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Breslau stellt sich der Geschichte

| 27. November 2014 | 1 Kommentar
Kategorie: Fazit 108, Fazitreise

Foto: Maciek Lulko

Die niederschlesische Metropole Breslau wird im Jahr 2016 Kulturhauptstadt Europas. Nicht nur das weltbekannte Puppentheater oder die auch in Deutschland und Oberösterreich beliebte Oper haben ihr zu diesem prestigeträchtigen Titel verholfen, sondern auch der interreligiöse Dialog und die nach 1990 begonnene vorsichtige Aufarbeitung der eigenen Geschichte rund um die Vertreibung der ursprünglichen deutschen Bewohner.

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Denn in Breslau hat nach 1945 ein vollständiger Austausch der Bevölkerung stattgefunden. Die Deutschen wurden – wohl auch wegen der Nazigräuel – äußerst gewalttätig vertrieben und durch heimatlos gewordene Polen ersetzt. Die größte Gruppe unter den Neubreslauern bildeten die Einwohner von Lemberg, das den Polen von der ehemaligen UdSSR weggenommen und der Ukraine zugeschlagen wurde. Bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zählte Breslau mit etwa 630.000 Einwohnern zu den wichtigsten deutschen Großstädten – etwa vergleichbar mit München, Köln oder Dresden.

Nach 1945 ist die Bevölkerung zwischenzeitig auf 30.000 gesunken. Doch die Stadt ist als polnische Metropole wiederauferstanden und heute leben dort wieder 650.000 stolze Breslauer aus allen Teilen Polens, die immer seltener ein Problem damit haben, sich mit den deutschen Wurzeln ihrer nunmehr polnischen Heimatstadt auseinanderzusetzen. Denn dass es in Breslau keine Deutschen mehr gibt, wird inzwischen als Makel empfunden.

Obwohl die Neuzuwanderer nach 1945 nichts für die Vertreibung können – schließlich handelt es sich bei ihnen ja selbst um Vertriebene –, sind sie sich bewusst, dass sie an einem Ort leben, der nichts mit ihrer angestammten Kultur zu tun hat. Bis 1990 war die deutsche Vertreibung ein Tabuthema. Offiziell wurde die Inbesitznahme Niederschlesiens als »Wiedererlangung der verlorenen Gebiete« bezeichnet. Im Zuge der deutschpolnischen Aussöhnung war damit jedoch Schluss. Und der Charme, den die Stadt auf deutschsprachige Besucher ausübt, wird durch eine zwar versteckte, aber dennoch vorhandene Scham darüber, was in Folge zahlreicher Nazigräuel unmittelbar nach 1945 passiert ist, nur noch verstärkt.

Der Breslauer Marktplatz Rynek ist ein historisches Juwel
Obwohl es in Breslau keinen Deutschen mehr gibt, kommt man zumindest in den Tourismuszonen mit Deutsch einigermaßen gut zurecht. Wie überall in Osteuropa hat jedoch Englisch das Russische als erste lebende Fremdsprache ersetzt. Während unter Österreichern vor allem die Stadt Krakau als städtetouristisches Ziel gilt, haben die Bundesdeutschen Breslau mit seiner liebevoll restaurierten Altstadt rund um einen der wohl schönsten Hauptplätze der Welt, dem Rynek, schon früher wiederentdeckt. Das hat vor allem mit der räumlichen Nähe zu tun, denn Berlin und Breslau trennen gerade einmal zwei Stunden auf der Autobahn. Das markanteste Gebäude auf dem Rynek ist das »Alte Rathaus« mit seiner historischen astronomischen Uhr aus dem Jahr 1580. Ein Teil der Häuser blieb im ansonsten weitgehend zerstörten Breslau vom Krieg verschont. Alle anderen Gebäude wurden aufwendig restauriert bzw. in nach Originalplänen wieder aufgebaut.

Der Rynek ist unter Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Es reiht sich Gaststätte an Gaststätte und gefeiert wird bis in die frühen Morgenstunden. Die Lokalszene wird jedoch nicht von Touristen, sondern von den zahlreichen Jugendlichen, die das gesamte Stadtbild prägen, dominiert.

150.000 Studenten prägen das städtische Leben
Breslau ist eine junge Stadt. Dazu tragen die vielen Hochschulen mit ihren 150.000 Studenten bei. Räumliches Herzstück des wissenschaftlichen Lebens bildet die Aula Leopoldina, im Hauptgebäude der vom Habsburger-Kaiser Leopold dem Ersten begründeten Breslauer Universität. Die Aula Leopoldina ist einer der schönsten und größten Barocksäle der Welt. Heutzutage ist die Technische Universität die wichtigste Hochschule der Stadt. Sie wurde 1910 als Teil der Universität Breslau gegründet. Nach der Vertreibung zogen Professoren der ehemaligen Lemberger Universität ein und nahmen den Lehrbetrieb bereits am 15. November 1945 wieder auf. Der hervorragende Ruf der Studienrichtung Informationstechnologie ist übrigens hauptverantwortlich dafür, dass sich nach dem polnischen EU-Beitritt Weltkonzerne wie Google, Siemens, Bosch oder SAP in Breslau angesiedelt haben.

Abseits der Altstadt wird Breslau so wie die meisten osteuropäischen Städte von Plattenbauten dominiert. Die polnischen Löhne liegen mit durchschnittlich 1.000 Euro deutlich unter dem österreichischen Niveau, aber auch die Lebenshaltungskosten sind viel niedriger. Deshalb ist das Wohlstandsniveau wesentlich höher, als es die geringen Löhne und Gehälter vermuten lassen.

Die Breslauer Jahrhunderthalle ist Weltkulturerbe
Die historische Stadt Breslau hat es ausgerechnet mit einem neuzeitlichen Gebäude auf die Liste der Unesco-Weltkulturerbestätten gebracht. Und zwar mit der zwischen 1908 und 1913 errichteten Jahrhunderthalle. Dabei handelt es sich um eines der ältesten Stahlbetongebäude der Welt. Der imposante Kuppelbau hat einen Durchmesser von 65 Metern und bildet das Herzstück des Breslauer Messe- und Ausstellungsgeländes. Er fasst bis zu 10.000 Besucher und wurde von Max Berg errichtet. Ein weiteres Wahrzeichen von Breslau ist der Breslauer Dom, der von Mitte des 13. Jahrhunderts an erbaut wurde und nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erst in den Neunzigerjahren wieder vollständig instandgesetzt wurde. Die Dominsel bildet das Zentrum der Breslauer Gotik mit zahlreichen weiteren sakralen Kirchenbauten. Daneben gibt es in der Breslauer Altstadt aber auch eine evangelische und eine russisch-orthodoxe Gemeinde und auch das jüdische Leben, das von den Nazis ausradiert wurde, hat mittlerweile rund um die einzig verbliebene Synagoge der Stadt wieder Fuß gefasst. Die drei christlichen Kirchen und die Juden haben übrigens eine interreligiöse Plattform gebildet und arbeiten eng zusammen. Dieses für Polen längst nicht selbstverständliche Miteinander war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die EU Breslau für 2016 den Titel »Europäische Kulturhauptstadt« verlieh. Man darf schon heute gespannt sein, mit welchen Projekten Breslau dieser gesamteuropäischen kulturellen Verantwortung nachkommen wird. Vielleicht gelingt es ja, einen Teil jener Bedeutung wieder zu erlangen, die der 650.000-Einwohnermetropole in einer der wirtschaftlich dynamischsten Regionen Europas eigentlich zustehen würde.

Weitere Informationen
Breslau (polnisch Wroclaw, schlesisch Brassel) ist eine kreisfreie Großstadt an der Oder. Mit über 630.000 Einwohnern ist sie die viertgrößte Stadt Polens, Hauptstadt der historischen Region Schlesien und des Verwaltungsbezirkes (Woiwodschaft) Niederschlesien sowie Verwaltungssitz des gleichnamigen Landkreises. Breslau bildet das wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zentrum Schlesiens und war 2012 ein Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft. 2016 wird die Stadt Kulturhauptstadt Europas und Verleihungsort des Europäischen Filmpreises sein.

polen.travel
wroclaw-info.pl
fb.com/polnisches.fremdenverkehrsamt

Fazitreise, Fazit 108 (Dezember 2014), Foto: Maciek Lulko

Kommentare

Eine Antwort zu “Breslau stellt sich der Geschichte”

  1. Breslau ist Kulturhauptstadt 2016 | FazitOnline. Wirtschaft und mehr. Aus dem Süden.
    13. Januar 2016 @ 09:53

    […] Die niederschlesische Metropole Breslau ist heuer gemeinsam mit dem spanischen San Sebastian europäische Kulturhauptstadt. Gute Gelegenheit, den Reisebericht, der im November 2014 in Fazit erschienen ist, noch einmal zu präsentieren: Breslau stellt sich der Geschichte. […]

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