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Der lebende Brandmelder

| 19. Februar 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 100, Fazitreise

Obertilliach (Foto: Hansjörg Schneider)

[ Von Harald Steiner ] Mit Hellebarde (in Österreich waffenscheinpflichtig!), schwarzem Lodenumhang und Sturmlaterne stapft Helmut Egartner durch die tiefverschneiten Gassen von Obertilliach. Zwar nicht zwölfe, aber neune hat es von der Kirchturmuhr geschlagen, die Stunde für den Rundgang des letzten echten Nachtwächters Österreichs. Obertilliach liegt in den Bergen Osttirols auf 1.450 m Seehöhe, und die Gail, die nicht weit von hier am Kartitscher Sattel entspringt, plätschert durch das Tal. Die 730 Obertilliacher, die mit ihren 850 Gästebetten recht gut vom Fremdenverkehr leben, sind stolze Wahrer der Tradition. Der Ort ist eine Augenweide, ein Schmuckstück hölzerner Bauernarchitektur, viele der Höfe sind hunderte von Jahren alt, und dass sie nicht einer Feuersbrunst zum Opfer fallen, darauf haben seit dem Jahre 1730 Nachtwächter ein Auge. Auch Helmut Egartner hat während der dreizehn Jahre, die er nun schon ehrenamtlich zweimal pro Woche seinen Dienst versieht, mehrmals der Gefahr ins Auge gesehen: Da hatte sich etwa das Heu in einem Stadel selbst entzündet. Oder bei einem frischen Grab auf dem Friedhof neben der barocken Pfarrkirche war unbemerkt des nachts ein Brand ausgebrochen.  Vermutlich war ein Grablicht umgefallen, und gleich neben der Friedhofsmauer steht eine hölzerne Scheune. Der 63jährige pensionierte Lastwagenfahrer alarmierte die Freiwillige Feuerwehr, und ein Übergreifen der Flammen wurde verhindert. »Obertilliach ist ein Haufendorf mit sehr enger Bebauung«, erklärt Helmut Egartner während des Rundgangs, bei dem neugierige Besucher stets willkommen sind – schließlich steht neben der Brandverhütung auch die Tourismusattraktion im Vordergrund. »Zur Abwehr gegen Überfälle aus dem Süden, wo von der italienischen Seite der Karnischen Alpen in alter Zeit oft Räuberbanden zum Plündern kamen, errichteten die Bauern ihre Höfe dicht beieinander, und das sorgte wiederum für erhöhte Brandgefahr.«

Ravioli osttirolense
Heute ist die Nähe zu Italien jedoch ein Plus: Neben den deutschen Urlaubern kommen auch viele italienische Gäste, die den hohen Standard der Hotels und Pensionen ebenso wie die bodenständige Küche schätzen, etwa »Ravioli osttirolense«, auf deutsch Schlipfkrapfen. Noch einen weiteren Bezug zu Italien gibt es: Die Stämme und Holzpfeiler, die den Untergrund der Lagunenstadt Venedig befestigen helfen, stammen aus dem waldreichen Lesachtal, anno 1996 von den Naturfreunden zur »Landschaft des Jahres« erkoren. Im Sommer führt eine abwechslungsreiche Wanderroute entlang der Bergkämme der Karnischen Alpen, die im 1. Weltkrieg erbittert umkämpft war und heute den Namen »Friedensweg« trägt.Die zwanzig Wandergipfel mit neun Hütten kann man bequem in einer Urlaubswoche bewältigen.
Und im Winter, wenn das obere Lesachtal mit Obertilliach eines der zuverlässigsten Schneelöcher Österreichs ist, verwandelt sich der Schwemmkegel, der im Jahre 1111 nach einem gigantischen Bergrutsch das Tal ausfüllte und auf dem auch der Ort erbaut wurde, in ein Eldorado für Langläufer. Im Gemeindegebiet von Obertilliach allein gibt es 50 km gespurte Loipen, und das ganze Tal wird durch die 60 km lange Grenzlandloipe erschlossen. Exzellente Trainingsbedingungen für Österreichs Nordische, also Langläufer und Biathleten! Biathlon, das ist der Kombinationssport aus Langlauf und Gewehrschießen, der in Österreich kaum hundert Aktive zählt; nichtsdestotrotz war Obertilliach im letzten Winter Austragungsort der Jugend-WM mit 400 Teilnehmern. Und sogar der erfolgreichste Biathlet der Sportgeschichte, der Norweger Ole Einar Björndalen, vierfacher Goldmedaillengewinner von Salt Lake City 2002, hat sich vor etlichen Jahren in Obertilliach häuslich niedergelassen.

Nachtwächtertreffen
Schwer zu sagen, welcher Obertilliacher prominenter ist: der Biathlon-Olympionike oder der pittoreske Nachtwächter. »Da hätten Sie erst meinen Vorgänger Pepi Lienharter sehen sollen«, lacht Helmut Egartner, »mit seinem eindrucksvollen Rauschebart war er das beliebteste Postkartenmotiv für die Feriengäste! Unter seiner Ägide war Obertilliach anno 1998 sogar Gastgeber für das alljährliche europäische Nachtwächter- und Türmer-Treffen mit 120 Teilnehmern, mehrheitlich Deutsche und Dänen. Und ich selbst freue mich auf 2016, da gibt es wieder ein Nachtwächter-Gipfeltreffen in unserem Ort!« Ist Obertilliach schon eine Trutzburg der Traditionspflege, so lässt sich das nördlich davon gelegene Villgratental noch weniger von den Verlockungen des Kommerz beeindrucken. Freilich schätzt man auch im 960 Einwohner zählenden Innervillgraten den Feriengast und verfügt über immerhin 350 Gästebetten, aber vor allem will man bleiben, was man immer war: ein Bergbauerndorf. Deswegen gibt es im ganzen Tal keinen einzigen Schillift, und auch gegen die Errichtung eines Stauseekraftwerks in einem Seitental haben sich die Innervillgratener gesperrt. Vollerwerbsbauernhöfe finden sich bis in Höhenlagen von 1.740 Meter, an den Steilhängen um das Tal, wo bis vor 20 Jahren nur Seilbahnen hinaufführten. Heute gibt es schmale Asphaltstraßen, die Wiesen sind jedoch so abschüssig, dass die Mahd fast akrobatische Geschicklichkeit erfordert. Es lohnt sich aber, denn Brüssel zahlt Zuschüsse, abhängig von der gemähten Wiesenfläche, und so können die Innervillgratener Bergbauern auch ganz ohne Fremdenverkehr ökonomisch überleben. Ins Landschaftsbild gehören die »Herpfen«, hölzerne Gestelle zum Trocknen des Heus. Schilifte gibt es zwar nicht, aber Tourengeher schätzen ja gerade das – kann man hier doch noch einen Winterurlaub wie seinerzeit erleben, in einsamer, märchenhaft verschneiter Bergwelt. Am Talende, im Ortsteil Kalkstein, beginnen die verschiedenen Schi-Routen. Ausflugsbusse, vor allem aus Deutschland, haben allerdings ein anderes Ziel: Am Friedhof der Kalksteiner Ortskapelle liegt Pius Walder begraben, Opfer des Wildererdramas von 1982, das weltweit Schlagzeilen machte. Neben dem Friedhof steht ein Ordenshaus der Kalasantiner, mit Kruckenkreuzen und dem Doppeladler des Ständestaats als Fassadenschmuck – alles in allem ein fragwürdig makabrer Ort.

Besondere Kraftwerke
Da können die Innervillgratener schon wesentlich stolzer auf ihre »Kraftwerke« sein, nicht solche zur Stromerzeugung, das wurde ja abgewehrt (siehe oben), sondern auf den gleichnamigen Zusammenschluss von sechs ortstypischen Betrieben: einen Erzeuger von Matratzen aus Schafschurwolle, einen Bürsten- und Besenbinder, eine Schmiede, einen (bewirtschafteten) Museumsbauernhof, einen Modedesigner, und den in heimischen Gourmetkreisen legendären Gannerhof – ein Haubenrestaurant in einem 1719 erbauten Bauernhof, wo in gediegen-uriger Atmosphäre eine Feinschmeckerversion der bodenständigen Küche Osttirols serviert wird. Küchenchefs sind – schon in dritter Generation – Josef Mühlmann und seine Gattin Carola, die täglich frisch das köstliche würzige Hausbrot bäckt. Kreationen wie Zirbenschaumsuppe, Lammzungengröstl und Lebkuchenparfait mit Ingwermarmelade und Himbeerspiegel lassen die Richtung der Küche erkennen. Auch für das typischste aller Osttiroler Gerichte, die Schlipfkrapfen, gibt es im Gannerhof ein Spezialrezept mit besonders vielen Kräutern in der Topfen-Erdäpfel-Fülle. »Gutes Essen braucht einen guten Boden« heißt der Wahlspruch auf der Speisekarte, und in diesem Zusammenhang sind Werte wie Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit nicht altbacken, sondern ein wahrer Genuss!

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Weitere Informationen

Die 1750 als Bauernhof erbaute denkmalgeschützte Hotelpension Unterwöger ist ein gemütliches Feriendomizil mitten im Ortszentrum von Obertilliach. Die Wand im Vorraum schmückt ein Sündenfallfresko und im 1. Stock steht eine 300 Jahre zählende Christusstatue des Brunecker Schnitzers Michael Pacher. hotel-unterwoeger.at

Haubenmäßig essen und übernachten lässt es sich in Innervillgraten im besten
Restaurant Osttirols, dem Gannerhof, unter den Fittichen von Inhaber und Küchenchef Josef Mühlmann. gannerhof.at

Wer nicht nur langlaufen, sondern auch auf alpine Schifreuden nicht verzichten will, für den gibt es in Obertilliach einen Sessellift, vier Schlepplifte und 20 km Pisten.

osttirol.com
obertilliach.at und innervillgraten.info
kraftwerkevillgraten.at

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Fazitreise, Fazit 100 (März 2014)

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