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Softies, Weicheier und wir Primaten

| 27. Oktober 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 137, Fazitgespräch

Foto: Marija Kanizaj

Bestsellerautorin Birgit Kelle über Zwangsheteronormativität, das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten, die Kommunikationsgrenze zwischen kinderlosen Frauen und Müttern sowie Managertypen mit fetten Autos.

Das Gespräch führten Christian Klepej und Volker Schögler.
Fotos von Marija Kanizaj.

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Die deutsche Journalistin und Bestsellerautorin Birgit Kelle gilt für die einen als rabiate Wutmutti, ist als erzkonservative »Biologistin« verschrien, ist Feindbild der Vertreterinnen des fundamentalen Feminismus. Für die anderen ist sie Fürsprecherin, Anwältin, gar Retterin der Mütter und des Abendlandes. Und das Vollweib schlechthin.

Mit scharfer Zunge und messerscharfem Verstand formuliert sie journalistisch überspitzt ihre Meinung: »Früher legten wir Karrieren auf Eis, um Kinder zu bekommen. Heute sollen wir unsere Eizellen auf Eis legen, um Karriere zu machen.«

Eines ist sicher: Birgit Kelle polarisiert. Davon konnten wir uns kürzlich im Grazer Augartenhotel überzeugen.

***

Frau Kelle, was erwarten Sie sich als CDU-Mitglied und »Muttertier«, wie Sie sich in Ihrem neuen Buch selbst nennen, von der neuen Regierung in Deutschland von der Familienpolitik?
Ehrlich gesagt erwarte ich gar nichts. Die CDU hat ja ihre eigene Familienpolitik schon lange aufgegeben. Die vormalige CDU-Familienministerin Von der Leyen hatte schon auf den SPD-Kurs umgeschwenkt und dann hat man in der großen Koalition das Ministerium an die SPD abgegeben. Mit einer möglichen Jamaika-Koalition sehe ich nur noch Schlimmeres auf uns zukommen. Ich weiß, dass die CDU das Familienministerium gar nicht anstrebt, das ist etwas, was sie zum Verschachern als Verhandlungsmasse haben. Im Worst Case bekommen also die Grünen das Familienministerium und dann machen wir nur noch Genderpolitik in Deutschland.

Was meinen Sie damit?
Gender hat nichts mit Frauenpolitik zu tun. Viele waren ja bislang der Meinung, dass Gender nur der international gängige Begriff dafür sei, was wir Gleichstellungspolitik nennen – Emanzipation der Frau, Gleichberechtigung und so weiter. Und so haben das viele mitgetragen, weil sie guten Glaubens waren, das ist doch die bewährte Frauenpolitik und wir sind doch alle für  Gleichberechtigung. Tatsächlich geht es heute dabei nur noch um das Thema Vielfalt verschiedenster sexueller Orientierungen und Identitäten. Wenn wir heute über Gender sprechen,  dann reden wir über Unisextoiletten, über die Homoehe, über Leihmutterschaft und das Adoptionsrecht für Homosexuelle und selbst sprachlich sollen jetzt nicht nur die Frauen sichtbar gemacht werden, sondern mit allerlei Gendersternchen alle der neu erfundenen »Geschlechter«. Das bringt viele, auch Politiker, endlich zum Aufwachen, die bisher gedacht haben, das sei bloß das harmlose Frauen- und Gedönsressort.

Haben Sie diese Erfahrung gemacht?
Ja, absolut. Ich erlebe eine ganz neue Aufmerksamkeit. Politiker wollen das Thema erklärt haben, laden mich ein, vor allem aus der CDU und CSU, aber auch die Kirchen. Bei der katholischen Kirche bricht das Genderthema jetzt plötzlich auf, während die evangelische Kirche schon seit langem nur noch gendert bis zum Erbrechen. Die evangelische Kirche ist verloren, mit der braucht man nicht mehr zu diskutieren, die erledigt sich von selbst. Wie sich auch der ganze Genderschwachsinn von selber erledigen wird. Die Frage ist nur, passiert es von selber, dass die so überdrehen, dass es automatisch zusammenbricht oder müssen wir noch ein bisschen nachhelfen.

Sie denken also, dass Gender-Mainstreaming auslaufen wird?
Ich bin zuversichtlich, weil die Aufmerksamkeit auf das Thema endlich da ist. Diese Strukturen und  Budgets wurden ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit systematisch aufgebaut. Das heißt: Plötzlich waren diese Genderprofessuren da und jetzt sind alle erschrocken. Wie konnte das passieren, wer hat das genehmigt, wer hat die Gelder  freigegeben? Man hätte es wissen können, nicht nur ich, auch andere reden seit Jahren davon, was auf uns zukommt. Nun sind sie da, das kann man erst mal nicht verhindern, hat aber auch Vorteile. Denn damit treten die natürlich aus dem Schatten in das Licht und  müssen damit rechnen, dass man sich mit ihnen befasst. Genau in dieser Phase sind wir jetzt gerade. Wir haben die ersten Studentenverbände bei uns in Deutschland, wie den RCDS (Ring Christlich-Demokratischer Studenten, CDU-nah), der sagt, Schluss damit an den Universitäten, weil das kein Deutsch ist, und wir als Studenten nicht gezwungen werden wollen, unsere Arbeiten gendern zu müssen. Das ist neu. Es hat lange gebraucht, bis die begriffen haben, dass man gerade an den Universitäten dagegen arbeiten muss. Wir fangen jetzt an mit der Reaktion, aber es war erst möglich, als die anderen sich offen zeigten.

Foto: Marija Kanizaj

Sie meinten in einer Diskussion einmal, dass die »linksverdrehte Feministinnen-Gender-Diskriminierungs-Toleranzdiskussion« dazu diene, die Identität der Menschen zu zerstören und die Gesellschaft zu destabilisieren. Woran machen Sie eine derartige Bedrohung fest?
Es ist kein Zufall, dass die Genderlobby in zwei Bereiche zuerst einbrach: In die Sprache und die Pädagogik. Sprache, um uns an der freien Rede zu hindern. In die Pädagogik, wie diese Leute sagen, wir müssen im Prinzip das Selbstverständnis der Kinder dekonstruieren und alles, was sie für normal halten, zunächst einmal zerstören. Aus deren Perspektive sind selbst Dinge wie die Zweigeschlechtlichkeit aus Mann und Frau und unser Sexualtrieb mit seiner Heterosexualität als statistische Normen, Dinge, die im natürlichen, freien Zustand des Menschen angeblich nicht existierten. Es gäbe tatsächlich nur eine bunte Vielfalt, die aber im Moment erstickt wird von der sogenannten »Zwangsheteronormativität«, in der wir alle bloß glauben, normal zu sein, weil unsere Kultur und die Gesellschaft uns das seit Jahren eintrichtert und wir das also bloß unreflektiert reproduzieren. Das heißt, es ist deren Konzept, unsere Normalität zu zerstören.

Wo verorten Sie die Urheberschaft dieses Konzepts?
Man muss sich anschauen, wer in diesem Feld agiert. Dann erkennt man auch, dass Gender eben nichts mit Frauenpolitik zu tun hat und der ganz normalen Frau nichts nutzt. Die Hauptakteure sind im Wesentlichen Menschen, die sich selber nicht im heterosexuellen Spektrum ansiedeln würden, wie auch immer sie sich anders definieren. Welches Geschlecht jemand hat, ist ja inzwischen eine Frage der Eigendefinition geworden. Diese sechzig verschiedenen Geschlechterdefinitionen von Facebook sind, wie Facebook selber sagt, mit Schwulen-, Lesben- und Transverbänden erarbeitet worden. Sie haben allerdings durchaus auch willige Helfer aus dem heterosexuellen Bereich. Zum einen die Naiven, die immer noch glauben, sie arbeiten an dem großen Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau, zum anderen diejenigen, die sagen, wir brauchen mehr Toleranz im Land. Wir haben viele, die einfach naiv mitmachen, weil sie die Tragweite dieser irren Ideen nicht verstehen. Die denken, es geht nur um ein tolerantes Miteinander, deswegen muss man an den Schulen den Kindern klar machen, dass schwul kein Schimpfwort ist und so weiter. Da wären wir ja alle d‘accord, da hat doch kein Mensch was dagegen. Aber es geht eben um viel mehr.

Sie sehen das nicht als Schutz von Minderheiten?
Doch, ich sehe das so, die sehen das selbst aber anders. Früher kämpfte diese Bewegung um Rechte für Minderheiten, heute bemerkt man einen Paradigmenwechsel in deren Strategie. Alleine die Behauptung, es gäbe so etwas wie eine Mehrheit und daneben Minderheiten, gilt ja neuerdings schon als diskriminierender Akt. Das wir uns als Mehrheit definieren, ist aus dieser Perspektive also schon ein Affront, nahezu eine Aggression der Minderheit gegenüber. Dieselben Lobbygruppen, die früher für Minderheitenrechte stritten, kämpfen heute dafür, dass es gar keine Mehrheitsgesellschaft mehr gibt, damit auch keine Mehrheitsnormen mehr. Man will uns sagen: Wir sind bloß alle Teil einer bunten Vielfalt und ihr seid gar keine Mehrheit. Ihr seid nur verkappte Irgendwas-Sexuelle, die glauben, heterosexuell zu sein. Deswegen müssen wir aus deren Sicht ja noch alle ganz doll befreit werden und zum Schluss gibt es keine Mehrheiten und Minderheiten mehr, sondern eine bunte Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander und wir marschieren alle Richtung Regenbogen. Man will die Auflösung der Gegenüberstellung von Mehrheiten und Minderheiten. Das ist das Ziel. Zu bekämpfen, dass die Mehrheit überhaupt noch sagen darf, dass sie eine Mehrheit ist, weil ihre reine Existenz bereits als Aggression verstanden wird.

Meinen Sie, es geht um einen Befreiungskampf gegen den Willen derer, die da befreit werden sollen?
Na sicher, oder hatten Sie um Ihre Befreiung gebeten? Ich jedenfalls nicht. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben und mein Leben als Frau und Mutter leben. Stattdessen wird alles problematisiert. Typisch weibliches Verhalten ist problematisch, typisch männliches ebenfalls. Typisch weibliches Verhalten wird nur dann gutgeheißen, wenn es von Männern ausgeübt wird, und männliches Verhalten wird dann gut, wenn Frauen es an den Tag legen. Damit ist dann die Genderwelt in Ordnung. Bei einer Frau, die sich kämpferisch und aggressiv gibt, sagt man wow, taffes Weib, die setzt sich durch, nicht so ein Weibchen. Und einen Mann, der seine Tränen zeigen kann, haben wir alle sehr gern, weil er dann seine weibliche Seite zeigt. Während der heterosexuelle weiße Mann mit seinem stoischen Unveränderbarkeitswillen an allem Schuld hat.

Das erinnert mich an die Alternativwelle in den Neunzehnsiebziger und -achtzigerjahren, als Mann begonnen hat, das Baby zu wickeln und seinen Pullover selbst zu stricken. Das waren dann die Softies. Was ist aus denen geworden?
Die sind jetzt modern. Früher galten Softies als Weicheier.

Damals war das schon modern, aber es war eine Minderheit. Muss man sich im Rückblick vielleicht fragen, ob auf Dauer damit der impotente Mann herangezogen wird?
Ich stelle einfach nur mal nüchtern fest, dass in der Regel der Mann, der immer weiblicher wird, für die Frau jedenfalls nicht mehr attraktiv ist. So wie bei Männern, die immer sagen, sie legen Wert auf die inneren Werte einer Frau und dann doch ganz gerne einen Ausschnitt zum Gucken haben, genauso ist es bei Frauen auch. Wir behaupten zwar, dass wir gerne den Philosophen wollen, mit dem wir uns so wunderbar unterhalten können, am Schluss nehmen wir aber doch lieber den Managertypen mit dem fetten Auto. Dabei läuft auch ein biologisches Schema ab. Das, was gesagt wird, widerspricht bei Frauen wie Männern dem Verhalten. Beim Paarungsverhalten sind wir immer noch Primaten. Frauen heiraten immer noch nach oben, und Männer nach unten. Im tatsächlichen Verhalten laufen offensichtlich uralte Schemata ab, die auch die Frau immer noch im Hinterkopf hat: Ich bekomme irgendwann Kinder, ich muss versorgt sein, ich brauche einen Mann, der mich beschützen und versorgen kann. Jemand, der das nicht signalisieren kann, ist auf dem Paarungsmarkt nicht wirklich attraktiv.

Ist es nicht das Verdienst von Feminismus und Emanzipation, dass sich die Abhängigkeit der Frauen voriger Generationen von ihren Ehemännern zugunsten der Frauen geändert hat?
Durchaus, aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, wie wirkt sich das zum Beispiel auf unsere Beziehungen aus? Wie stabil sind Beziehungen, in denen Frauen genauso viel verdienen wie ihre Männer oder mehr? Und da stellen wir fest, dass wir mit dieser veränderten Situation überhaupt noch nicht zurechtkommen. Weder die Frauen, noch die Männer. Denn je erfolgreicher eine Frau ist, umso schwieriger hat sie es, einen adäquaten Partner zu finden. Und dass auch die Männer damit nicht zurechtkommen, wenn Frauen ihnen ebenbürtig sind oder in der Hackordnung sogar über ihnen stehen. Verbal sind wir da viel weiter, wenn behauptet wird, dass Mann wie Frau auf Augenhöhe zueinander stehen möchten. Wir wollen nach wie vor zu den Männern aufschauen, sie sollen aber nicht auf uns herabblicken. Das grenzt an die Quadratur des Kreises. Es gibt zunehmend Frauen, die leider keinen Partner finden, weil es gar nicht so viele Männer gibt, die Interesse an erfolgreichen Frauen haben. Und weil auch erfolgreiche Frauen sich immer noch nach oben orientieren wollen. Wenn ich eine erfolgreiche Frau bin, dann heirate ich schon gar nicht nach unten. Dann wird der Heiratsmarkt plötzlich eng. Wir sind einerseits dabei, Geschlechterrollen aufzubrechen, das ist in gewisser Weise auch gut, weil es Strukturen gab, die Frauen eingeengt haben. Aber jede Medaille hat auch eine Kehrseite. Nach einer Trennung sind wir als Frauen oft alleine auf uns gestellt, alleine mit den Kindern und die Männer fühlen sich nicht mehr verantwortlich. So nach dem Motto »ihr wollt Gleichberechtigung, na dann mal los«. Ich stelle fest, dass viele Frauen das so eigentlich gar nicht wollen, sondern viele mit den traditionellen Rollen durchaus zufrieden sind.

Sie sagen das so sicher, gibt es dafür auch valides Zahlenmaterial?
Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Thema, es gibt auch international einiges an wissenschaftlichen Erhebungen zur Veränderung oder auch dem Unwillen dazu. Bei Ihnen in Österreich zum Beispiel hatte ihre eigene Regierung vor einigen Jahren eine Studie veröffentlicht, wonach über 50 Prozent der jungen Frauen kein Problem damit hätte, als Hausfrau zu leben, wenn der Mann genug verdient.  Von wegen: Die Frau sucht Unabhängigkeit. Die Feministinnen in Österreich waren damals kurz vor dem Herzstillstand.  Und auch im Fernsehen gab es schon Dokus über erfolgreiche Frauen auf Partnersuche. Das war, glaube ich, »Hautnah« im ZDF, schön gemacht, aber ich fand es unglaublich traurig, über erfolgreiche Frauen, die einsam bleiben. Rein statistisch sehen wir zudem einen Wandel der Familienformen, also immer mehr Singlehaushalte, immer mehr Scheidungen und die dramatisch und stetig ansteigende Zahl der alleinerziehenden Frauen, wonach wir tatsächlich inzwischen zwanzig Prozent Alleinerziehende haben.

Wie sehen Sie als vierfache, verheiratete Mutter die Chancengleichheit für Frauen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und was halten Sie von Frauenquoten?
Die Frauenquotendebatte wird nicht ehrlich geführt. Wir wollen über Frauenquoten mehr Frauen in Führungspositionen haben, die möchten aber auch gerne noch Zeit für ihre Kinder haben und eine Work-Life-Balance und »Führen in Teilzeit«. Was wir ignorieren: Wenn du eine Führungsposition haben willst, dann müsstest du genau so viel leisten wie ein Mann. In Managerposition machen die jedenfalls alle ihre Siebzigstun­den­wo­che. Das ist der Preis für Erfolg: dass du keine Familie hast, dass du über kurz oder lang geschieden bist und dass du dann die Kinder nicht mehr siehst. Das ist bei vielen Managern so. Die haben ihre Frau zuhause, sehen sie und ihre Kinder nur am Wochenende. Mir sagte einmal eine dieser Ehefrauen, die nach dem vierten Umzug wegen dem Job des Mannes streikte: »Eigentlich ist ja egal, wo wir wohnen, und ob er abends nicht zu Hause ist«. In dem Moment, wo Frauen Mütter werden, ändert sich das Denken massiv. Da wir es in der politischen Debatte aber in der Regel mit kinderlosen Feministinnen zu tun haben, habe ich auch festgestellt, dass zwischen kinderlosen Frauen und Müttern eine Kommunikationsgrenze herrscht, und wir uns nur bis zu einem gewissen Punkt gegenseitig verstehen. Ich habe es selber erlebt, wie mich mein Muttersein gänzlich verändert hat. Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt, das war kein langwieriger Prozess. Mit der Hormonumstellung wirst du zum Muttertier. Das Buch »Muttertier« ist das Fazit von hunderten von Briefen, von Gesprächen mit Frauen, mit Müttern aus den letzten zehn Jahren. Diese Sorge um unsere Kinder, dass wir plötzlich andere Prioritäten haben, das kennt man nur, wenn man selber Mutter oder auch Vater ist und da hört dann das Verständnis von kinderlosen Frauen oft auf.

Foto: Marija Kanizaj

Kinderlosigkeit als Vorwurf?
Das ist kein Vorwurf. Aber es ist anmaßend, mir trotzdem mein Leben erklären zu wollen, obwohl sie davon schlicht keine Ahnung haben. Mich bringt in Rage, wenn ich mit Frauen zu tun habe, die glauben, sie wüssten besser, was für mich als Mutter gut ist, die mich ständig aus meinem Leben retten wollen, anstatt endlich daran zu arbeiten, dass ich ein abgesichertes Leben als Mutter führen kann.

Ist das nicht eine pessimistische Sicht der Dinge, wenn Sie sagen, als Mutter werde ich nie Vorstandsvorsitzende eines großen Konzerns sein können?
Sie sollten in Erwägung ziehen, dass Mütter vielleicht gar nicht in den Vorstand wollen. Jedenfalls nicht, solange die Kinder klein sind. Diese Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehe ich nur hintereinander und nicht gleichzeitig. Das Problem ist: Wir arbeiten politisch im Moment an einer Gleichzeitigkeit. Vereinbarkeit von Familie und Beruf besteht faktisch darin, dass wir immer mehr Kita-Plätze bauen und die Kinder immer früher hinbringen, immer länger dort lassen und immer mehr arbeiten gehen. Wo ist da die Vereinbarkeit? Also für mich ist das pures Auslagern von Kindern. Eine Zerstörung von Familie. Bestenfalls ein Addieren von Familie und Beruf und eine chronische Erschöpfung und Überbelastung mit Ansage. Echte Vereinbarkeit ist nur dann denkbar, wenn man auch die Bedürfnisse von Kindern ernst nimmt und auch das Bedürfnis der Eltern, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, nicht nur der Kinder, Zeit mit ihren Eltern zu verbringen.

Haben Sie da eine bestimmte Vorstellung oder Forderung?
Ja, es müsste eine echte Wahlfreiheit geben, von der wir so viel reden, die man uns aber nicht gibt. Wenn der Staat nicht nur sagt, wir finanzieren einen Betreuungsplatz, damit du berufstätig sein kannst – das, was wir heute unter Wahlfreiheit verstehen – sondern, wenn der Staat genauso sagen würde: Dieses Geld, das wir für einen Betreuungsplatz ausgeben würden, könnten wir auch dir geben, damit du es selber machen kannst oder du davon eine Tagesmutter bezahlst oder ein Au-Pair-Mädchen oder was auch immer. Das wäre eine echte Wahlfreiheit, weil man dann auch ein Budget hat. Wir üben uns stattdessen in einer Friss-oder-stirb-Mentalität: Nimm den Krippenplatz oder schau, wo du bleibst. Das ist nicht Wahlfreiheit, sondern Zynismus.

Frau Kelle, vielen Dank für das Gespräch!

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Birgit Kelle wurde 1975 in Siebenbürgen/Rumänien geboren und ist Journalistin, Publizistin, Vorsitzende des Vereins »Frau 2000plus« sowie Vorstandsmitglied des EU-Dachverbandes »New Women For Europe«. Die Mutter von vier Kindern ist mit dem Publizisten Klaus Kelle verheiratet. Sie ist Autorin der Bestseller »Dann mach doch die Bluse zu« und »GenderGaga«. Neu erschienen ist gerade »Muttertier. Eine Ansage«. Kelle schreibt für zahlreiche Print- und Onlinemedien, u.a. für »Focus« und »Die Welt«. Sie ist CDU-Mitglied und von der evangelischen zur katholischen Kirche konvertiert. birgit-kelle.de

Fazitgespräch, Fazit 137 (November 2017), Fotos: Marija Kanizaj

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