. Und da provozieren wir natürlich schon.

Weil viele sagen werden: „Warum wird so mit dem Essen umgegangen wird, obwohl viele Menschen hungern?“
Das ist natürlich eine sehr naive und vielleicht leicht bigotte Haltung, wenn man bedenkt, wie viele Tausend Tonnen an Nahrung täglich vernichtet werden. Wir machen ja damit etwas sichtbar, was um uns herum längst en masse passiert. Die Stadt Wien schmeißt täglich so viel Brot weg, wie in Graz konsumiert wird.

Inzwischen sind solche Missstände relativ bekannt, aber es regt niemanden mehr auf. Hat die Kunst ein Problem, wenn eine Gesellschaft gegenüber den Missständen, die Kunst sichtbar machen könnte, schon gleichgültig ist?
Ich denke da an den Film „We feed the world“ von Erwin Wagenhofer, der hat uns auch etwas gezeigt, was wir schon lange wussten. Aber das war ein sehr erfolgreicher Film, und ich glaube, es hängt davon ab, welche Form man findet, bestimmte Zustände, Abartigkeiten und Fehlentwicklungen sichtbar zu machen.

Der Film hat sicher Maßstäbe für Dokumentarfilme gesetzt, aber das Konsumverhalten hat er doch nicht merklich beeinflusst. Wirkungsvoll beeinflusst wurde der Konsum durch einen winzigen EHEC-Erreger.
Das ist in etwa so wie mit Al Gore, dem ehemaligen Vize-Präsident der USA. Andere Institutionen haben sich auch seit Jahren mit dem Klimawandel beschäftigt, aber diesen Hype um das Thema konnte nur Al Gore entwickeln, indem er sich mit seiner Bekanntheit um das Problem der Erderwärmung gekümmert hat. Und natürlich sind alle Aufklärer immer in der Position des Sisyphos, ob sie nun in der Kunst sind oder im Journalismus. Wenn man da nur im Rahmen der eigenen Effizienz denkt, kann man schnell sagen, ich lass es sein. Aber das wunderbar Utopische ist ja, dass es immer wieder Menschen gibt, die nicht müde werden, neue Fragen zu stellen. Inwiefern das dann zu einer sichtbaren Veränderung beiträgt – da bin ich sehr illusionslos.

Glauben Sie noch daran, dass sich eine Gesellschaft durch Kunst verändern lässt?
Wenn ich davon ausgehe, dass jeder von uns auch ein Teil dieser Welt ist, sage ich Ja. Beim steirischen herbst sind es hauptsächlich notorisch neugierige Menschen, für die da etwas erzählt wird. Aber ich glaube nicht an die große Geste. Ich bin überzeugt, dass die Kunst individuell Veränderungen und Öffnungen bewirken kann. Letztlich sind es ja auch Teile der Gesellschaft, die versuchen, den Radius und die Wirkung von Kunst auszuweiten. Da gibt es einen Funken Hoffnung, sonst würde ich nicht hier sitzen.

Matthias Beltz, selbst Künstler, hat einmal zynisch gesagt: Kunst lebt von der Einsicht, dass sich der Mensch nicht bessern lässt.
Natürlich laufen wir mit einer leichten Verbitterung durch die Welt. Das kann ja gar nicht anders sein. Wenn man sieht, welche Relevanz sich Politik selbst zuschreibt, wie am Abbau eines Demokratieglaubens gearbeitet wird …

… jetzt zeigt sich die Politikwissenschaftlerin in Ihnen. Wie lang haben Sie das studiert?
Ach, das waren nur vier Semester, vielleicht zwei davon, die ich intensiver studiert habe. Mich hat das wahnsinnig interessiert. Aber dann gab es zu Beginn eine maßlose Übertreibung der Statistik, und ich hab festgestellt, dass mich die Ursprünge unserer Kultur stärker interessieren und bin dann über die Ethnologie zur Germanistik und Theaterwissenschaft gewechselt.

Woher kommt dann Ihre starke Politisierung?
Einerseits sicher durch mein Elternhaus. Wir hatten ja viel mit dem Österreich der 70er Jahre zu tun, in dem ich groß geworden bin, und gleichzeitig lebte der Großteil meiner Familie in der DDR. Deshalb war Politik immer präsent und es gab immer ein kritisches Verhältnis zum Staat.

Ist die Mehrheit in Österreich zu wenig politisiert? Wir hatten ja bereits die Frage, worüber sich eine Gesellschaft noch aufregt.
Natürlich kann man beobachten, dass wir viel zu unterkomplex mit Informationen versorgt werden. Es gibt ein Informationsdefizit und es gibt ein breites Defizit im Umgang mit unterschiedlichen Antworten auf die Probleme der Zeit. Überall sind die Populisten im Vormarsch. Jeder, der eine einfache Antwort gibt, suggeriert ja, dass es eine einfache Lösung gibt. Politik und Kunst müssen aber immer wieder Strategien finden, die zu einem differenzierten Denken zu führen. Und ich glaube, dass wir mit dem steirischen herbst da viele Angebote machen.

Ist diese Differenziertheit, in der Sie sich versuchen und die ja auch Komplexität mit sich bringt, nicht auch ein Grund dafür, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für Kunst nachlässt?
Das würde ich so gar nicht sehen. Wir haben eine Besucherauslastung von über 98 Prozent, das ist doch hochgradig akzeptiert.

Das mag ein Indikator sein. Jetzt habe ich die Reaktionen auf die Auszeichnung des herbst durch die Europäische Kommission und die damit verbundene Förderung von 300.000 Eurobeobachtet, und da gab es einen einhelligen Tenor, dass dies Geldverschwendung sei. Auch sonst unterstelle ich eine steigende Zustimmung in der Gesellschaft, die Ausgaben für Kunst und Kultur zu kürzen. Können wir darüber sprechen, warum Kunst so teuer sein muss?
Negative Reaktionen auf die EU-Auszeichnung sind mir bis dato völlig unbekannt. Aber ich würde Ihrer Frage anders beantworten: Die Gesellschaft braucht geistige Nahrung. Es geht um eine andere Form der Bildung, um einen anderen Umgang mit Realität. Und der steirische herbst hat stets mit verknappten Mitteln bewiesen, dass wir das können. Im Jahr der Kulturhauptstadt 2003 waren wir bei 5,5 Millionen Euro aus öffentlicher Hand, danach waren es 4,5. Heuer haben wir ein Budget von 3,4 Millionen, und es ist für mich eher ein Wunder, wie der herbst seinen Auftrag trotzdem noch erfüllt. Und in dieser Auszeichnung durch die EU haben wir 100 von 100 Punkten erreicht mit dem Urteil: „There is not much room for improvement.“ Wir haben es also offensichtlich nicht schlecht gemacht. Wir sind nun einmal ein produzierendes Festival und sollen das auch sein. Und das heißt, dass wir möglichst vielen Menschen neue Arbeitsmöglichkeiten und Aufträge geben.

Diese Notwendigkeit ist sicher vielen einleuchtend, die daran teilnehmen. Aber warum erreicht das ganz offensichtlich nicht jene mit Mindestsicherung?
Das Soziale wird leider gegen die Kunst ausgespielt. Meinen Sie das? Das ist eine Rhetorik, die ist, mit Verlaub, dumm. Wenn Sie mich fragen, ob ich lieber ein zeitgenössisches Konzert erleben will oder eine notwendige Operation, ja was werde ich antworten? Aber das ist eine Rhetorik, der man sich wirklich verweigern muss, weil das die Rhetorik des Populismus ist.

Kann man sich ihr nur verweigern oder können wir dieses Paradox auflösen?
Die Gesellschaft braucht Bildung. Und Kunst hat auch einen Bildungsauftrag, der natürlich nicht immer didaktisch wie aus einem Lehrbuch ist. Klar, sonst ist die Kunst nicht gut. Aber wenn wir nicht in Bildung und damit auch in Kunst investieren, also in etwas, das nicht unmittelbar einen Profit bringt, werden wir generell wirtschaftlich absacken. Es gibt keinen Fortschritt, wenn wir nicht in diese Bereiche investieren.

Also nach Nietzsche: Es muss Überfluss da sein, um zu erkennen?
Absolut. Kunst ist ein Luxusgut, aber eines, das notwendig ist zur Demokratisierung und zur Entwicklung unserer Zivilgesellschaft. Und das war es immer, über alle Jahrhunderte.

Aber früher war es von Mäzenen finanziertes Vergnügen. Heute sind es Steuergelder.
Ja, aber ich zahle auch meine Steuern und unterstütze den Sport, der mir nicht in allen Bereichen notwendig erscheint. Wozu brauche ich etwa Gewichtheber oder Dressurreiten? Aber der Einzelne kann da nicht das Maß sein und deshalb würde ich nie der Bevölkerung anheimstellen, über Ausgaben zu entscheiden. Dafür hat man, bestenfalls professionelle, Politiker, die das gesamte gesellschaftliche Gefüge im Blick haben. Und dazu gehört auch ein Minderheitenprogramm, und Kunst ist ein solches. Sie war nie ein Massenphänomen. Aber wir müssen berücksichtigen, wie viel Neues hier geschaffen werden kann, mit sehr wenig Geld im Vergleich zu anderen großen Institutionen. Können wir nicht auch anfangen, stolz zu sein, dass dieser steirische herbst europaweit ausstrahlt und für ein bestimmtes Publikum, das ist richtig, Relevanz erzeugt?

Das Thema Geld, um noch kurz dabei zu bleiben, begleitet Sie seit Ihrem Beginn in Graz, als Sie den herbst verschuldet übernommen haben. In fast jedem Interview müssen Sie sich rechtfertigen und über Geld reden …
Ja, das ist schrecklich.

… liegt das an den Journalisten, oder was ist der Grund dafür?
Es liegt an der Situation, in der ich den herbst übernommen habe. Wir leben in einer Zeit, in der man darüber reden muss, wie Steuergeld verwendet wird. Mir ist das auch wichtig, dass wir zwei sehr gute Rechnungshofberichte haben, die uns attestieren, dass wir im sparsm agieren. Wir sind nun mal nicht mehr in den 80er Jahren, wo es bei einem vergleichbaren Erfolg des herbst selbstverständlich wäre, ein höheres Budget zu bekommen.

Haben Sie es als Anerkennung verstanden, dass Sie als einziger „Kulturtanker“ nicht von den Budgetkürzungen in der Steiermark betroffen sind?
Na ja, ich halte uns eher für ein Segelboot, das auch mit den Stürmen dieser Zeit umgehen kann. Und ich glaube, wir konnten die Politik überzeugen, dass wir bereits sparen. Wir haben ja trotzdem 210.000 Euro weniger als letztes Jahr aus öffentlicher Hand.

Als aufwendiges temporäres Festival hat der herbst trotzdem den Anspruch, über den Festivalmonat hinaus zu wirken. Wie kann das funktionieren?
Einerseits durch den Versuch, die Erst- und Uraufführungen weiter in Europa zu zeigen. Das funktioniert immer besser, weil inzwischen viele Gäste auch herkommen, um sich anzuschauen, was sie auf ihre jeweiligen Bühnen holen könnten. Das Nature Theater of Oklahoma ist da nur ein Beispiel. Die waren erst hier und wurden dann sofort vom Burgtheater und den Salzburger Festspielen entdeckt.

Was bleibt für die Stadt Graz?
Na ja, wir sind ein temporär und versuchen zum Beispiel durch das Festivalzentrum einen sozialen Raum zu schaffen, der auftaucht und nach einigen Wochen wieder verschwindet. Wir wechseln deshalb auch immer den Ort, versuchen aber, nachhaltig Spuren zu hinterlassen. Wir waren am Karmeliterplatz, im Orpheum, oder wenn Sie an das Forum Stadtpark denken, wie dort früher das Untergeschoß war, da ist mit unserem Umbau ein völlig neuer Raum entstanden, der auch weiter genutzt wird.

Über die Festivalzentrale vor dem Orpheum 2009 haben Sie gesagt: „Man wird immer daran denken, dass dort einmal etwas war.“ Mit Marino Formenti geht es mir ähnlich. Der hat letztes Jahr im Stadtmuseum die Wände mit den Stücken beschrieben, die er dort gespielt hat. Diesen Raum kann man kaum noch betrachten ohne daran zu denken, dass er dort gespielt hat. Nimmt eine solche eindrückliche Wirkung der Kunst nicht die Luft für das Neue, das Avantgardistische, was der herbst eigentlich will? Alles Neue, was dort stattfindet, wird doch nur von dem konterkariert, was vorher gewesen ist.
Das ist nett, dass Sie den Menschen ein so gutes Gedächtnis unterstellen. Und jene, die das so erfahren haben, werden diesen Raum immer mit Marion Formenti assoziieren. Aber ich habe ein tiefes Vertrauen in die Innovationskraft von Kunst, dass immer wieder neue Ereignisse möglich sind. Erinnerung ist ja kein Verdrängungsprozess, sondern es können bestimmte Dinge auch einmal parallel existieren. So oft kommt es ja gar nicht vor, dass man ein Erlebnis hat, das sich in die eigene Biografie einschreibt und etwas mit einem macht. Ich bin nun schon lange in der Kunst, und es wäre fatal, wenn man immer nur jungfräulich mit Kunst umgehen müsste.

Ich gebe Ihnen da recht, was die Erfahrung für den Einzelnen angeht. Aber was bedeutet es für die Kunst selbst, insbesondere für die avantgardistische Kunst, wenn sie etwas Bleibendes schafft und im Jahr darauf, so legt es der Produktionszyklus fest, muss noch etwas draufgesetzt werden. Man kann ja nicht noch einmal einen Klavierspieler ins Stadtmuseum setzen?
Das würde ich auch nicht tun. Formenti war so begeistert von dem Projekt, dass er es heuer gern die ganze Festivaldauer machen würde. Aber da müsste noch etwas anderes hinzukommen, damit er uns und sich nicht mit der eigenen Vergangenheit erschlägt. Sosehr ich davon überzeugt bin, dass er immer eine Präsenz erzeugen würde. Aber es muss einen neuen Schritt geben.

Lässt sich dieser Zwang, jedes Jahr etwas Neues zu machen, nicht mit dem „höher, schneller, weiter“ vergleichen, das in der Wirtschaft zu den Krisen geführt hat?
Darum geht es bei uns nicht. Ja, es muss immer neu sein, weil wir Menschen uns verändern. Technologien wie Facebook haben zum Beispiel eine Dynamik gebracht, mit der die Kunst gar nicht mithalten kann. Das verändert alles. Und wir versuchen mit dem herbst immer die bestmöglichen Bedingungen für Künstler zu schaffen, damit umzugehen und Neues zu entwickeln, was dann für das Publikum interessant sein kann. Es geht ja nicht um Produkte, sondern um Zugänge und Anregungen.

Und da hat sich doch etwas verändert. Hin zu einer Unmöglichkeit, innerhalb dieser Reizüberflutung noch anzuregen.
Das ist richtig. Als der herbst entstanden ist, gab es die Oper, das Schauspielhaus und das Forum Stadtpark. Jetzt jagt ein Ereignis das nächste. Deshalb müssen sich auch die Strategien verändern. Damals gab es einen Aufschrei, wenn einer auf der Bühne die Hose runter gelassen hat oder zwei nackig miteinander kopulieren. Heute finden wir all das en masse, wenn wir nur ein bisschen durchs Fernsehen klicken.

Die serbische Performancekünstlerin Marina Abramovic setzte sich letztes Jahr drei Monate lang auf einen Stuhl im New Yorker Museum of Modern Art und sie saß nur da. Ist das eine Richtung, in die sich die Kunst bewegt?
Absolut. Und das macht es so schwierig, weil der Begriff der Provokation immer mit Aktion belegt war. Christoph Schlingensief ist der Aktionist.

Er war es, leider …
… ja, irgendwo ist er schon noch da. Aber Christoph hat den Aktionismus neu definiert, obwohl der Begriff obsolet war. Er ist der Reizüberflutung mit noch mehr Chaos begegnet, mit allem Privaten, was er auf die Bühne gebracht hat. Das ist die eine Form. Die andere Tendenz ist der Rückzug: Abramovic schenkt, ähnlich wie Formenti, etwas, was in unserer Zeit ein Widerstand an sich geworden ist: Präsenz. Und zwar reine Präsenz. Das mag nicht viel sein, aber das regt sehr stark dazu an, darüber zu diskutieren, was ein Kunstwerk und ein Museum heute ist. Zu provozieren, indem man der Reizüberflutung etwas entgegenstellt, was man nicht in eineinhalb Stunden in die Tasche stecken kann. Das ist schon eine Tendenz.

Wäre die Konsequenz – und ich hoffe, Sie entschuldigen diesen plumpen Vorschlag –, dass ein ultimatives Festival darin besteht, dass der steirische herbst stattfindet, aber kein Programm hat? Er wird eröffnet, aber nichts geschieht. Also die Kunst besteht in der Abwesenheit.
Wir hatten ja letztes Jahr ein Projekt mit John Knight: Die Wegnahme der Fahnen in der Herrengasse. Was hat der gemacht? Wir alle, der herbst, die styriarte, die regionale, wir beflaggen immer die Herrengasse mit unseren Fahnen und Knight hat einfach eine Seite leer gelassen. Gegen alle ökonomischen Regeln. Es war ein harter Kampf, dass die auch leer bleiben und von niemand em besetzt werden. Hier lag die Kunst darin, etwas wegzunehmen, die Werbefläche nicht zu nutzen und diese Leere zu verteidigen. Das war eine großartige Arbeit, die mich auch selbst provoziert, weil wir uns ja eines Mittels berauben, mit dem wir Leute erreichen könnten. Und das Schöne an diesem Festival ist ja – deshalb will ich diesen letzten radikalen Schritt nicht gehen, außer wenn mir in dreißig Jahren nichts mehr einfällt –, dass junge Künstler immer wieder Ideen und Konzepte haben, dass sie in der Lage sind zu überraschen. Deshalb würde ich nie darauf verzichten, Geld aufzutreiben und für Kunst und Künstler auszugeben. Nur um eines kuratorischen Prinzips wegen, das letztlich bloß meine eigene Eitelkeit und Radikalität widerspiegeln würde.

Frau Kaup-Hasler, vielen Dank für das Gespräch.

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Fazitgespräch, Fazit 74 (Juli 2011)

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