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Politicks Dezember 2020

| 30. November 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 168, Politicks

Wien – aus Grün wird Pink
Bei der Wienwahl hat den Grünen selbst ein Rekordwahlergebnis nichts genutzt. SPÖ Bürgermeister Michael Ludwig hat sie als Koalitionspartner abserviert und durch die aus seiner Sicht womöglich einfacher handhabbaren Neos ersetzt. Ausschlaggebend für diesen grünen Super-Gau dürfte das schlechte SPÖ-Ergebnis in den Bezirken innerhalb des Wiener Gürtels gewesen sein.

In ganz Wien war es der grünen Vizebürgermeisterin Birgit Hebein mit Hilfe ihres Pop-up-Populismus gelungen, die Spaßbevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Doch innerhalb des Gürtels hat die SPÖ deutlich verloren. In der Analyse will man draufgekommen sein, dass sich das klassische SPÖ-Publikum überall dort, wo die Grünen besonders stark in den Bezirksvertretungen sind, dermaßen über diese Politik geärgert hat, dass es erst gar nicht zur Wahl gegangen ist. Ludwig verdankt seinen Wahlsieg daher vor allem dem guten Abschneiden in den Wiener Flächenbezirken; dort, wo es noch echte Arbeiter im Gemeindebau gibt und wo der Wähleraustausch eher zwischen SPÖ und FPÖ als zwischen der SPÖ und den Grünen stattfindet. In den innerstädtischen Bezirken sind die Grünen hingegen längst zur Volkspartei – mit Ergebnissen zwischen 20 und 30 Prozent – aufgestiegen. Dort ist auch eine mächtige grüne Funktionärskaste herangewachsen. Die hat aus ihrer Sicht im Wahlkampf alles richtig gemacht und wird nun trotzdem mit dem Rauswurf aus der Regierung belohnt. Die grünen Parteifunktionäre reagierten, wie Parteifunktionäre immer reagieren, wenn sie ihre Pfründe verlieren: Sie suchten einen Sündenbock und fanden ihn in der ehemaligen Vizebürgermeisterin Birgit Hebein. Die grüne Spitzenkandidatin wurde unmittelbar nach Präsentation der rotpinken Stadtregierung von den grünen Gremien abmontiert. Sie wird im künftigen Gemeinderatsklub keine Funktion mehr innehaben und auch ihre Tage als Wiener Grünen-Chefin sind trotz Durchhalteparolen gezählt.

Türkis-Grün: Wie lange geht das noch gut?
Welche Intrigen gerade bei den Wiener Grünen gesponnen werden, sollte auf den ersten Blick keine besonderen Auswirkungen auf die türkis-grüne Bundeskoalition haben. Doch wie bei der SPÖ bildet die Wiener Parteiorganisation auch bei den Grünen die mit Abstand mächtigste Landesgruppe. Und schon seit längerem lassen die grünen Vordenker kein gutes Haar an der Performance der türkis-grünen Bundesregierung. Vor allem die restriktive Regierungshaltung bei allen Migrationsthemen – von der Durchsetzung von Abschiebungen bist zur Weigerung, Flüchtlingskinder aus Moria aufzunehmen – ist für viele Grüne unerträglich.

Vielleicht handelt es sich beim aktuellen Umfragetief der Grünen ja nur um einen der Corona-Pandemie geschuldeten Umlauf. Auf alle Fälle sind sie in der bundesweiten Sonntagsfrage im Laufe des heurigen Jahres von 17 Prozent im Jänner auf 11 Prozent im November eingebrochen. Das ist ein Minus von 30 Prozentpunkten. Das geht natürlich weder an der Parteispitze noch an der Basis spurlos vorüber. Die türkise ÖVP konnte hingegen ihre Zustimmung im Laufe des Jahres von 38 auf 41 Prozent sogar noch ausbauen und liegt nun noch deutlicher über den 37,5 Prozent bei der Nationalratswahl im Vorjahr.

In diesem Umfeld könnte sich die Wiener Regierungsbildung mit den Neos als SPÖ-Juniorpartner zum Spaltpilz für die Bundeskoalition entwickeln. Die Grünen brauchen dringend Erfolgserlebnisse und Bundeskanzler Sebastian Kurz will und wird sie ihnen nicht zugestehen.

Dazu kommt, dass die Neos unter Beate Meinl-Reisinger nichts unversucht lassen, um sich bei den grünen Herzensanliegen vom Flüchtlingsthema über den Bildungsbereich bis zum Klimaschutz endgültig von der ÖVP zu emanzipieren; sozialliberal, ökoliberal und nicht mehr in erster Linie wirtschaftsliberal. Sie haben zahlreiche Inhalte von den Grünen übernommen. Und während die Neos unter ihrem Parteigründer Matthias Strolz tatsächlich nicht viel mehr als ein ÖVP-Spin-off waren – fast alle Funktionäre und hauptamtlichen Mitarbeiter konnten auf erfolgreiche ÖVP-Karrieren zurückblicken –, positionierte Meinl-Reisinger die Partei geschickt mitten im großstädtischen Bobo-Milieu. Die Neos hatten es zuvor geschafft, viele christlichsoziale Kernwähler der ÖVP anzuziehen. Aber während die wegen des Parteiputsches von Sebastian Kurz unzufriedenen ÖVPler schon 2017 zu den Neos gewechselt haben, akzeptiert die Masse des christlichsozialen ÖVP-Publikums die migrationskritischen Positionen ihrer Partei gerne als Preis für die unumstrittenen Nummer-eins-Position ihrer Partei.

Die urbane Neos-Frontfrau Meinl-Reisinger weiß genau, dass die Strahlkraft ihrer Bewegung bei traditionellen ländlichen ÖVP-Wählern nicht vorhanden ist. Die Partei kann daher nur auf Kosten jener Partei wachsen, die der ÖVP schon in der Vergangenheit das städtische intellektuelle Bildungsbürgertum weggenommen hat. Und das sind die Grünen. Das 212 Seiten umfassende rot-pinke Regierungsprogramm, das Bürgermeister Ludwig und sein Vize Christoph Wiederkehr Mitte November präsentierten, klingt daher vor allem bei grünen Kernthemen überaus ambitioniert.

So soll ein Wiener Klimaschutzgesetz gewährleisten, dass das Ziel, bis 2040 klimaneutral zu werden tatsächlich erreicht wird. Bis 2030 sollen 30 Prozent des Energieendverbrauchs aus erneuerbaren Quellen stammen und 10 Jahre später für Heizung, Kühlung und Warmwasserbereitung der vollkommene Ausstieg aus fossilen Energieträgern erreicht werden. Auch bei den sensiblen Verkehrsthemen spielt Rot-Pink die grüne Geige. So soll die Zahl der Pkw-Einpendler bis 2030 halbiert werden. Erreichen will man das durch einen Ausbau der Öffis bis tief ins zu Niederösterreich gehörende Wiener Umland hinein und Rad-Highways um 20 Millionen Euro.

Das am häufigsten im Wiener Koalitionsprogramm vorkommende Wort lautet übrigens »Transparenz«. Das Thema war den Neos angesichts der kaum nachvollziehbaren Verflechtungen zwischen den Wiener SPÖ-Betrieben und Land Wien vor der Wahl besonders wichtig. Doch schon bei Aufnahme der Koalitionsverhandlungen war klar, dass die Beibehaltung des Status quo für die SPÖ eine zentrale Bedingung sein würde. Und so steht Transparenz nun nicht mehr für die umfassende Offenlegung der Verflechtungen, sondern dafür, eine Ombudsstelle gegen Korruption oder eine Whistleblower-Plattform einzuführen. Auch die unglaublich hohen Parteienförderungen bleiben weitgehend unangetastet. Als Placebo für die eigenen Wähler haben die Neos zumindest das Aussetzen der Valorisierung in den nächsten beiden Jahren erreicht. Dass sich Rot-Pink auf Bundesebene bei der nächsten Nationalratswahl mit großer Wahrscheinlichkeit nicht für eine Regierungsmehrheit ausgehen wird, ist auch den Neos klar. Aber eine türkis-pinke Mehrheit ist – aus heutiger Sicht – durchaus erreichbar. Und wenn es stimmt, dass sich Bundeskanzler Sebastian Kurz mehrmals täglich über die Maßen über die mangelhafte grüne Performance ärgert, könnte es ja auch auf Bundesebene zu einem Wechsel kommen.

Die österreichische Corona-Bekämpfung oder »Kurz gegen Anschober«
Oberstes Ziel der Pandemiebekämpfung ist es, den Kollaps des intensivmedizinischen Systems zu verhindern. Die wichtigste Voraussetzung, damit das nicht passiert, ist ein funktionierendes Contact Tracing, das sämtliche potenziell infektiösen Personen erfasst und unmittelbar in Quarantäne schickt.

Bundeskanzler Sebastian Kurz weiß aber auch, dass seine Zustimmungswerte immer dann steigen, wenn er besonders strenge Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung durchsetzt und wenn diese im Gleichklang präsentiert werden. Das Ritual, dass Bundeskanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister gemeinsame Live-Pressekonferenzen abhalten, ist daher nicht nur gute Fernsehunterhaltung. Es beflügelt auch die Umfragewerte – aber eben nur jene der ÖVP. Dass sich ausgerechnet der sachlich zuständige Gesundheitsminister Anschober so lange gegen den zweiten Lockdown gewehrt hat, war für Kurz daher ein echtes Ärgernis. Aber trotz Message-Control ist einiges über das Hin und Her bei Schulschließungen, Lockdown light, Ausgangssperren und nun dem zweiten umfassenden Lockdown bekannt geworden. Der Kanzler wollte bereits unmittelbar nach Schulbeginn Verschärfungen. Doch mehr als eine Ausweitung der Maskenpflicht war bei Anschober vorerst nicht zu erreichen. Der Gesundheitsminister hatte nach seinem Debakel bei den gesetzeswidrigen Verordnungen beim ersten Lockdown keine Lust auf ein neuerliches Fiasko. Er wollte daher diesmal unbedingt auf »Nummer sicher« gehen. Erst als einige Intensivmediziner in einer PK vor der baldigen Notwendigkeit von Triagen zur Bewältigung der intensivmedizinischen Pflege warnten, knickte Anschober ein und stimmte dem neuerlichen Lockdown zu.

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Politicks, Fazit 168 (Dezember 2020)

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