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Die Fragen der Würde

| 9. Juli 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 154, Fazitgespräch

Foto: Marija Kanizaj

Caritas-Direktor Herbert Beiglböck über die Nähe der politischen Parteien zur Kirche, soziale Kälte und das Konservieren der Urcaritas.

Das Gespräch führten Peter K. Wagner und Christian Klepej.
Fotos von Marija Kanizaj.

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Bunt bemalte Holzbalken säumen den Neubau. In der Mitte ist der Name der Einrichtung zu lesen: Schlupfhaus. Es ist nur eine von vielen Einrichtungen der Caritas der Diözese Graz-Seckau, die eine liebevollen Namen trägt und in die Menschen einkehren, die mitunter vom Schicksal gebeutelt wurden.

Das Schlupfhaus ist eine Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene, das einfach zugängliche Soforthilfe anbietet. Ein Bett, ein warmes Essen, eine Dusche, aber auch eine Waschmaschine, ein Telefon oder Internet. Es bietet die Möglichkeit für eine Verschnaufpause, heißt es auf der Website der Caritas Steiermark.

Es ist jener Ort, den wir mit Herbert Beiglböck vereinbaren, um uns in einem einstündigen Gespräch der Arbeit der Caritas zu nähern. Als wir ein paar Minuten vor dem vereinbarten Treffpunkt durch die Türe eintreten wollen, öffnet uns der Caritas-Direktor persönlich die Tür.

***

Herr Beiglböck, darf für einen Politiker gebetet werden?
Für jeden Menschen kann gebetet werden, allerdings ist immer die Frage, ob das Gebet öffentlich sein muss. Typisch ist eher, im Verborgenen zu beten.

Darf man als Politiker bei einem Awakening-Event so auftreten wie Sebastian Kurz?
Natürlich ist Religion etwas Öffentliches, aber kein Element der öffentlichen Inszenierung. Und es wird kritischer, wenn so ein Gebet im Verbund mit einer Veranstaltung stattfindet, die von Gruppen getragen wird, zu denen man berechtigterweise die eine oder andere Frage stellen kann. Ich frage mich zum Beispiel schon, ob sich bei den evangelikalen Gruppen, die Träger dieses Awakening-Events waren, noch das Christentum spiegelt, für das die Caritas steht. Mein Verständnis – und da spricht eher der Theologe aus mir – ist, dass sich der Glaube auch in den Argumenten darstellen lassen muss. Es geht immer darum, das, was wir aus dem Evangelium verstehen, mit all unserer Kompetenz und großer Anstrengung in die heutige Zeit zu übersetzen. Das braucht ein Stück Interpretation dessen, was biblische Botschaft ist. Und zwar in einer Differenziertheit, die ich in manchen evangelikalen Gruppen vermisse und die in meinem Verständnis aber ganz stark zum Katholischen dazugehört. Viele dieser Gruppen laufen Gefahr, manche Fragen sehr schwarz-weiß zu beantworten. Eine Gefahr, die auch unserer Gesellschaft nicht fremd ist.

Weil wir gerade über den Chef der neuen Volkspartei gesprochen haben. Hat die neue Volkspartei ihren christlich-sozialen Charakter verloren?
Es gibt die noch immer gültige Formel von Kardinal König, dass die Parteien ihre Nähe und Distanz zur Kirche und auch zur Caritas selbst bestimmen. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass die gesamte gesellschaftliche Situation sehr dynamisch ist und es immer wieder Situationen gibt, wo die eine Partei der Kirche mal nähersteht und dann wieder eine andere. Für mich ist entscheidend, dass in möglichst allen Parteien gute Ansätze vorhanden sind, in denen sich das Christlich-Soziale abbildet und die Verantwortung für das Gemeinwohl und die Schwachen unserer Gesellschaft deutlich wird. Diese Ansätze sehe ich auch aktuell in allen Parteien mehr oder minder ausgeprägt.

Als die türkis-blaue Regierung Geschichte war, haben Sie in einer Pressekonferenz gesagt, Sie seien »nicht extrem traurig«, dass ÖVP und FPÖ sich nicht mehr in einer Koalition befinden. Wir interpretieren: Sie waren nicht der größte Fan der letzten Regierung.
In der Wahrnehmung der Caritas und auch in meiner persönlichen war die Frage der Menschenwürde unabhängig von Herkunft und Religion in der letzten Bundesregierung nicht hoch angesiedelt. Wir hatten auch den Eindruck, dass die zivilgesellschaftliche Beteiligung bei vielen Regierungsvorhaben mangelhaft war.

Foto: Marija Kanizaj

In welchen Bereichen zum Beispiel?
Nehmen wir die Asylwerber, die begonnen haben, einen Beruf zu erlernen und schon auf einem sehr guten Integrationsweg waren. Wir wissen, dass wir diese Facharbeiter brauchen würden, und trotzdem werden diese Menschen abgeschoben. Das ist menschlich ziemlich unwürdig und auch für unsere wirtschaftliche Situation nicht g’scheit. Da geht es darum, Standpunkte durchzusetzen und Härte zu zeigen, die nicht menschengerecht ist. Wir hatten auch den Fall einer Tschetschenin, die in einer unserer Caritas-Einrichtungen untergebracht war und rechtmäßig abgeschoben wurde nach den Dublinkriterien, obwohl sie sich gerade einer Chemotherapie unterzog. Ein paar Monate nach ihrer Abschiebung verstarb sie an Krebs. An so einer Person zerbricht unser Staat nicht, das könnten wir uns leisten.

Auf der Caritas-Website steht, Sie wünschen sich weniger soziale Härte in der österreichischen Politik und ein stärkeres Verständnis für ein Füreinander in unserer Gesellschaft. Wir haben in der EU etwa acht Prozent der Weltbevölkerung, 22 Prozent der Wirtschaftsleistung und 50 Prozent der Sozialleistungen weltweit. Wir geben also ungemein viel Geld für unseren Sozialstaat aus. Wie kann man dann von Zeiten sozialer Härte sprechen?
Zum einen muss man sagen, dass die großen Summen der Sozialausgaben die Pensionen, die Gesundheit, Jugendwohlfahrt und Pflege betreffen. Die klassischen Sozialausgaben wie Mindestsicherung sind ein sehr kleiner Teil. Niemand will aber die großen Brocken infrage stellen. Das zweite Thema ist die Frage der Abgabenquote. Die Schweden, Deutschen und Österreicher haben die höchste Abgabenquote und sind die Sehnsuchtsländer der Welt. Bulgarien und Rumänien – um in Europa zu bleiben – haben die niedrigsten Abgabenquoten, aber niemand will dorthin. Offensichtlich sind sozialstaatliche Regelungen sehr begehrt und machen aus, was als gutes Leben gesehen wird. Wir müssen dort weiterbauen, was den Menschen wichtig ist. Für mich ist die zentrale Frage, ob wir mit den Steuerleistungen gut und richtig umgehen. Eine 30-prozentige Abgabenquote wird in einem korrupten Land niemanden glücklichen machen.

Kommunizieren wir vielleicht die großartigen Leistungen unseres Sozialstaates zu selten?
Das würde ich sofort unterschreiben und sage ich auch öfters. Wir haben einen gut ausgebauten Sozialstaat. Es funktioniert viel. Wir haben keine Probleme mit Obdachlosigkeit und niemand muss hungern. Wir müssen nur schauen, dass wir nicht Schritte zurück machen. Die neue Sozialhilfe steht stellvertretend für die Gefahr, einen Schritt zurück zu machen, weil sich einzelne Personengruppen mit diesen Beträgen schwertun werden, existenzielle Bedürfnisse abzudecken. Worauf wir auch schauen müssen, sind die völlig neuen Formen von Armut. Wir sind hier im Schlupfhaus, einem Ort, an dem sich unter anderem zeigt, dass immer mehr junge Menschen den Einstieg in unsere Gesellschaft nicht schaffen. Wir müssen uns fragen, wie wir einen Beitrag leisten können, Menschen früh gut an einen geregelten Alltag in Beschäftigung heranzuführen, damit sie nicht ein Leben lang Mindestsicherung und Mindestpension empfangen. Auch in der Frage der Pflege wird gerade viel nachgedacht. Einsamkeit im Alter ist eine andere Facette der Armut, die mit Geld nicht abgedeckt ist. Wir müssen ein Netz der Aufmerksamkeit schaffen, um das Füreinander mehr ins Zentrum zu rücken.

Werden wir uns all das leisten können?
Wir zählen zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Wenn wir es uns nicht leisten können, wer dann? Wir werden in der Pflege eine gesicherte Finanzierung brauchen und ohne zusätzliche Belastung wird das nicht funktionieren. Ich glaube, dass die meisten Menschen in diesem Land bereit sind, das gemeinsam zu tragen. Wir müssen aber etwa darauf achten, dass wir die teure Form der Pflege in einer stationären Wohneinrichtung nur dann einsetzen, wenn sie auch nötig ist. Da braucht es andere Modelle, wie Pflege in der Familie oder Tagesseniorenzentren.

Sie haben angesprochen, dass es Menschen eben nicht nach Bulgarien oder Rumänien, sondern in reiche Länder wie Österreich zieht. Die Migration ist bestimmendes Thema unserer Zeit. Wie sollte man sich eine Lösung dieser Problematik Ihrer Meinung nach nähern?
Wir hatten 2014 und 2015 eine große Anzahl von Menschen, die aus verschiedenen Ländern nach Europa geflüchtet sind. Man kann ruhig sagen, dass es eine Situation war, die alle überfordert hat. Auch die Politik und die Caritas. Wir haben diese im Miteinander eigentlich erstaunlich gut bewältigt und daraus gelernt. Wir haben als Caritas etwa gelernt, dass die Integration von Menschen aus Syrien oder Afghanistan stärkerer Begleitung bedarf als Menschen, die während der Bosnienkrise zu uns kamen. Die eine Frage ist, wie wir mit den Menschen, die damals gekommen sind, jetzt gut umgehen. Ich halte es schon für überlegenswert, diese langen Verfahren abzuschließen und auch einen Ansatz zu finden wie jene Menschen, die einen negativen Bescheid haben, trotzdem bleiben können. Wenn Sie wollen: Eine Amnestie für jene Menschen, die vor fünf Jahren gekommen sind, damit hier Ordnung in das System kommt und die Menschen Gewissheit haben und sich an der Gesellschaft beteiligen können.

Foto: Marija Kanizaj

Und die globale Frage?
Wir haben Flüchtlingsströme auf der Welt, wir haben 2015 gelernt, dass es gesicherte Grenzen geben muss. Aber das, was die Genfer Konvention an verpflichtenden Asylgründen und Asylrechten definiert, sollten wir nicht schmälern. Wir brauchen diese Regelungen in dieser Situation. Ich glaube schon, dass die Europäische Union hier überlegen muss, wie das nationale Spiel zu einem gemeinsamen europäischen Projekt wird und wir Verantwortung übernehmen für Menschen, die berechtigterweise nach Europa kommen wollen.

Glauben Sie wirklich noch daran, dass das funktioniert?
Wir reden auch über den Klimawandel schon sehr lange und plötzlich haben wir das Gefühl, dass der Funke übergesprungen ist. Ich hoffe, dass auch in der Migrationsfrage der Punkt kommt, an dem erkannt wird, dass gewisse Dinge nur gemeinsam gelöst werden können. Bei allen Zweifeln, die ich mit Ihnen teile, sehe ich keine Alternative dazu.

Die letzte Regierung hat Integrationsmaßnahmen tendenziell zurückgeschraubt. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass durch weniger Integration brennende Vorstädte wie in Frankreich vor einigen Jahren herangezüchtet werden.
Das ist eine berechtigte Sorge. Wir haben zwei Phasen hinter uns: Wir hatten am Beginn dieser Entwicklung eine unglaubliche Willkommenskultur mit einer großen Hilfsbereitschaft. Dann wurde wahrgenommen, dass es nicht so einfach geht, und da oder dort machte sich Frustration breit. Bald haben wir eine gegenteilige Stimmung erlebt. Nun scheint mir der Zeitpunkt gekommen, an dem wir mit sachlich-vernünftigen Lösungen mit den Problemstellungen umgehen. Ich glaube, dass die Emotion in der Breite der Bevölkerung deutlich geringer geworden ist. Wir fragen uns, was notwendig ist, um diese Menschen zu integrieren. Weil, wenn wir eine größere Anzahl an Menschen haben, die kaum eine Chance auf Integration haben, wird es problematisch werden. Das betrifft anerkannte Flüchtlinge, die wir gut begleiten müssen, aber noch viel mehr jene gar nicht so kleine Anzahl von illegal bei uns lebenden Menschen, die einen negativen Bescheid haben, aber nicht abgeschoben werden. Diese Menschen haben keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und befinden sich in einem Graubereich.

Warum können diese Menschen nicht abgeschoben werden?
Weil die Heimatländer sie nicht zurücknehmen oder es keine sichere Situation in den Heimatländern gibt.

Herr Beiglböck, Sie sind seit 2016 Direktor der Caritas Diözese Graz-Seckau und scheinen mehr operativ tätig zu sein als Ihr Vorgänger Franz Küberl. Täuscht dieser Eindruck?
Franz Küberl war auch Präsident der Caritas Österreich und von dieser Aufgabenstellung her auch mit bundesweiten Themen beschäftigt. Ich kann meine Kraft und Energie der Caritas hier widmen. Das ist die rein formale Komponente. Ich glaube außerdem, dass man eine Organisation sehr gut kennen muss, um sie gut führen zu können. Ich möchte wissen, was in der Organisation passiert, um entsprechend in die Tiefe gehen zu können.

Vielen Menschen ist die Caritas wegen der Haussammlung ein Begriff. Wie wichtig ist die eigentlich noch?
Wir haben in der Steiermark ziemlich genau 100 Millionen Euro Umsatz. Ein Großteil dieses Umsatzes bewegt sich in Dienstleistungsbereichen wie Pflege oder Beschäftigung. Der klassische Arbeitsbereich »Hilfe« ist der kleinste Bereich bei uns, aber der Spendeneinsatz ist dort extrem wichtig. Wir haben insgesamt sechs Millionen Geldspenden, davon zwei Millionen fürs Ausland und vier Millionen fürs Inland. Davon wiederum ist knapp eine Million aus der Haussammlung.

Die Caritas hilft Menschen in sozialen Notlagen, aber wie sehr muss eine karitative Einrichtung auch unternehmerisch denken?
Die Spender, aber auch die öffentliche Hand erwarten sich zu Recht, dass wir mit den Mitteln sehr verantwortungsbewusst umgehen. Wir sichern, dass Spenden möglichst effizient eingesetzt werden. Es ist bei einer großen Organisation wie bei der Caritas auch eine Herausforderung, eine möglichst schlanke Struktur zu finden, um wirklich für die Menschen da zu sein. Das Zweite ist, dass alle Mitarbeiter ihr Gehalt bekommen wollen. Und zwar pünktlich. In der Größe, in der wir Verantwortung wahrnehmen, können wir das nur, wenn wir wirtschaftlich gut arbeiten. Trotzdem hoffe ich sehr, dass wir uns etwas von der Ursprünglichkeit der Caritas erhalten und stets kreativ genug sind, um helfen zu können, wenn es darauf ankommt.

Und wenn die finanziellen Ressourcen nicht vorhanden sind …
… dann müssen wir darüber nachdenken, wie wir es hinkriegen. Ein ständiger Begleiter einer Einrichtung wie der Caritas ist, dass es immer mehr Arbeit als Mittel gibt.

Es obliegt meinem journalistischen Ethos, dass die Leser erfahren, dass ich (Anm.: Peter K. Wagner) ein Naheverhältnis zur Caritas habe, weil ich auch in Teilzeit beim Caritasprojekt Megaphon tätig bin. Als ich angestellt wurde bei der Caritas, hieß es, ich müsse vielleicht zu Ihnen, da ich nicht mehr Mitglied der katholischen Kirche bin. Es sei in solchen Fällen üblich, ein persönliches Gespräch mit dem Caritas-Direktor zu führen. Ich wurde allerdings nicht vorgeladen. Warum?
Eine spannende Frage. Weil ich das nicht schaffe, mit allen Menschen, die ohne Bekenntnis sind, ein Gespräch zu führen. Die Grundfrage, die damit verbunden ist: Wir bewegen uns in einem Korridor. Wir sind die Hilfsorganisation der katholischen Kirche und müssen genügend Leute bei uns unter den Mitarbeitern haben, die von sich aus in der Lage sind, authentisch zu vermitteln, was die Identität der Caritas ist. Zur Identität gehört der Bezug zum Evangelium. Dafür ist eine Kirchenmitgliedschaft ein Indikator, aber nicht der einzige. Die andere Wirklichkeit ist aber auch, dass wir als große Institution möglichst viel von der Gesellschaft abbilden müssen. Und dazu gehört Diversität. Wir sind für alle da, aber schauen bei den Mitarbeitern, die Balance zu halten.

Gibt es dazu Zahlen?
Wir haben knapp 70 Prozent Mitglieder der katholischen Kirche, 15 Prozent sind Mitglieder anderer Religionen und etwa 15 Prozent sind ohne Bekenntnis.

Einen Caritas-Direktor, der nicht Mitglied der katholischen Kirche ist, wird es also nie geben?
Es ist zumindest sehr unwahrscheinlich.

Herr Beiglböck, vielen Dank für das Gespräch!

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