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Das Gesicht im interkulturellen Kontext

| 27. März 2013 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 91, Managementserie

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Als ein global auftretendes und universell dem Menschen eigenes Charakteristikum gilt das Bestreben, das Gesicht zu wahren. WissenschafterInnen gehen noch einen Schritt weiter und sprechen von einem regelrechten Bedürfnis, das Gesicht und somit das Image, die „soziale Außenseite“, aufrechtzuhalten. Das erklärt womöglich einen Anteil an Irritation bei unseren Begegnungen miteinander, denn jede Begegnung stellt unser Gesicht auf die Probe. Als gelungene Interaktion gilt, wenn es beiden Seiten gelingt, das Gesicht zu wahren – das eigene, aber auch das des anderen. Unmittelbar damit verbunden sind Selbstachtung und die Achtung des anderen.

Verlust und Wiederherstellung
Dass uns eine optimale Interaktion im zwischenmenschlichen Bereich nicht immer gelingen will, zeigen die unterschiedlichsten Alltagssituationen, die weniger glücklich verlaufen. Konflikte werden mitunter von Gesichtsverlust begleitet, wir sorgen in kritischen Situationen dafür, dass unser Gegenüber alles andere als gut dasteht, und zuweilen entblößen wir die Person. Und diese reagiert auf den erlebten Gesichtsverlust mit einer Bandbreite an Strategien zur Wiederherstellung ihres Gesichts. Eine häufig eingesetzte Strategie ist, mit verbaler oder physischer Aggression zu reagieren, um das verlorene Gesicht wieder herzustellen. Die Methoden und Möglichkeiten reichen von Aggression bis zu Humor, dem Abschieben von Verantwortung durch beispielsweise Ausreden und Rechtfertigungen, bei denen der Schweregrad der Problemstellung heruntergespielt wird. Stella Ting-Toomey, Kommunikationswissenschafterin an der California State University, beschreibt in ihrer „Face Negotiation Theory“ drei Hauptkategorien von Gesichtsarbeit: Dominanz (z. B. durch Verteidigung und Aggression), Vermeidung (z. B. durch Nachgeben, Hilfesuche bei Dritten) und Integration (z. B. durch Entschuldigung, Kompromiss, Problemlösung und Gespräche unter vier Augen). Ein interessantes und faszinierendes Detail bei dem Einsatz dieser unterschiedlichen Strategien ist die Intention. Während dominante Strategien meist eingesetzt werden, um das eigene Gesicht zu wahren, erlauben vermeidende und integrierende Strategien die Berücksichtigung des anderen und seiner Gesichtsbedürfnisse. Mit anderen Worten: Wer aggressiv reagiert, schützt sich selbst, wer vermeidend oder integrierend reagiert, schützt den Anderen und/oder die gesamte Interaktion.

Das Gesicht im interkulturellen Kontext
Geraten wir im Alltag bereits öfter als gewollt in Situationen, in denen es gilt, Gesichtsarbeit zu leisten, gewinnt die „Image-Politur“ bei interkulturellen Begegnungen an zusätzlicher Komplexität. Laut Rothman ist der kulturell bedingt unterschiedliche Zugang zur Gesichtsarbeit oft Ursprung interkultureller Konflikte. Es scheint wenig verwunderlich, dass „das Gesicht“ in vertiefenden interkulturellen Studien ein gängiges Thema ist, denn zum einen wird davon ausgegangen, dass Gesichtsarbeit in allen Kulturen geleistet wird, somit ein übergreifend beobachtbares Phänomen ist. Zum anderen variieren Verständnis, Zugänge und vor allem die Wertesysteme, die wiederum die Thematik vielschichtiger machen.
Unsere sogenannte westliche Welt gilt aufgrund ihrer Wertesysteme im Allgemeinen als individualistisch orientiert. Der niederländische Psychologe Geert Hofstede definiert Individualismus als die Haltung, die Beziehung des Individuums zum Kollektiv und stellt Individualismus dem Kollektivismus gegenüber. In individualistisch orientierten Kulturen hat das Ich Vorrang vor dem Wir – sämtliche Implikationen eingeschlossen: Aufgaben gehen vor Beziehungen, Arbeitsverhältnisse sind ein Vertrag und werden nach Anreiz und Beiträgen bewertet, Kommunikation erfolgt explizit, somit sind Meinungsäußerungen offen und direkt. Kollektivismus bildet das Gegenstück dazu: Beziehungen gehen vor Aufgaben, Arbeitsverhältnisse entsprechen einer familiären Bindung, Kommunikation erfolgt implizit, somit liest man zwischen den Zeilen und Meinungsäußerungen sind weniger offen, da sie sonst nicht dem Harmoniestreben entsprechen würden. Der Stellenwert von Harmonie und Gruppenorientierung erklärt mitunter auf plausible Art, warum wir zum Teil so konträre Auffassungen von Gesichtsarbeit haben. Studienergebnisse sprechen dafür, dass Menschen, die individualistisch geprägt sind, mehr Wert auf das eigene Gesicht legen und dominante Strategien zur Wiederherstellung eines verlorenen Gesichts anwenden, während kollektivistisch geprägte Menschen mehr Sorge um das Gesicht des anderen haben und daher auf vermeidende oder integrierende Strategien zurückgreifen.

Gesicht und Harmonie
Aus dem Blickwinkel des individualistischen Wertesystems fällt es nicht allen leicht, die Bedeutung von Harmonie und die Folgen für das Miteinander zu verstehen. Sind wir darauf getrimmt, Durchsetzungsfähigkeit zu zeigen, koste es was es wolle, Dinge stets beim Namen zu nennen, bei jeder Gelegenheit eine Bühne für uns zu schaffen, auf der wir unsere Einzelleistungen präsentieren, uns von den anderen abzuheben, durch unsere Leistungen, aber auch durch Mundraub und das Schmücken mit fremden Federn, um letzten Endes durch Erfolg belohnt zu werden, so scheint es unverständlich, dass nicht alle Menschen das Bedürfnis haben, im Mittelpunkt – abseits von anderen – zu stehen. Aufgrund unseres Hintergrundes ist oft Mitleid zu hören, wenn davon erzählt wird, wie in anderen Kulturen, wie beispielsweise China oder Korea, stärker Gruppen, weniger Individuen zu sehen sind. Das Mitleid ist, hört man genauer hin, Unverständnis. Denn was wir oft übersehen, sind die Kosten für den Ich-Fokus. Und: Identifizieren wir uns wirklich mit einer Gruppe, fühlen wir uns als echter Bestandteil dieser Gruppe, so empfinden wir auch Gruppenerfolg als belohnend, nicht nur unseren einzelnen, individuellen Erfolg. Der Stellenwert des Harmoniebedürfnisses ist in vielen asiatischen Ländern zum Teil religiös und historisch gewachsen und nach wie vor Teil des Alltagslebens, heute Beobachtetes geht auf den Buddhismus und Konfuzius’ Lehren zurück. Letzterer betrachtete Harmonie als Basis, aber auch als Ziel. Seine Lehren wirken auf Beziehungen, familiärer wie geschäftlicher Art und sorgen dafür, dass sich das theoretische Konfliktpotenzial im Miteinander nicht bei jeder Gelegenheit entfaltet. Das klingt nach einem Win-win-Ideal, denn wir haben alle ein Gesicht zu verlieren.

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Über die Autorin
Mag. Maryam Laura Moazedi ist Universitätslektorin am Institut für Wirtschaftspädagogik der Grazer Karl-Franzens-Universität und Lehrbeauftragte an der FH Campus02. Ihr Arbeits- und Interessensschwerpunkt ist Diversity Management.

Fazit 91 (April 2013) © Illustration: Paperwalker

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