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Europa auf dem Scheideweg

| 22. Dezember 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 119, Fazitthema

Illustration: Peter Pichler

Nie zuvor präsentierte sich die EU so angreifbar und zerrissen wie in diesen Tagen. Die Flüchtlingspolitik einiger EU-Länder hat das Schengensystem der offenen EU-Grenzen zusammenbrechen lassen. Die Bedeutung des Euro für die globale Wirtschaft ist aufgrund der Art und Weise der EZB-Rettungspolitik gerade dabei, sich zu marginalisieren.

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Und so befinden sich in Großbritannien die Austrittsbefürworter vor einem für die gesamte Union entscheidenden Referendum erstmals in der Mehrheit. Quer über den Kontinent verlieren Pro-EU-Parteien zugunsten von links- und rechtspopulistischen EU-Kritikern entscheidende Wahlen. Die Politik hat offenbar das Vertrauen der Bürger verloren. Die Zentrifugalkräfte, welche die Union zum Auseinanderdriften bringen, werden stärker. Was wir gerade erleben, ist nicht grundsätzlich neu in der Geschichte des Einigungsprozesses. Schon in der Vergangenheit waren substantielle Integrationsschritte fast immer das Ergebnis von Kompromissen, mit denen die Politik anstehende Krisen zu bewältigen versuchte. Doch angesichts der Vielzahl der europäischen Krisenschauplätze ist eine Kompromissformel, mit der sich die Bruchlinien kitten lassen, nicht in Sicht. Und mit der EU droht auch das sozialstaatliche Gesellschaftsmodell, welches von der europäischen Form des Kapitalismus hervorgebracht wurde, zu scheitern. Europa steht kurz davor, nicht nur als einer der attraktivsten Lebensräume, sondern auch als der mit Abstand wichtigste Wirtschaftsraum unseres Planeten ins Hintertreffen zu geraten.

Schwache Regierungen stärken die Europakritiker
Dass es auch viele nationale Ursachen für die EU-Krise gibt, zeigt sich deutlich am österreichischen Beispiel. Jahrelang wurden aus Angst vor unpopulären Reformen Probleme bagatellisiert und dringend nötige Maßnahmen verschleppt. Denn wer eine Politik betreibt, die nicht an den nächsten Wahltag denkt, und seinen Bürgern notwendige Einschnitte zumutet, um den Sozialstaat und die Wettbewerbsposition zu retten, wird von den Wählern hart bestraft.

In Österreich regiert daher seit langem eine ängstliche Koalition, die, obwohl sie die Probleme kennt, zulässt, dass das Land bei sämtlichen Standortrankings nach hinten durchgereicht wird und die Abgabenquote die Schwelle zur Leistungsfeindlichkeit durchbrochen hat. Daher stagniert die Wirtschaft auch aus nationalen Gründen und die Arbeitslosigkeit steigt. Mit dieser Politik der Reformverweigerung hat die österreichische Regierung das Sozialsystem in die Unfinanzierbarkeit und die unzufriedenen Wähler erst recht in die Hände der Oppositionsparteien geführt. Dass der Schwarze Peter dabei meist reflexartig an die Brüsseler Bürokratie weitergegeben wird, trägt auch nicht dazu bei, um den Aufstieg der europakritischen FPÖ aufzuhalten, die sich wiederum hervorragend darauf versteht, die steigende Unzufriedenheit in steigende Zustimmung umzumünzen.

Anstatt die Freiheitlichen in eine ernsthafte Verantwortung – in Regierungsverantwortung – zu nehmen, klammern sich die Pro-EU-Parteien SPÖ und ÖVP aneinander und gefallen sich darin, die FPÖ als Rechtspopulisten oder gar Rechtsextreme auszugrenzen. Diese Politik spielt den EU-Gegnern in die Hände. Denn zum FPÖ-Masterplan auf dem Weg zur Mehrheitspartei gehört durchaus auch, die anderen Parteien mit xenophoben und oft auch wirtschaftsfeindlichen, aber jedenfalls populistischen Forderungen vor sich herzutreiben. Und so liefern die Freiheitlichen den „Altparteien“ täglich neue Gründe, um diese vor möglichen Kooperationen zurückschrecken lassen.

Die EU-Errungenschaften gelten als
selbstverständlich, die EU-Probleme nicht
Doch in der Demokratie hat derjenige Recht, der gewählt wird. Dass die österreichische Regierung trotz ihrer Reformverweigerung weder für die Konstruktionsfehler des Euro noch für den gescheiterten Arabischen Frühling und seine Bürgerkriege verantwortlich ist, wissen zwar auch die Wähler. Sie wollen dennoch jemand dafür zahlen sehen, dass sich ihr persönliches Lebensumfeld nicht verbessert und dass das Land von Problemen wie dem Flüchtlingsansturm heimgesucht wird. Dabei hätten gerade die Österreicher allen Grund dazu, sich über den Wohlstandsschub, zu dem der EU-Beitritt geführt hat, zu freuen. Denn der EU-Binnenmarkt bietet noch immer Riesenchancen für die heimische Wirtschaft. Erst der freie Austausch von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital über die europäischen Grenzen hinweg hat es vielen Unternehmen ermöglicht, ihre Geschäfte zu globalisieren und die Ertragschancen entsprechend zu steigern. Allein durch den Wegfall der Zollgrenzen und -formalitäten sparen sich die österreichischen Betriebe jährlich bis zu 4,3 Milliarden Euro. Doch das wird von den EU-Skeptikern ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie die 13.000 Jobs, die durch die EU-Mitgliedschaft jährlich zusätzlich entstehen.

Besonders bemerkenswert ist, dass die Pro-Europa-Einstellung sogar in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, die den Großteil ihres heutigen Wohlstands der EU-Integration verdanken, gekippt ist. Aktuell votierten die Polen gegen ihre EU-freundliche Regierung. Die Klage von Ungarn und der Slowakei gegen die mehrheitlich beschlossenen Flüchtlingsquoten beim Europäischen Gerichtshof kommentierte der ÖVP-Europaabgeordnete Othmar Karas sogar mit den harten Worten: „Solche Klagen kommen Austrittsanträgen gleich.“

In Dänemark verhinderte die traditionell europaskeptische Bevölkerung in einem Referendum gerade erst die Mitwirkung ihres Landes an der europäischen Zusammenarbeit der Justiz- und Polizeibehörden. Der Grund dafür ist wohl eher im mangelnden Vertrauen in die EU-Institutionen zu suchen als darin, dass die Dänen ihre Sicherheitsdefizite nicht international gelöst sehen wollen. Als möglicher Ausweg aus der Krise wird inzwischen wieder das zuvor längst schubladisierte Konzept von einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten genannt, bei denen die Mitgliedsländer die Möglichkeit haben, selbst darüber zu entscheiden, welchen Integrationsmodulen sie sich unterwerfen wollen und wo nationales Recht weiterhin vor dem Gemeinschaftsrecht stehen soll. Denn aus der EU austreten wollen ja weder Dänemark und schon gar nicht Ungarn oder die Slowakei. Stattdessen steht Rosinenpickerei in einem „Europe à la carte“ auf der Agenda.

Der drohende Brexit ist die größte Gefahr für den Bestand der EU
Die Idee, dass die Mitgliedsländer die Elemente der europäische Einigung wie einen Bausatz für sich anwenden, indem sie jene Elemente herausnehmen, die der Historie, der Kultur und der Mentalität des jeweiligen Landes entsprechen, ist nicht neu. Großbritannien hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass es für sich einen europäischen Maßanzug beansprucht und keinen Uniformzwang akzeptiert. Und so sehen viele Beobachter Premierminister David Cameron, der ja bis spätestens Ende 2017 ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Union abhalten wird, um eine britische Extrawurst durchzusetzen, durchaus in einer bewährten britischen Tradition. Doch die meisten anderen EU-Mitglieder und ganz besonders die Anhänger einer vertieften Integration haben die Nase voll von den britischen Sonderwünschen. Sie würden es insgeheim daher sogar begrüßen, wenn das Referendum tatsächlich zum EU-Austritt führen würde. So sieht etwa die europäische Linke die Chance, einen „Brexit“ dazu zu nützen, um die EU noch nachhaltiger zu einer Transferunion umzubauen. Obwohl Cameron alles nur keinen EU-Austritt will, haben die Austrittsbefürworter zwischenzeitlich eine Mehrheit bei den Meinungsumfragen. Der britische Regierungschef hat umfassende EU-Reformen als Voraussetzung für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union gefordert. Nicht-Euro-Länder wie Großbritannien dürften nicht gegenüber der Euro-Gruppe benachteiligt werden. Großbritannien will sich außerdem vom EU-Ziel einer immer engeren Gemeinschaft verabschieden. Noch vor dem Referendum will er daher die EU reformieren, um den Briten einen Verbleib in der Union schmackhaft machen zu können.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat bereits Verhandlungen über die britischen Wünsche angekündigt, doch vom EU-Parlament, dessen Machtposition in der Vergangenheit mit jeder weiteren Integrationsstufe gestärkt wurde, ist erbitterter Widerstand zu erwarten. Auf die Hilfe der Europäischen Volkspartei darf Cameron seit dem Austritt der Torys der EPP-Fraktion dabei ohnehin nicht mehr zählen.

Cameron steht in Bezug auf die EU unter großem innenpolitischen Druck: Ein mächtiger Flügel der britischen Konservativen ist EU-feindlich gesinnt. Mit Nigel Farage und seiner „UK Independence Party“ gibt es einen Gegner, der den EU-Austritt Großbritanniens zum Parteiprogramm erhoben hat. Als Befürworter für den EU-Verbleib gilt derzeit nicht einmal die britische Wirtschaft. Vor allem der internationale Finanzplatz in der „City of London“ kämpft für einen britischen Sonderweg – abseits der Brüsseler Regularien. Die Finanzmanager pokern hoch, denn das Schlimmste, was aus ihrer Sicht passieren könnte, wäre wohl ein EU-Austritt. Der würde die globale Bedeutung von London als Finanzplatz massiv gefährden. Die Briten hoffen jedoch auf ein Einlenken Deutschlands, denn bei einem britischen Austritt würde sich gerade aus Berliner Sicht die Sinnfrage über den Verbleib in einer südländisch dominierten Rest-EU deutlicher als je zuvor stellen. Anstatt für oder gegen einen EU-Austritt zu werben, will sich Großbritannien eine EU, die zum Inselkönigreich passt, zusammenbasteln.
Und gerade weil eine Union ohne Briten für Deutschland keinen Sinn mehr ergibt, wird Angela Merkel – oder wer auch immer 2017 an der Spitze der deutschen Regierung steht – alles tun, um das Inselreich in Europa zu halten. Nicht mit einer EU-Reform im Sinne von David Cameron, jedoch mit weiteren britischen Rabatten, Sonderwegen und Ausnahmen. Ein „Europe à la carte“ exklusiv für die Insel wird jedoch den Europakritikern quer über den Kontinent weiteren Treibstoff für ihre von nationalen Eigensinnigkeiten geprägte Politik liefern. -jot-

Titelgeschichte Fazit 119 (Jänner 2016, 10/2015) – Illustration: Peter Pichler

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