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Sturm aus der Vogelperspektive

| 29. Juni 2018 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 144, Fazitgespräch

Foto: Erwin Scheriau

Sturm-Trainer Heiko Vogel über seine Handschrift, den Wirtschaftsfaktor Fußball und die Axiome von Paul Watzlawick.

Das Gespräch führten Peter K. Wagner und Volker Schögler.
Fotos von Erwin Scheriau.

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Entspannte Zeiten könnte man vermuten. Die Meisterschaft überaus erfolgreich als Zweiter abgeschlossen, den österreichischen Pokal nach acht Jahren wieder nach Graz geholt – da lässt es sich entspannt in die Saisonvorbereitung starten bei Sturm Graz.

Doch der Alltag von Fußballfunktionären ist irgendwie nie richtig entspannt. Der sportliche Geschäftsführer Günter Kreissl hätte dem Fazit hier im Trainingszentrum Messendorf eigentlich Rede und Antwort stehen wollen. Aufgrund aktueller Entwicklungen musste er aber kurzfristig absagen. Als sich in der Redaktion schon Gerüchte um einen Abschied Kreissls zur Wiener Austria breitmachten, wurde klar, dass doch nur neue Spieler verpflichtet werden mussten.

Immerhin sind erfolgreiche Saisonen für Vereine wie Sturm meist auch mit der Herausforderung verbunden, die besten Spieler durch neue Hoffnungsträger zu ersetzen. Heiko Vogel ist in diese Prozesse miteinbezogen, tat sich aber dennoch etwas leichter, einen frühen Nachmittag freizuhalten. Fast zwei Stunden lang nahm er im Besprechungsraum der Geschäftsstelle Platz. Und sprach mit uns über Sturm Graz, den Fußball im Allgemeinen und das Trainersein im Speziellen.

***

Herr Vogel, Sie greifen als Trainer mitunter zu ungewöhnlichen Methoden. Vor einem Spiel haben Sie Knockoutszenen von Mike Tyson und Muhammad Ali gezeigt. Vor dem überraschend gewonnenen Cupfinale gegen Salzburg haben Sie Winston Churchill zitiert. Warum tun Sie das?
Ich glaube, Sprache ist das, was uns am deutlichsten von den Tieren unterscheidet. Wir können Dinge, die nicht vorhanden sind, konkretisieren. Sprache ist ein wichtiges Tool, um Informationen unmissverständlich zu vermitteln. Noch eindrucksvoller ist der bildhafte Kanal. Es ging vor dem LASK-Spiel darum, dass ich mit der Leistung der Mannschaft schon zufrieden war, aber wir haben immer versäumt, uns für die Leistung zu belohnen. Also habe ich den Spielern ein Video gezeigt, in dem der Begriff des Knockouts zentral im Mittelpunkt stand und habe gesagt: »Das ist es, was ich mir vorstelle, wenn ich von einem Knockout rede.« Ich habe vielleicht nicht die Zeit, Muße oder den Intellekt, Dinge so auszudrücken, wie es ein Churchill gemacht hat. Deshalb bediene ich mich bei solchen herausragenden Persönlichkeiten.

Was sagten Sie den Spielern in Anbetracht der Herausforderung dieser Saison? Es heißt, Erfolge zu bestätigen ist schwerer als sie einzufahren. Insofern steht Ihnen eine sehr schwierige Spielzeit bevor.
Ich möchte schwierig mit »nicht selbstverständlich« ersetzen. Aber sonst haben Sie Recht. Wenn wir eine sehr erfolgreiche Saison spielen, wecken unsere Spieler Begehrlichkeiten. Daher gibt es heuer auch einen kleinen Umbruch im Kader. Da ist schon die erste Gefahr vorhanden, da wir zum Teil erst wieder Automatismen entstehen lassen müssen. Das braucht Zeit. Das andere ist, dass die Konkurrenz – speziell die Wiener Vereine – finanziell alles in Waagschale geworfen haben, um uns in die Suppe spucken zu können. Aber diese Facetten bergen Spannung und machen unter anderen diese Sportart aus.

Noch einmal nachgehakt: Sie sind gerade einmal ein halbes Jahr Sturmtrainer, wurden im Vorjahr Cupsieger und Vizemeister. Da in Salzburg die Millionen von Red Bull zur Verfügung stehen und auch die Wiener Klubs Rapid und Austria budgetär klar über Ihrem Verein eingeordnet sind, muss man fragen: Sind Sie in Graz schon am Zenit angelangt?
Gemessen an den Erfolgen wird es mit Sicherheit schwer, diese Saison zu wiederholen, weil die Konkurrenz stark ist. Aber messbarer Erfolg ist das eine. Mich reizt, dass man meine Handschrift erkennen kann. Ich hätte es gerne, dass der Stadionbesuch noch unabhängiger von der Tabellensituation attraktiv ist. Die Leute sollen kommen, weil wir für einen ansehnlichen Fußball stehen.

Foto: Erwin Scheriau

Gibt es Ihrer Meinung nach einen Weg, um budgetär und infrastrukturell näher an die drei größeren Klubs Österreichs – Salzburg, Rapid und Austria – heranzukommen?
Unlängst ist eine Statistik erhoben worden, dass es bereits Vereine gibt, die uneinholbar sind. Das gilt etwa für die Bayern in Deutschland. Aber ich habe es als Trainer bei Basel auch erlebt, dass eine Champions-League-Gruppenphase ein finanzieller Jackpot ist. Das heißt, selbst erfolgreich zu sein, hilft natürlich. Nicht nur aufgrund von Europacupeinnahmen, sondern auch, weil sich Spieler ins Rampenlicht spielen, so wie es Peter Zulj bei uns im Vorjahr geschafft hat. Solche Spieler können dann Transfererlöse lukrieren, die einem Verein wie Sturm Graz sehr helfen können. Salzburg ist für uns die nächsten Jahre dennoch zu weit weg und auch die Wiener Vereine sind budgetär schwer zu erreichen.

Sie haben Ablösesummen angesprochen. Diese haben sich im Fußball in den vergangenen Jahren inflationär entwickelt. Ist das noch nachvollziehbar?
Das ist mit Sicherheit einer der sinnvollsten Fragen, die man in diesem Zusammenhang stellen kann. Und sehr schwer zu beantworten. Fußball ist ja leider Gottes nicht mehr nur Sport. Der Faktor Wirtschaft innerhalb der Sportart hat immens zugenommen. Ich bin zwar kein altmodischer Mensch, aber ich bin ein Anhänger von Traditionen. Ob das Trachten oder Verhaltensweisen sind. Leider steht die Evolution über der Tradition. Wenn ich in der Tradition verharre, bleibe ich wahrscheinlich ewig gestrig und verpasse die Aktualität. Es ist einfach so. Die Summen, die jetzt bezahlten werden, müssen ja irgendwo ihren Ursprung haben. Ein Neymar hat 222 Millionen gekostet. Man kann sich vorstellen, wie viele Trikots von ihm verkauft werden und sich ausrechnen, ob diese Investition nicht auch zum Teil wieder zurückkam.

Zumal Trikots von Spitzenmannschaften wie Paris Saint-Germain mittlerweile über 100 Euro kosten.
Genau. Beckham war der erste Spieler, der eine horrend hohe Ablösesumme lukrierte, als er damals zu Real Madrid wechselte. Innerhalb von zwei Wochen hatte er sich aber refinanziert. Ich mag diese Entwicklung definitiv nicht gutheißen, weil für Spieler, die ich manchmal gar nicht kenne, 30 oder 40 Millionen Euro bezahlt werden. Ich hoffe, dass der Fußball nicht implodiert. Aber ich glaube ganz einfach, dass die Gesetze der Marktwirtschaft reagieren. Bei jeder Weltmeisterschaft wird noch mehr eingenommen, in jeder Champions League-Saison noch mehr lukriert. Man darf den Wirtschaftsfaktor Fußball, von dem die Bevölkerung profitiert, aber auch nicht unterschätzen. Wenn man alleine an Arbeitsplätze denkt. Es ist ein zweischneidiges Schwert.

Sie waren Trainer beim FC Basel, einem jener Klubs, die nicht um den Titel in der Champions League mitspielen, aber regelmäßig eine gute Rolle spielen, und kennen als ehemaliger Amateuretrainer auch den FC Bayern München, einen der größten europäischen Klubs, aus nächster Nähe. Wie steht der österreichische Fußball im Vergleich da?
Der österreichische Fußball verkauft sich unter Wert. Mein Gefühl ist, dass es etwas mehr Selbstbewusstsein bedürfen würde. Es gibt viele Teams, die sehr gut arbeiten. Aber diese gute Arbeit wird zu schlecht vermarktet. Es herrscht mir zu viel Understatement. Österreich hat unlängst nicht umsonst Deutschland völlig verdient geschlagen.

Zum Anlass der Fußball-Weltmeisterschaft hat Lukas Matzinger im Falter ein Essay veröffentlicht, in dem er dem Fußball zuschreibt, ein schönes und massentaugliches Spiel zu sein, aber keinerlei politische und kulturelle Bedeutung zu haben. Wird Fußball überschätzt?
Nein, ich sehe das anders. Ich will nicht so weit gehen, dass durch Fußball politisch höchst brisante Konflikte deeskaliert werden können. Ich sehe aber durchaus, dass Sport Annäherungen fördern kann. Man denke nur an die vergangenen olympischen Winterspiele mit dem gemeinsamen Dameneishockeyteam von Nord- und Südkorea. Fußball ist der beliebteste Sport der Welt, hat entsprechend großes Potential. Er kann verbindend und völkerverständigend sein und hat de facto eine positive Wirkung.

Es gibt den alten Hut der homosexuellen Fußballer, die es offiziell nicht gibt – außer sie treten zurück wie der ehemalige deutsche Nationalspieler Thomas Hitzlsperger. Wie stehen Sie zu diesem Thema?
Ich würde mir wünschen, dass die Toleranz siegt. Manchmal ist die Zeit noch nicht reif. Und das »noch« möchte ich unterstreichen. Ein Fußballer, der sich outet, muss unfassbar stark sein. Der Fußball sieht sich sehr männlich, gefühlt dürfen Spieler auch erst seit kurzem weinen. Das ist natürlich alles Schwachsinn. Ein Fußballer ist auch nur ein Mensch, der von Gefühlen geprägt ist.

Fußballer dürfen nicht nur weinen, Sie dürfen auch darüber sprechen, was es psychisch bedeutet, Fußballer zu sein. Per Mertesacker, ein anderer deutscher Ex-Nationalspieler, sprach kürzlich darüber, dass ihn der Druck des Profigeschäfts aufzufressen drohte. Müssen wir Mitleid haben mit Fußballern?
Ich glaube nicht, dass er Mitleid wollte. Er wäre wohl ausgestiegen, wenn es zu viel geworden wäre. Man darf nicht vergessen, dass er Robert Enke miterlebt hat (Anm.: der deutsche Nationalspieler beging Selbstmord). Leistungsdruck gibt es in allen Berufen. Aber im Fußball kann ich am Montag immer nachlesen, wie meine Leistung als Spieler bewertet wird. Man lernt damit umzugehen, aber einfach ist es nicht. Der Mensch wird eben lieber gelobt als kritisiert. Ich fand es mutig, dass Per den Leistungsdruck im Fußball ansprach, weil es ähnlich wie mit Homosexualität bei Fußballern eigentlich stets eine Tabuzone war, sein Innerstes nach außen zu kehren.

Für Außenstehende ist nicht nur der im Fußball vorherrschende Druck schwer nachzuvollziehen, auch das Trainertum an sich. Wie kann man sich die Aufgabe vorstellen, etwa 23 Spieler mit all ihren Wünschen und Bedürfnissen durch eine Saison zu manövrieren? Hat es Ähnlichkeiten zur Führung in einem Wirtschaftsunternehmen?
Ich sehe einen großen Unterschied. Wir alle im Fußballgeschäft haben unser Hobby zum Beruf gemacht, was ein sehr großes Privileg ist. Aufgrund dessen haben wir Trainer mit unseren Spielern einen Konsens, den der Abteilungsleiter und seine Mitarbeiter in dieser Homogenität schwer erreichen können. Sonst ist Führung von Menschen immer ein Geben und Nehmen. Ich übernehme gerne Verantwortung, übergebe sie aber auch gerne, weil ich Menschen vertraue. Und auch da muss ich sagen, dass Kommunikation alles ist. Man kann nicht nicht kommunizieren, lautet nicht umsonst eines der Axiome von Watzlawick.

Früher sind fast ausschließlich verdiente Fußballhelden in die Trainerlaufbahn übergangen. Jetzt gibt es Trainer, die geschult sind oder wie Sie Watzlawick und Churchill zitieren. Ist das ein Trend?
Mit Domenico Tedesco, Julian Nagelsmann [Anmerkung: Trainer von Schalke 04 bzw. TSG Hoffenheim] und Co. wird dieser Trend gerade beschrieben. Trainer, die unter 30 die Ausbildung zum so genannten Fußballlehrer gemacht haben und ursprünglich Jugendteams trainiert haben. Ich habe vor dreizehn Jahren genau dasselbe gemacht, aber es hat keinen interessiert. Es ist ein stilisiertes Bild. Ich möchte deshalb nicht in eine Kerbe schlagen. Ein Nagelsmann ist ein hervorragender Trainer, aber Jupp Heynckes bei Bayern München auch. Und das sind die Antipoden. Ich wehre mich gegen Kategorisierung. Nagelsmann kann nichts dafür, dass er jung und gut ist. Und Heynckes kann nichts dafür, dass er ein guter Spieler war und ein erfolgreicher Trainer ist. Ich würde mir übrigens von beiden etwas abschauen.

Der Tennisstar Rafael Nadal hat kürzlich gesagt, dass Männer besser bezahlt werden sollen, …
… weil die weiblichen Models ja auch mehr bekommen würden.

Foto: Erwin Scheriau

Genau. Wie ist das im Fußball?
Das ist eine schöne Glatteisfrage. [lacht] Ich glaube, es geht immer um Angebot und Nachfrage. Wenn man zeitgleich ein Finale im Herren- und Damen-Tennis ansetzt und 10.000 Leute befragt, wo sie hingehen wollen, werden 80 Prozent das Herrenspiel wählen.

Bei einem vergleichbaren Fußball-WM-Endspiel wären es noch mehr.
Ja. Weil man im Fußball die physischen Unterschiede zwischen Männer und Frauen vielleicht noch stärker sehen kann.

Die Einführung des Videobeweises war schon in der deutschen Bundesliga im vergangenen Jahr immer wieder ein Grund für Diskussionen. Hat es der Videobeweis deshalb so schwer, weil so viele Situationen nicht eindeutig zu beurteilen sind? Man denke nur an Handspiel im Strafraum.
Gerade Handspiele sind eigentlich ganz einfach. Jede Saison kommen ja Schiedsrichter auf die Klubs zu und erklären, welche Regeln wie gehandhabt werden. Wenn ich meine Körperfläche vergrößere, ist es Handspiel. Geht der Ball aber von einem meiner Körperteile auf die Hand, ist es kein Handspiel, weil die Reaktionszeit nicht im menschlichen Rahmen liegt, darauf reagieren zu können. Ob es Sinn ergibt oder nicht – das ist eindeutig. Wenn ich mir gewisse Entscheidungen vor Augen führe, wird es aber nicht immer gleich ausgelegt.

Müssen Schiedsrichter besser geschult werden?
Wenn ich mir Spiele noch einmal weniger emotional geladen anschaue, erkenne ich, dass die Schiedsrichter meistens eh recht hatten. So viel machen die nicht falsch. Und wenn doch, muss man sagen, dass es im Wesen des Menschen liegt, dass man einmal Fehler macht. Wenn man an die vielen Millimeterentscheidungen denkt, die man sich im Fernsehen mehrmals in Zeitlupe anschaut und nicht immer sofort weiß, wie es zu entscheiden gewesen wäre, erkannt man: Unparteiische machen wirklich wenige Fehler. Immerhin müssen sie ad hoc eine Entscheidung treffen.

Aber ist der Videobeweis zuträglich, wenn es danach nur noch mehr Diskussionen gibt?
Ich würde das machen, was wirklich definitiv ist und final: Torlinientechnik. Sonst bin ich Traditionalist. Die Diskussion, ob es am Vorabend Elfmeter geben hätte dürfen, macht ja auch das Stammtischgespräch am nächsten Morgen aus.

Wir werden unterbrochen. Die Auslosung für die 2. Runde der Champions League-Qualifikation steht an. Sturm Graz zieht den niederländischen Vizemeister Ajax Amsterdam als Gegner.

Herr Vogel, es geht nach Amsterdam. Und damit nicht nach Basel zu Ihrem früheren Verein, der die einzige mögliche Alternative war. Freuen Sie sich trotzdem?
Mir wäre Basel lieber gewesen, aber nicht unbedingt, weil ich dort als Trainer war, sondern weil es das einfachere von zwei schweren Losen gewesen wäre.

Ein Aufstieg wäre eine kleine Sensation. Dann wären aber noch zwei weitere Runden gegen renommierte Klubs zu überstehen, um Sturm Graz erstmals seit 2001 wieder in der Gruppenphase der Champions League zu sehen.
Ja, dass wir heuer in die Champions League kommen, ist etwa so realistisch wie drei aufeinander folgende Champions-League-Titel von Real Madrid. [lacht]

Seit heuer wissen wir, dass das möglich ist. Real-Trainer Zinedine Zidane ist nach dem dritten Titel zurückgetreten. Treten Sie dann auch zurück, wenn Sturm diesen Sommer die Gruppenphase der Champions League erreicht?
Auf jeden Fall. Dann bin ich tatsächlich am Zenit. [lacht]

Herr Vogel, wir danken für das Gespräch.

*

Heiko Vogel wurde am 21. November 1975 in Bad Dürkheim geboren. Mit 21 Jahren musste er aufgrund einer Knöchelverletzung eine mögliche Karriere als Profifußballer abschreiben und startete seine Trainerkarriere. 2012 gewann er mit dem FC Basel das Double aus Meisterschaft und Pokal und wurde in der Schweiz zum Trainer des Jahres gewählt. Später trainierte er zunächst die U19 und dann die zweite Mannschaft des FC Bayern München. Seit Frühjahr 2018 ist er neuer Übungsleiter des SK Sturm. Mit den Grazern gewann er gleich in seiner ersten Saison den Cup. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Fazitgespräch, Fazit 144 (Juli 2018), Fotos: Erwin Scheriau

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