Eine Vermessung der Steiermark
Redaktion | 6. Dezember 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 158, Fazitthema
Die Steiermark ist ein Industriebundesland. Daher wächst die steirische Wirtschaft immer dann besonders stark, wenn das Konjunkturbarometer nach oben zeigt. 2017 waren es 3,5 Prozent und im Vorjahr geschätzte 3,4 Prozent. Wenn – so wie jetzt gerade – ein Abschwung ins Haus steht, ist die steirische Wirtschaft dafür traditionell stärker betroffen als das restliche Österreich. Text von Johannes Tandl.
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Die steirische Industrie verzeichnete im Vorjahr den größten Produktionsanstieg unter allen österreichischen Bundesländern. Doch nicht nur die stark internationalisierte Wirtschaft wuchs massiv. Auch die Bauwirtschaft und der Dienstleistungsbereich entwickeln sich so solide, dass sie den – wegen zahlreicher internationaler Verwerfungen von der Trump’schen Handelspolitik über den Brexit, die Automotive-Krise und Italien als rezessivem Dauerpatienten – einsetzenden Konjunktureinbruch so stark abdämpfen können, dass auch heuer kein massiver Abschwung droht. Daher wird auch das regionale steirische BIP-Wachstum für 2019 bei etwa 1,3 Prozent liegen – für Österreich prognostiziert die Nationalbank etwa 1,5 Prozent. Im Vorjahr lag die Steiermark beim Beschäftigungswachstum an der Spitze der Bundesländer. Die Zahl der Beschäftigten stieg um über 15.000 auf knapp 524.000 Personen. Die Zahl der Arbeitslosen sank von etwa 40.000 auf 35.000.
So sollen sie uns regieren
Die steirische Industrie hat sich anlässlich der Landtagswahl umfassende Gedanken zur Zukunftsfähigkeit der Steiermark gemacht.
Die IV-Steiermark hat eine breit angelegte Diskussionsrunde mit 100 Entscheidungsträgern der steirischen Industrie und industrienaher Dienstleister initiiert. Das Papier entstand in vier Workshops. Beteiligt waren auch Vertreter der Wissenschaft, externe Experten und Vertreter von jungen Unternehmen aus dem IKT-Bereich sowie von innovativen Start-ups. Herausgekommen ist ein umfassendes Papier, das den Titel »Leben« trägt. Darin werden 106 Lösungen für die Steiermark präsentiert.
Die steirischen Unternehmen erwarten, dass sich ihre Ideen im Programm der nächsten steirischen Landesregierungskoalition wiederfinden. Erste Kontakte zu den in Frage kommenden Parteien waren positiv – manche Forderungen, wie jene nach transparenten Benchmarks für alle Schulen und Lehrer des Landes – werden sich aber kaum durchsetzen lassen. Fazit sprach mit dem Präsidenten der Steirischen Industriellenvereinigung, Georg Knill, und mit ihrem Geschäftsführer, Gernot Pagger.
Täglich 10 Millionen Euro Netto-Investitionsvolumen, 43 Prozent Anteil am regionalen BIP, 14 Prozent Exportwachstum auf 25 Milliarden Euro. 3,6 Prozent regionales BIP-Wachstum, … Müsste die steirische Industrie nicht vollauf zufrieden mit der Entwicklung sein, die das Land nimmt?
Pagger: Rückblickend betrachtet, war 2018 ein Ausnahmejahr. 2019 hat sich das Wachstum halbiert und auch der Arbeitsplatzaufbau durch die Industrie steht vorläufig vor einem Ende. Die Industrie spürt längst erste Zeichen eines internationalen Abschwungs. Insgesamt betrachtet, erwartet uns nach dem Boom eine Normalisierung der Nachfrage. Und um auch in einem solchen Umfeld erfolgreich sein zu können, brauchen wir optimale Rahmenbedingungen.
Früher hat es immer geheißen, wenn die deutsche Wirtschaft einen Schnupfen hat, haben Österreich und insbesondere die Steiermark eine Grippe. Das scheint nicht mehr so zu sein, denn Österreich performt schon über mehrere Quartale besser als Deutschland. Hat die Bedeutung Deutschlands für die österreichische Wirtschaft abgenommen?
Knill: Unsere wichtigsten Exportpartner sind Deutschland, Großbritannien, die USA, Italien und China – und mit all diesen Ländern gibt es aktuell Probleme. Bei Deutschland ist es die Automotive-Krise, bei den USA kann uns die Handelspolitik deutlich zurückwerfen, bei Großbritannien ist der Brexit eine Gefahr, Italien ist wirtschaftspolitisch instabil und China versucht sich im Handelskonflikt mit den USA auf Kosten aller anderen durchzusetzen.
Das heißt, unsere wichtigsten Märkte könnten alle gleichzeitig einbrechen?
Knill: Tatsächlich gibt es auf all unseren Hauptexportmärkten massive politische Unsicherheiten. Ein Grund, warum die von Ihnen zitierte Grippe in der Steiermark noch nicht ausgebrochen ist, ist die gute Entwicklung Osteuropas. Mit diesen Märkten sind wir historisch und traditionell gut verflochten – diese guten Beziehungen können einiges kompensieren. Die polnischen und slowakischen Wachstumsraten von 3 bis 5 Prozent können die veritablen Herausforderungen in Deutschland aber nur teilweise ausgleichen. Was in Deutschland passiert, geht an uns also nicht spurlos vorbei. Ich kann daher nur davor warnen, nur die kurzfristige Entwicklung zu verfolgen. Mittel- und langfristig wird sich die Konjunkturschwäche in Deutschland auch auf Österreich auswirken.
Sind wir trotz unserer Exportstärke nur Passagier auf einem Schiff, das von den internationalen Entwicklungen gesteuert wird?
Pagger: Die Automotive-Krise ist zu einem nicht unwesentlichen Teil politisch verursacht worden. Und wer weiß, wie stark die steirische Wirtschaft als globaler Automotive-Zulieferer tätig ist, weiß auch, dass die Steiermark von internationalen Entwicklungen in dieser Branche nicht abgekoppelt bleiben wird.
Wo sehen Sie die Verantwortung für die – wie Sie sagen – gemachte Automotive-Krise?
Knill: Wo soll ich anfangen? Beim Dieselgate, dem EU-Klimaregime, das nur den CO2-Ausstoß der Gesamtflotte aller von einem OEM hergestellten Fahrzeuge als maßgeblich erachtet? Mit den Softwaremanipulationen gibt es natürlich einen hausgemachten Anteil, aber mit dem Aufkommen einer neuen Zolldiskussion gibt es auch einen amerikanisch gemachten Anteil oder einen politisch verursachten Anteil an der Krise. Diese Probleme können weder die österreichische Bundesregierung und natürlich erst recht nicht die steirische Landesregierung lösen. Daher brauchen wir vor allem auf europäischer Ebene wieder Handlungsfähigkeit. Dazu müssen wir eine gemeinsame Position formulieren, die dann die neue Kommissionspräsidentin als starke Repräsentantin der EU bei den Verhandlungen mit den USA oder China vertritt.
Das trauen Sie der EU zu?
Knill: Derzeit ist Europa tatsächlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber sowohl die Regierungschefs als natürlich auch die Kommissionspräsidentin könnten entsprechende Initiativen ergreifen. Daher wäre es extrem wichtig, dass die neue Kommission rasch in die Gänge kommt.
Pagger: Die europäische Schlagkraft ist ein ganz wesentlicher Punkt. Gerade jetzt, wo so viel Karten darauf warten, neu gemischt zu werden. Sämtliche Insider sagen uns, dass die Flottenziele, so wie sie derzeit formuliert sind, technisch nicht machbar sind.
Eigentlich sitzen wir heute beisammen, um ein Forderungspapier der steirischen Industrie an die Landespolitik zu diskutieren …
Knill: Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, was die Landespolitik angesichts der globalen Probleme für die Unternehmen tun kann. Es wird wesentlich von den Rahmenbedingungen, die unsere Mitglieder hier im Land vorfinden – und damit auch von der Landespolitik – , abhängen, wie erfolgreich die Unternehmen die auf uns zukommenden Verwerfungen bewältigen können. Wir Unternehmer können letztlich nur so erfolgreich sein, wie man uns lässt.
Die IV hat die Landesregierung bei Themen wie Verwaltungsreform und Budgetkonsolidierung immer unterstützt. Sind sie mit dem Budgetkurs und dem Reformtempo der abgelaufenen Legislatur wirklich zufrieden? Wäre da nicht mehr möglich gewesen?
Pagger: Wir brauchen endlich wieder Handlungsspielraum im Landeshaushalt, um die Zukunftsthemen bewältigen zu können. Die Strukturreformen in der Verwaltung und bei den Gemeinden waren tatsächlich ein großer Wurf. Aber jetzt – sechs Jahre später – sollte es möglich sein, einen nächsten Schritt zu setzen. Vor allem in den urbanen Zentren können noch viele Synergien genützt werden.
Knill: Wir denken diesbezüglich an sogenannte Functional Areas, in denen die Effizienz der Verwaltung gesteigert und die Wirkung der Politik optimiert werden kann. Die Menschen leben heute in Regionen, sie wohnen in der einen und arbeiten in der benachbarten Gemeinde. Die Wohnsitzgemeinden sind finanziell etwa mit dem Bau von Kinderbetreuungseinrichtungen überfordert, während die benachbarten Arbeitsplatzgemeinden, dank der von den Unternehmen gespeisten Kommunalsteuer, sich so gut wie alles leisten können. Interkommunale Projekte und Kooperationen könnten dafür sorgen, dass diesbezüglich ein Ausgleich geschaffen wird.
Pagger: Das Wirtschaftsforschungsinstitut Eco Austria hat mit den Functional Areas ein Modell entwickelt, das genau evaluiert, wo kommunale bzw. regionale Infrastrukturprojekte wie Schulen, Krankenhäuser, Bauhöfe etc. im Sinne einer leistungsstarken Struktur zu verorten sind. Und der tatsächliche Bedarf deckt sich oft nicht mit den Grenzen, die unsere Landkarten von Gemeinden, Bezirken und Ländern vorgeben.
Knill: In der Steiermark trägt vor allem der regionale Strukturplan für Gesundheit diesem neuen Denken Rechnung. In Zukunft muss man jedoch auch über die Landesgrenzen hinaus denken. Nicht nur was benachbarte Krankenhäuser etwa von Hartberg und Oberwart angeht, sondern auch beim Bau von Schulen und vielen weiteren Bereichen.
Und durch diese Functional Areas sollen Verwaltung und öffentliche Serviceangebote besser und effizienter werden?
Knill: Das Spannende ist, dass man die Landkarte der Steiermark anhand der Functional Areas völlig neu zeichnen kann und sehr schnell draufkommt, dass sich die Bedürfnisse der Bürger nicht am bestehenden Regionaldenken orientieren. In der Definition dieser Functional Areas spielen natürlich die Erreichbarkeit und Wegzeiten und damit die Infrastruktur zentrale Rollen. Das sieht man gut an der Betrachtung des Arbeitsmarktes: Spätestens mit der Eröffnung des Koralmtunnels wird klar sein, dass in dieser Frage die Kärntner und die steirischen Ballungsräume auf einmal eine Region bilden, die es gemeinsam zu gestalten gilt.
Und die Sanierung des Landeshaushalts wäre ein positiver Nebeneffekt der Functional Areas?
Knill: Da gehören andere Maßnahmen auch noch dazu. Das jährliche Landesbudget beträgt etwa fünf Milliarden Euro. Unsere größten Unternehmen müssen in einem Wettbewerbsumfeld ähnliche Summen budgetieren und sie müssen es schaffen, die Effizienz jährlich um etwa zwei bis drei Prozent zu heben. Und wenn wir beim Landesbudget drei Prozent heben, wären das 150 Millionen Euro durch Effizienzmaßnahmen, mit denen wir die notwendigen Strukturmaßnahmen locker finanzieren könnten. Aber auch beim Sparen dürfen nicht alle Ressorts über einen Kamm geschoren werden, wie das in der Vergangenheit leider immer wieder geschehen ist. Ein zukunftsorientierter Haushalt stellt Geld für Zukunftsbereiche wie eine innovationsfördernde Wirtschaftspolitik oder für Investitionen in Forschung und Entwicklung zur Verfügung und sucht die Synergiepotenziale etwa im Gesundheitsbereich oder der Verwaltung.
Und die schätzen Sie tatsächlich im dreistelligen Millionenbereich?
Pagger: Wir haben vor eineinhalb Jahren die Effizienz in den Haushalten der österreichischen Bundesländer analysiert. Damals war unser Ziel ein Bundesländer-Benchmark. Wir wollten die Arbeit der Länder in den Bereichen Verwaltung, Soziales, Bildung und Gesundheit vergleichen. Und wenn wir die Steiermark in jedem dieser Bereiche mit dem am effizientesten arbeitenden Bundesland vergleichen, ergibt sich ein rechnerisches Effizienzpotential von bis zu 800 Millionen Euro jährlich.
Aber werden da nicht Äpfel mit Birnen verglichen?
Knill: Das Benchmark-Ergebnis hat natürlich auch mit der Größe und der Struktur eines Bundeslands zu tun. Wir haben diese Landesspezifika herausrechnen lassen und kommen trotzdem auf dieses Potenzial. Die Studie liefert natürlich noch nicht die Antwort, wie genau das Potenzial gehoben werden kann, sie stellt aber die richtigen Fragen.
Nehmen wir die Schulen: Da hängt das Ergebnis jedes Benchmarks natürlich vom Anteil der Schüler mit fremder Muttersprache ab.
Knill: Wir haben auch den Bildungsbereich genau analysiert. Der jeweilige Anteil an Schülern mit einer anderen Muttersprache als Deutsch ist natürlich berücksichtigt. Wir haben unsere Bildungsausgaben aber auch international verglichen und sind draufgekommen, dass wir derzeit einen überdurchschnittlich hohen Input investieren, um einen bestenfalls durchschnittlichen Output zu erzielen. Im österreichischen Bildungssystem geht viel Geld verloren oder es wird nicht ergebnisorientiert genug eingesetzt.
Wo sehen sie die größten Baustellen im Bildungssystem?
Knill: Ich will mit einem positiven Beispiel beginnen. Bei den Lehrlingen haben wir bemerkt, dass sich die intensiven Anstrengungen, das Image der dualen Ausbildung zu heben, endlich lohnen. Auf einmal ist es für viele Eltern kein Problem mehr, wenn ihre Kinder ihre Karriere mit einer dualen Ausbildung begründen, und daher gibt es – entgegen dem demografischen Trend – wieder mehr Lehrlinge – ganz besonders in der Industrie. Mit der Lehre nach der Matura, die immer attraktiver wird, tun sich völlig neue Chancen für die Jugendlichen und die Betriebe auf. Berufsorientierung wird eine immer wichtigere Aufgabe. Insbesondere an Allgemeinbildenden Höheren Schulen.
Und können Sie weitere Ursachen nennen, warum unser Schulsystem für den erzielten Output viel zu teuer ist?
Pagger: Was derzeit zu kurz kommt, sind Transparenz und Wettbewerb. Es gibt hervorragende Lehrer, über die wir mehr sprechen sollten und deren Arbeit wir öffentlich präsentieren müssen. Wir sollten Schulen mit vergleichbaren Rahmenbedingungen, aber unterschiedlichen Bildungsergebnissen miteinander in Kontakt bringen, damit sie voneinander lernen können. Nichts motiviert und beschleunigt so wie der Vergleich mit den Besten.
Knill: Wir fordern daher, dass die standardisierten Bildungsergebnisse öffentlich zugänglich gemacht werden. In einem Wettbewerbsumfeld würden die Schulen sehr rasch ihre Qualität deutlich verbessern. Sagen wir den Eltern doch, an welcher Schule welche Ergebnisse erzielt werden. Sorgen wir für einen gesunden Wettbewerb und haben wir keine Scheu vor Vergleichen.
Widerstände sind vorprogrammiert.
Knill: Bei vielen Neuerungen gibt es Widerstand; trotzdem muss irgendwann das getan werden, was richtig ist. Seit Jahrzehnten reden alle über das Bildungssystem und auf Basis des Engagements Einzelner ist auch schon viel geschehen. Doch die Veränderungen im System passieren nicht schnell genug. Wettbewerb ist das Einzige, was unserem Bildungssystem nachhaltig und schnell helfen könnte.
Und das Bildungssystem ist eine Ursache für den Fachkräftemangel, der sich längst zu einer Wachstumsbremse entwickelt hat. Was muss über das Bildungssystem hinaus getan werden?
Knill: Der europäische Arbeitsmarkt ist, was Fachkräfte angeht, leergefegt. Jeder Qualifizierte kann aus mehreren tollen Jobs wählen. Alleine aus Slowenien pendeln jeden Tag 11.000 Arbeitnehmer in die Steiermark, ohne die wir nicht mehr produzieren könnten. Und aus Ungarn kommen täglich 4.000 Pendler zu uns. Wir brauchen daher einen dreispurigen A9-Ausbau südlich von Graz bis zur Grenze und Verbesserungen bei den derzeitigen Grenzkontrollen. Außerdem legen wir nahe, die Erweiterung der S-Bahn bis nach Marburg in Angriff zu nehmen.
Die Steiermark brüstet sich damit, Europameister in Forschung und Entwicklung zu sein. Wie wichtig sind Innovationen für unseren wirtschaftlichen Erfolg?
Pagger: Die sind enorm wichtig. Da haben wir auch extrem viel getan – und wenn ich »wir« sage, sind die Bundes- und Landespolitik gemeinsam mit unseren Unternehmen und den wissenschaftlichen Einrichtungen gemeint. Beispielsweise die Kompetenzzentren haben einen hohen Stellenwert oder auch das gerade startende »Silicon Austria Lab«. Diesen Weg müssen wir weitergehen.
Knill: Am COMET-Programm festgemacht, hat die Steiermark aus Landesmitteln in den letzten Jahren 140 Millionen investiert, die dann durch Bundesmittel deutlich verstärkt wurden und im Anschluss eine weitere Verdopplung durch die Industrie auf 980 Millionen Euro ausgelöst haben. Diese 140 Millionen haben also eine knappe Milliarde an Investitionen gehebelt. Wir müssen das COMET-Programm daher durch Verlagerungen von Landesmitteln in den F&E-Bereich unbedingt langfristig absichern.
Was kann die Politik sonst noch tun, um die europäische Spitzenposition im F&E-Bereich zu halten?
Pagger: Wir brauchen eine optimal koordinierte und international sichtbare Start-up-Szene. In der Steiermark ist hier in den vergangenen Jahren bereits viel gelungen, aber es fehlt noch die gemeinsame Klammer über den vielen Initiativen. In Zukunft soll jeder, der an eine Start-up-Szene denkt, nicht nur an Tel Aviv, Barcelona oder Berlin denken, sondern auch an Österreich – insbesondere an Graz.
Ein weiterer Bereich des IV-Steiermark Papiers trägt die Überschrift »Verbinden und Bewegen«.
Knill: Damit ist der Ausbau der Verkehrswege, aber auch der digitalen Infrastruktur gemeint. Nicht nur die Steiermark, auch das andere große Industriebundesland Oberösterreich braucht die Pyhrn-Schober-Achse als leistungsfähige Nord-Süd-Eisenbahnverbindung.
Pagger: Dafür ist der Neubau des Bosrucktunnels nötig. Für dieses Vorhaben müssen wir rasch die Planungen aufnehmen und das Projekt wieder im ÖBB-Rahmenplan verankern. Unser nächstes Ziel muss sein, die Strecken in den transeuropäischen Netzen (TEN) unterzubringen, die im Jahr 2023 einer Revision unterzogen werden.
Und wie soll der digitale Ausbau weitergehen?
Knill: Auf den Breitbandausbau müssen schlicht stärkere Prioritäten im Landeshaushalt gerichtet werden. Und auch der Ausbau selbst muss priorisiert werden. Beginnen müssen wir dort, wo die Wertschöpfungs-Hotspots der Steiermark zu finden sind. Stärken stärken ist auch beim Breitband wichtiger als das Ziel der Flächendeckung, das noch dazu nicht realistisch ist.
Noch nie zuvor hat das Umweltthema in solchem Ausmaß die Wahlentscheidungen beeinflusst. Wie wollen Sie unser kapitalistisch ausgerichtetes Wirtschaftssystem mit den Erfordernissen der Dekarbonisierung kompatibel machen?
Knill: Grundsätzlich ist jede Initiative, die den CO2-Ausstoß minimiert, positiv zu sehen. Denn jeder Einzelne kann was beitragen. Gefährlich wird es aber, wenn ein ganzes System und damit unser Wohlstand in Frage gestellt wird. Ein chinesischer Einwohner emittiert pro Kopf ähnlich viel CO2 wie ein Österreicher. Nur China hat 1,5 Milliarden Einwohner und nicht bloß 8 Millionen. Die EU-28 emittieren insgesamt 10 Prozent des globalen CO2 und Österreich etwa 0,2 Prozent. Damit ist klar, dass wir weder mit unserem Konsum noch mit unserem Mobilitätsverhalten einen maßgeblichen Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten können. Unser global maßgeblicher Beitrag muss daher darin liegen, der Welt klimafreundliche Technologien zur Verfügung zu stellen.
Pagger: In den letzten 12 Jahren ist unser regionales BIP um 42 Prozent gestiegen, der Energieendverbrauch ist jedoch gleich geblieben. Diese Effizienz und diesen Hebel müssen wir mit unseren Technologien exportieren.
Das heißt ein CO2-freies Wachstum ist möglich?
Knill: Das beweisen viele unserer Unternehmen doch jeden Tag. Und wenn die Hunderten Millionen, die von den Betrieben für EU-Klimazertifikate aufgewendet werden, nicht im allgemeinen Budget landen würden, sondern gezielt für Klimainvestitionen zur Verfügung stünden, ginge die Dekarbonisierung noch schneller voran.
Und den Wettbewerbsnachteil als globale Exporteure gegen Mitbewerber antreten zu müssen, die nicht für ihr CO2 zahlen müssen, verkraften die Betriebe?
Pagger: Natürlich ist das ein Wettbewerbsnachteil. Wir müssen darauf achten, es mit diesem Commitment nicht zu übertreiben. Sonst schädigen wir den Standort Europa so, dass Produktion und Innovation in und aus Europa verhindert werden. Davon haben weder Europa noch das Weltklima etwas.
Was passiert als nächstes mit Ihrem Papier?
Knill: Wir haben es den maßgeblichen politischen Parteien präsentiert und sind grundsätzlich auf eine sehr positive Resonanz gestoßen. Ich sehe die große Bereitschaft der Parteien, unsere Anregungen und Ideen auch in einem Regierungsprogramm zur Umsetzung zu bringen. Wir sind offenbar die einzige Interessenvertretung, die sich so umfassende Gedanken über die Zukunft gemacht hat.
Pagger: Wir gehen davon aus, dass sich im Sinne von Wohlstand und Beschäftigung in der Steiermark im künftigen Regierungsprogramm viele unserer Punkte wiederfinden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Fazitthema Fazit 158 (Dezember 2019), Foto: Adobe-Stock
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