Menschen sonder Zahl. Das Kreuz mit der Demografie
Michael Thurm | 14. Juli 2011 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 74, Fazitthema
Die Zukunft dieses Landes entscheidet sich in seinen Betten. Denn nur dort entstehen Kinder. Nun mag man einwenden, dass Autorücksitze, Waldlichtungen und die künstliche Befruchtung inzwischen gangbare Alternativen sind, aber die Masse, und die ist in diesem Fall entscheidend, macht’s im Bett. Die Masse, das sind wir alle. Junge und Alte. Bummelstudenten, Frührentner und Workaholics. Topverdiener, Bezieher von Mindestsicherung und der berühmte kleine Mann von nebenan. Die ganze Gesellschaft, der ganze Staat. Und eine Gesellschaft bleibt bestehen, wenn jede Frau dieser Gesellschaft in ihrem Leben zwei Kinder auf die Welt bringt.
Ganz so einfach ist es leider nicht, denn zum Fortbestand einer Gesellschaft braucht es noch eine ganze mehr, als eine mathematisch exakte Fertilitätsrate (durchschnittliche Anzahl von Kindern pro Frau), aber um den Bogen von der individuellen Elternschaft zum großen Themenkomplex der Demografie zu spannen, müssen wir an einige Stellen auf das letzte Quentchen Genauigkeit verzichten. Zum Beispiel darauf, dass genau genommen 2,1 Kinder pro Frau geboren werden müssten, durchschnittlich.
Doch schon seit 1973 liegt die Geburtenrate pro Österreicherin unter zwei Kindern. Im vergangenen Jahr lag die Fertilität nur noch bei 1,39. Das ist eine kleine Zahl, die aber ein großes Problem darstellt. Denn wenn weniger Kinder auf die Welt kommen steigt dadurch das Durchschnittsalter, ebenso der Anteil an Pensionisten in der Bevölkerung und noch langfristiger wird die Gesamtbevölkerungszahl zu sinken beginnen. Ohne Zuwanderung nach Österreich würde die Einwohnerzahl bereits jetzt zurückgehen, aber dank der Migration verschiebt sich dieser Wendepunkt immer weiter nach hinten. Im Jahr 2002 prognostizierte die Statistik Austria den Wendepunkt vom Bevölkerungswachstum zu einem Schrumpfen, noch auf das Jahr 2028. Inzwischen geht die Statistikbehörde davon aus, dass es noch mindestens bis 2050 ein Wachstum gibt und Österreich noch die Neun-Millionen-Grenze überschreiten wird, die Einwohnerzahl erstmals schrumpfen wird.
Nun muss man nicht gleich Untergangsprognosen à la „Österreich stirbt aus“ aufstellen, aber schon jetzt werden die Folgen der sinkenden Geburtenentwicklung immer deutlicher. In diesem Artikel wollen wir uns mit den rationalen und irrationalen Gründen für die niedrige Zahl an Neugeborenen befassen, mit den nackten Fakten, an denen sich die Folgen messen lassen, und mit den Problemen, die das schon jetzt für jene Generation mit sich bringt, die aufs Kinderkriegen verzichtet hat. Folgen wir dabei dem Lebenszyklus.
»Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.« – Rätsel der Sphinx
So leicht das Rätsel zu lösen ist, so schwer sind die darin angesprochenen Probleme zu lösen. Denn der Lebenszyklus hat, wiederum vereinfacht betrachtet, zwei wesentliche Merkmale: Man braucht am Anfang Hilfe (um vom brabbelnden Baby zum Erwachsen zu werden) und man braucht sie zum Ende hin (Altenpflege).
Der Mensch auf vier Beinen
Es ist ein löblicher Vorschlag, den die Grazer Gemeinderätin Sissi Potzinger zuletzt eingebracht hat: Es möge verboten werden, dass Kindergeschrei als Ruhestörung klagbar ist. Genau dies ist die Richtung, in die eine Politik gehen sollte, die Eltern das Leben leichter machen will. Denn bisher besteht österreichische Familienpolitik hauptsächlich aus finanziellen Leistungen: Die Zahlungen für Kinder-, Jugend- und Familienförderung liegen 50 Prozent über dem Durchschnitt der OECD-Länder (OECD: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Doch bis jetzt konnte die finanzielle Unterstützung von Eltern nicht dazu beitragen, dass die Geburtenrate wieder steigt. Ein Kritikpunkt der OECD und möglicher Grund dafür ist, dass 40 Prozent der Gelder direkt an die Eltern gezahlt werden. In Dänemark und Schweden, so deprimierend das ständige Vorhalten skandinavischer Vorbilder sein mag, sind dies gerade einmal 20 Prozent. Der Rest fließt unter anderem in Kindergärten, die auch eine Betreuung für unter 3-Jährige anbieten, um so eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen.
Und das scheint noch immer ein Kernproblem der Familienpolitik zu sein. Über 42 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter entscheiden sich gegen eigenen Nachwuchs. Bei den Akademikerinnen sind es fast die Hälfte. Laut Familienbericht sind die Gründe dafür Selbstverwirklichungsbedürfnisse, die erwartete finanzielle Belastung einer Elternschaft und die sinkende Zahl an stabilen Partnerschaften und Ehen. Die Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen hatte eine ähnliche Studie für Österreich durchgeführt, bei der 54 Prozent angeben, „frei und unabhängig“ sein zu wollen, statt eine Familie zu gründen. Die finanzielle Belastung nannten 44 Prozent als hinderlich. Angesichts solcher Zahlen kann man schnell zu jenem zynischen Schluss kommen, den Elfriede Hammerl zuletzt im Profil zog: „Statt sich über unsere niedrige Geburtenrate zu wundern, sollten wir lieber staunen, dass die ÖsterreicherIn (sic!) statistisch immer noch 1,4 Kinder zur Welt bringt.“ Aber weder staunen noch wundern wird daran etwas ändern …
Denn Kinder sollten keinesfalls, weder in unserer Gesellschaft noch in diesem Artikel, als Belastung verstanden werden. Aber um zu verstehen, warum sich Erwachsene gegen Nachwuchs entscheiden, sollen an dieser Stelle jene Faktoren skizziert und diskutiert werden, die eben für viele eine Belastung darstellen. Ungeachtet dessen, das Kinder á priori eine Bereicherung für den Einzelnen und uns alle sind.
So sehr die Möglichkeiten zugenommen haben, aus der individuellen Freiheit das Beste zu machen, so sehr hat die gefühlte Sicherheit abgenommen: Kann ich meinem Kind genügend Wohlstand bieten? Worauf muss ich verzichten, wenn ich Vater oder Mutter werde? Mit wem gehe ich dieses Wagnis ein, für die nächsten 18 Jahre gemeinsam Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Verantwortung in einer Welt, in der es genügend Gründe gibt, mit ihr zu hadern. Wie werden die Schulen aussehen, in die wir unsere Kinder schicken? Und werden sie später eine Arbeit finden, von der sie einmal leben können. Das sind Fragen, mit denen sich potenzielle Eltern beschäftigen. Zumindest jene, die sich Gedanken machen, und unter diesen ist die Geburtenrate besonders niedrig und gleichzeitig besonders „erwünscht“ – zumindest legt das die Tatsache nahe, dass gern zwischen akademischen Eltern und Nicht-Akademikern unterschieden wird.
Es ist natürlich eine gefährliche These sein, wenn man Kinder in erwünschte und weniger erwünschte unterscheidet, denn eigentlich sind es die Eltern, die unterschieden werden. Aber auch das ist immer noch ein dünnes Eis, denn niemandem kann Aufgrund seiner sozialen Situation verwehrt werden, ein Kind zu bekommen und jedem Kind gehört genau die gleiche Zuwendung (der Eltern und durch den Staat) geschenkt. Das ist das, was in den Sonntagsreden unter Chancengleichheit und Gerechtigkeit verstanden wird. Gleichzeitig darf sich eine selbst lenkende Gesellschaft mit einer Politik, die versucht, durch ein zusätzliches und abstraktes Maß an Vernunft zu lenken, die darf sich trotzdem mit der Frage beschäftigen, warum Akademiker weniger Kinder bekommen als schlechter (Aus-)Gebildete.
Und wenn wir modellhaft einmal davon ausgehen, dass Akademiker sich mehr Gedanken über ihre Zukunft machen (und die ihrer Kinder), ist schlüssig, warum bei ihnen die rationalen Gründe für die Entscheidung einer Schwangerschaft eine größere Rolle spielen. Neben allen irrationalen Sorgen fragt sich der wache Geist auch eher, ob ihr und ihm eine Kinderbetreuung an der Uni geboten wird und ob der Arbeitgeber erlaubt, auch in den ersten Jahren Mutter- bzw. Vaterschaftsurlaub zu nehmen. Noch immer sind die Schwierigkeiten nicht beseitig, Kind und Karriere zu balancieren. Aber sie verschieben sich langsam, auch weil immer mehr Männer ihren Anteil zur Betreuung beitragen und ihrer Partnerin damit gleichzeitig ermöglichen, ihren Job fortzusetzen. Allerdings kommen auch Akademiker nicht an dem Paradoxon vorbei, dass sie trotz einer höheren Sicherheit des eigenen Einkommens weniger bereit sind, Kinder zu bekommen.
All zu logisch kann es in der Frage um den Nachwuchs auch gar nicht zugehen. Mann schwängert und Frau lässt sich ja nicht aus rationalen Gründen schwängern. Niemand lässt im Bewusstsein der demografischen Entwicklung Österreichs die Hosen runter und den Samen seinen Lauf. Im Gegenteil: Frau lässt sich aus vernünftigen Gründen nicht schwängern. Also muss es Ziel einer Gesellschaft sein, die Gründe gegen das Kinderkriegen zu reduzieren. Denn der Wunsch, Kinder zu bekommen, ist weitaus stärker vorhanden, als tatsächlich Kinder geboren werden: Durchschnittlich will jede Frau zwei Kinder haben. Dem steht aber in rund 60 Prozent der Fälle die Realität eines Einzelkinds gegenüber – formulieren wir es hier lieber einmal so, als immer von 1,4 Kindern pro Frau zu sprechen.
Aber dieses Missverhältnis ist zu verstehen, aus den bisher erwähnten Gründen und auch weil wir in den letzten fünfzig Jahren zu einer gesellschaftlichen Haltung gefunden haben, die Frauen die Entscheidung zwischen Kind oder Karriere erlaubt. Jetzt müssen wir es nur noch schaffen, dass auch beides gleichzeitig möglich wird. Kind und Karriere. Dazu braucht es eine ideelle Unterstützung und Anerkennung erfolgreicher Mütter und Väter, ohne diese als karrieregeile Rabenelter einerseits oder Supermamis andererseits zu stilisieren. Und es braucht Unternehmen mit einer familienfreundlichen Umgebung, die das Nebeneinander von Karriere und Elternschaft zulassen, ohne dass eines von beiden leidet.
Vorbilder gibt es genügend, allein die drei letzten Partner in den Fazitgesprächen, Bettina Vollath, Josef Zotter und Veronica Kaup-Hasler haben erfolgreich Karriere gemacht. Und jeweils mit drei bzw. mit zwei Kindern.
Der Mensch auf zwei Beine. Aufrecht, aber gebückt
Noch sind sie Ausnahmen, denn die Mehrheit der 20- bis 45-Jährigen, die Kinder bekommen könnten, sieht sich im Moment einer doppelten demografischen Belastung ausgesetzt, die eher zu- als abnehmen wird. Frauen und Männer dieser Generation müssen die Beiträge für eine steigende Anzahl von Pensionsempfängern aufbringen und gleichzeitig für ihre eigene, private oder betriebliche, Rente vorsorgen. Und das mitten in einer Zeit von Wirtschaftskrise und Budgetkonsolidierung.
Die Entscheidung, sich zu dieser doppelten finanziellen Belastung noch einen dritten Kostenpunkt zu „organisieren“, fällt oft schwer. Noch wird diese Entscheidung von über 70.000 Müttern getroffen, aber anders als uns TV-Formate wie „Teenager werden Mütter“ vorgaukeln, wird das Durchschnittsalter von werdenden Müttern immer höher. Verständlich, denn erst zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr lässt sich absehen, ob die eigene Karriere zur Zufriedenheit verlaufen ist, ob vom verdienten Einkommen genügend Rücklagen gebildet wurden und ob der jeweilige Lebenspartner auch ohne die romantische Verklärung der Jugend „taugt“. Oder man trifft in dieser Zeit die ebenso respektable Entscheidung, auf eine weitere Karriere zu verzichten und sich den Kinderwunsch zu erfüllen.
Was für die und den Einzelnen absolut verständlich ist, wird aber erneut zu einem gesellschaftlichen Problem: 2008 war das letzte Jahr, in dem das Durchschnittsalter von Müttern in Österreich unter 30 Jahren lag. Damit ist die Altersgruppe der 30- bis 40-Jährigen, also die Jahrgänge des Geburtenrückgangs von 1970 bis 1980, inzwischen für alles verantwortlich: Sie müssen durch Arbeit und Konsum den größten Teil der Steuern aufbringen, sie müssen direkt (Pflegeregress) und indirekt (Kassenbeiträge, Steuern) die Generation 65+ finanzieren und sie müssen, mit ideellen, zeitlichen und finanziellen Zuwendungen, den Nachwuchs großziehen.
Aber obwohl allen Politikern bekannt ist, dass wir von einem Verhältnis von drei werktätigen Beitragszahlern auf einen pensionierten Empfänger bald zu einem Verhältnis von 1,4 Einzahlenden auf einen Empfänger gelangen, wurde es versäumt, systematische Lösungen vorzunehmen und die Kosten der demografischen Entwicklung auf mehrere Generationen zu verteilen. Noch trägt uns ein relativ breiter Sockel der 40- bis 60-Jährigen, aber in zehn bis zwanzig Jahren sind auch diese letzten geburtenstarken Jahrgänge in einem Alter, in dem sie Anspruch auf ihre Pension erheben werden.
Das letzte Zeitfenster ist also geöffnet, in dem noch ein politischer Spielraum vorhanden ist. Aber von Pensionskürzung traute sich bis jetzt kein Politiker zu sprechen, angesichts eines steigenden Anteils von Betroffenen, die gleichzeitig Wähler sind.
Dabei ist die Rechnung für die Balance der Pensionskosten relativ einfach: Anzahl der Einzahler mal Beitrag + eventuell nötige Staatverschuldung = Anzahl der Empfänger mal Pension.
Nun kann man Parameter für Parameter analysieren, wo sich politisch etwas verändern lässt bzw. wo Änderungen zu erwarten sind: Für die nächsten 20 Jahre steht fest, dass keine geburtenstarken Jahrgänge nachkommen. Die Anzahl der Einzahlenden kann also nur durch früheren Berufseinstieg erhöht werden, wenn auch das Potenzial dort gering ist. Oder durch Migration. Seit 2001 schwankt die Migration nach Österreich sehr stark, aber mit einem Zuwanderungssaldo von 20.000 bis 50.000 Personen wird die Lücke, die der Geburtenrückgang verursacht hat, bis auf Weiteres gefüllt. Und bis jetzt konnte Österreich trotz der Öffnung nach Osteuropa und trotz einer hohen Einwandererquote seinen Stand als Hochlohn-Land verteidigen. Der jetzige ÖVP-Chef Michael Spindelegger hatte, zu Zeiten als sich seine Verantwortung noch darauf beschränkte Außenminister zu sein, schon erkannt: „Wir brauchen Einwanderung“. Und noch bietet Österreich eine attraktive Perspektive für viele Zuwanderer. In Deutschland wird aber bereits heute sichtbar, dass zum Beispiel gut ausgebildete Migranten aus der Türkei nach Istanbul gehen, weil dort inzwischen zahlreiche Jobs vorhanden sind, die den mitteleuropäischen Angeboten weder in Bezahlung noch in Qualität nachstehen. Beim aktuellen innenpolitischen Klima könne das auch in Österreich drohen. Und die Freude die sich bei dem ein oder anderen darüber einstellen könnte, wird kurz sein.
Schon jetzt wirf der drohende Mangel an Arbeitskräften (und Beitragszahlern) nämlich sichtbar. Und zwar in der Abwanderung vom Land in die Stadt (Binnenmigration) – besonders in der Steiermark. Weil die Auswahl und Anzahl an Jobs in Ballungszentren wie Graz deutlich höher ist, als in den ehemaligen Industrieregionen, wo es nur eine Handvoll Arbeitgeber gibt, zieht es die mobilen Arbeitnehmer in Richtung Stadt – und mit ihnen ihre Familien. Der vermeintliche Gegentrend, auch wieder verstärkt aufs Land zu ziehen, trifft nur insofern zu, dass die Umgebung der Städte gemeinhin als Land gezählt wird. Die Migration, also Wanderung innerhalb Österreichs insgesamt geht nur in eine Richtung. Und zwar in Richtung Stadt. So verlagert sich das Problem nur von der Stadt aufs Land – auf Kosten einer immer verwaisteren ländlichen Region.
Dabei ist die sinkende Zahl von Berufsfähigen nicht nur ein Problem für die Steuerkasse, sondern vor allem für viele Betriebe. In Deutschland bleiben schon jetzt jährlich mehr Lehrstellen unbesetzt, weil es nicht genügend (qualifizierte) Lehrlinge gibt. In Österreich ist die Situation, mit Ausnahme von Wien, noch relativ gut. Aber auch hierzulande nahm die Zahl der Lehrlinge im letzten Jahr insgesamt um 1,3 Prozent ab. In Branchen wie dem Fremdenverkehr gibt es sogar schon jetzt drei Mal so viele Lehrstellen wie Lehrlinge.
Zurück zu unserer volkswirtschaftlichen Gleichung: Anzahl der Einzahler mal Beitrag + eventuell nötige Staatverschuldung = Anzahl der Empfänger mal Pension.
Der einfachste Parameter innerhalb dieser Rechnung ist sicherlich der Beitrag zur Pflege- und Pensionsversicherung, denn er lässt sich durch parlamentarische Beschlüsse verändern. Alles, was dafür in Kauf genommen werden muss, scheinen im Moment friedliche Demonstrationen zu sein, eine sinkende Wahlbeteiligung und Verluste von Wählerstimmen, die aber nie direkt auf konkrete politische Maßnahmen zurückgeführt werden können. Doch auch die Anhebung der Sozialabgaben hat irgendwann ein Ende. Vor allem für Österreich, das schon jetzt eine vergleichsweise hohe Abgabenquote hat.
Ebenso wie bei der bisher beliebten Lösung: der Belastung des Staatshaushaltes durch neue Schulden. Aber in Anbetracht der Budgetkrise, aus der noch kein Ausweg zu sehen ist, wird diese Variante künftig nicht mehr zur Verfügung stehen. Außer wir wollen sehenden Auges in den Staatsbankrott rennen, Griechenland lässt grüßen.
Bleibt also jene Weisheit, die uns allen bekannt ist: Wir müssen länger arbeiten. Dadurch sinkt die Anzahl der Empfänger und gleichzeitig steigt die Anzahl der Einzahler. Jeder Pensionist, der arbeitet, verbessert damit beide Seiten der Gleichung. So einfach, so schwierig.
Denn eine Anhebung des Renteneintrittsalters lässt sich nicht allein durch die flotte Privatisierung der ÖBB erreichen (die dazu natürlich auch einen Beitrag leisten kann und soll und muss), sondern indem alle Unternehmer beginnen, ganz nach dem Vorbild einer noch kleinen Anzahl von Vorzeigebetrieben, sich einer Generation von älteren Arbeitern zu öffnen und Bedingungen zu schaffen, unter denen auch ein 70-Jähriger noch produktiv tätig sein kann.
Drei Beine – gehen am Stock
Da verlangt es jede Menge Differenzierungen, denn niemand wird den Hacklern, die täglich Güterwaggons verschieben, Straßen asphaltieren oder auf Knien Heizungen montieren, den frühen und verdienten Eintritt in die Pension verweigern. Schwierig wird es, das ist schon jetzt abzusehen, bei Berufsgruppen wie Lehrern, aber auch dort gelangen wir hoffentlich zu der Einsicht, dass es für alle Beteiligten, Schüler, Lehrer, Eltern, das beste ist, wenn sie nach 30 Jahren in einem Klassenzimmer voll energiegeladener und mitunter anstrengender Schüler in den Ruhestand dürfen. Dürfen heißt nicht müssen, denn flexible Renteneintritte können für einen sonst so regulierungsfreudigen Staat kein Problem sein. Aber warum wir im 21. Jahrhundert, wo das Gros der Arbeitsplätze längst im Dienstleistungssektor zu finden ist, noch immer jenen Pensionsbeginn nötig haben, der vor 40 Jahren üblich war, konnte bis jetzt niemand plausibel erklären.
Natürlich, wenn man der Statistik folgt, muss man sich Österreich als Land von langsam schlurfenden Pensionisten vorstellen, die die letzten 20 Jahre ihres Lebens damit verbringen, nichts zu tun, außer Kosten zu verursachen. Schuld an einer solchen Polemik ist die Rechnung, dass die Altenquote aus dem Verhältnis der über 65-Jährigen zu den 14- bis 64-Jährigen gebildet wird. Damit soll deutlich gemacht werden, wie eine Gesellschaft altert. Das ist ohne Zweifel ein wichtiger Indikator, aber im Jahr 2011 sollte sich langsam die Einsicht durchsetzen, dass mit der höheren Lebenserwartung auch ein längere Leistungs- und Arbeitsfähigkeit gegeben ist. Die heute 65-jährigen sind ja kaum mit jenen der 60er Jahre zu vergleichen.
Aber mit gerade einmal 35 Prozent Beschäftigung von älteren Arbeitnehmern gehören wir zur Schlussgruppe in Europa. Wenn es um die Dauer geht, die ein Österreicher nach seinem tatsächlichen Renteneintritt noch zu leben hat, liegen wir laut OECD-Statistik auf einem, je nach Blickwinkel, traurigen oder glücklichen, ersten Platz. Männer verbringen durchschnittlich 18 Jahren, Frauen 26 Jahre in Pension. Diese Meisterleistung wird kombiniert mit einem hohen staatlichen Anteil der Pensionskosten und führt uns Jahr für Jahr näher an einen angekündigten Kollaps des Staatshaushaltes.
Und das ist keineswegs nötig, denn erst bei den über 80-Jährigen ist ein signifikanter Anteil (10 Prozent) auf „Anstaltswohnungen“, also betreutes Wohnen, Alten- oder Pflegeheime, angewiesen. 90 Prozent können also zumindest ihr eigenes Leben ohne Betreuung meistern. Wie viele von ihnen darüber hinaus noch etwas leisten können und wollen, sollte eruiert und schleunigst genutzt werden. Erste Initiativen zur Integration von Älteren ins Arbeitsleben entwickeln langsam Modellcharakter, zum Beispiel wurden in Salzburg und Oberösterreich bereits einige Lehrer aus ihrer Pension zurückgeholt, um den zunehmenden Lehrermangel auszugleichen. Neben dem offensichtlichen volkswirtschaftlichen Nutzen solcher Maßnahmen, darf auch ein kurzer Gedanke daran verschwendet werden, was dieses Gefühl des Gebraucht werden auch für die Generation bedeutet, die sich mit ihrer Rolle als „Beitragsempfänger“ vielleicht gar nicht so wohl fühlt.
Am deutlichsten lassen sich all die skizzierten Entwicklungen mithilfe der Bevölkerungsstruktur zusammenfassen. Während 2001 noch ein recht ausgewogenes Verhältnis von 21 Prozent Alten (über 60) und 17 Prozent Jugend (unter 14 Jahren) bestand, wird dieses nach allen Prognosen für 2050 weit auseinanderreißen: Dann werden in Österreich etwa 36 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein, und nur 12 Prozent unter 15. Der Anteil der 15- bis 59-Jährigen sinkt von 62 Prozent auf knapp über 50 Prozent.
»Du meinst den Menschen, der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.« – Antwort des Ödipus
Wir werden also schleunigst damit beginnen müssen, unsere Unternehmen darauf ein- und umzustellen, dass sie gute Arbeitsbedingungen für die Generation 60+ bieten, ebenso wie für potenzielle und bereits aktive Eltern. Im Idealfall nebeneinander. Denn warum soll sich nicht eine Abteilung rüstiger Oldies den Betriebskindergarten betreuen, während die Eltern auf Außendienst sind?
Wir müssen unsere eigene Haltung überdenken und uns fragen, ob wir, jeder für sich, wirklich mit 60 Jahren in Pension gehen müssen oder ob wir den Zahlen vertrauen und mit Blick auf Griechenland erkennen, wozu eine frühe Verrentung (neben einigen anderen Dingen, die in Griechenland schieflaufen) führen kann. Und wir sollten uns von der Illusion verabschieden, dass wir uns eine höhere Kinderzahl durch finanzielle Zuwendung kaufen können. Damit Frauen und Männer zu Eltern werden, braucht es neben einer ganzen Menge individuell günstiger Bedingungen ein kinderfreundliches Klima am Arbeitsplatz (Betriebskindergärten, Gleitzeit etc.) und ein paar mehr integrierende Rahmenbedingungen, für die der Staat sorgen kann: Betreuung für unter 3-Jährige, Kinderkrippen und -gärten, die auch an die Bedürfnisse von Studierenden und Auszubildenden angepasst sind. Dazu muss man nur nach Frankreich oder Skandinavien schauen, wo trotz der gleichen globalen Sorgen (Eurokrise, Klimawandel etc.) die Geburtenrate sehr eng mit der Kinderwunschrate korreliert. Und zwar oberhalb von zwei Kindern pro Frau.
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Titelgeschichte Fazit 74 (Juli 2011)
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