Anzeige
FazitOnline

Direkter Urbanismus

| 4. März 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 170, Kunst und Kultur

Foto: Lorenz Seidler

Das verlängerte Kulturjahr 2020 bringt auch in diesem Jahr markante Initiativen mit dezidiertem Nachhaltigkeitsanspruch. Ein Kulturgespräch.

::: Hier im Printlayout lesen.

Das Duo transparadiso, bestehend aus Barbara Holub und Paul Rajakovics (Foto), landet im Jahreslauf 2021 mit seinem Projekt »Normal – Direkter Urbanismus x 4« in den vier Bezirken Andritz, Wetzelsdorf, Liebenau und Waltendorf. Sie wollen ihre Ideen nicht nur in dem non-hierarchischen »Third World Congress of the Missing Things«, sondern auch für die kommenden Jahre in der Psychogeographie und Stadtplanung implantiert wissen. Ein Gespräch über Zukunftsvisionen für die am schnellsten wachsende Stadt Österreichs.

Was bedeutet die von euch kreierte Methode des »direkten Urbanismus« für die Bevölkerung vor Ort?
In Graz geht es bei »Normal« vorrangig um das Schaffen von Orten für informelle Begegnungen über eine »kollektive Wunschproduktion«. Unsere Aufgabe sehen wir darin, wieder Qualitäten, die die Gemeinschaft fördern und die zunehmend in der Stadtentwicklung übersehen werden, zu etablieren. Wir haben grundsätzlich das Problem, dass mit den Begriffen »Teilhabe« und »Partizipation« zu inflationär agiert wird. Es gilt, dieses Teilhaben mit künstlerischen Mitteln anders zu evozieren. Bei dem Projekt »Normal« für Graz 2020 war der Ausgangspunkt schlicht und einfach jener, dass anlassbezogene Umwidmungen in Graz an der Tagesordnung sind. Dabei werden die sozialen Qualitäten ebenso wie poetische Momente, die keiner üblichen städtebaulichen Kategorie zuzuordnen sind, zu wenig berücksichtigt. Mit »Nomral« wollen wir hinterfragen, was wir uns stattdessen als »Normal« wünschen würden, und dieser Diskussion eine breite Öffentlichkeit geben.

Gibt es in Graz überhaupt Potenzial, um mit euren Strategien eine Verbesserung der Lebensqualität herbeizuführen?
Wir wollen festhalten, dass Graz eine hohe Lebensqualität hat, die allerdings in den äußeren Bezirken, an den Rändern, in denen die massiven Transformationsprozesse vor allem sichtbare Auswirkungen haben, abbricht. Das schnelle Wachstum löscht zunehmend bestehende Qualitäten, wie sie in den teilweise noch dörflichen Strukturen erkennbar sind, aus und lässt wesentliche Herausforderungen der Zukunft unberücksichtigt. Wesentliche Fragestellungen, wie ökologische Aspekte tatsächlich im Bezirk und darüberhinaus in der Raumplanung berücksichtigt werden können oder wie dem Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegengewirkt werden kann, müssen zeitgemäß interpretiert werden. Um den unvorhersehbaren Entwicklungen begegnen zu können, müssen Planung und Handlung ganz im Sinne des direkten Urbanismus ineinandergreifen.

Hier kollidieren also die Interessen der Bauträger mit jenen der städtischen Gesellschaft. Wer soll denn hier die Brücke bauen? Greift die Politik nicht engagiert genug durch?
Die Außenbezirke sind grundsätzlich die Verlierer, da in der Regel Investoren genau dort Grundstücke suchen, um etwa Anlegerwohnungen oder neue Luxuswohnungen zu bauen. Das gilt es zu regulieren und Entwicklungskonzepte zu erarbeiten, sodass Wohnen z. B. über innovative, genossenschaftlich orientierte Finanzierungsmodelle kostengünstiger wird und gleichzeitig die Bodenversiegelung reduziert wird.

Ist so eine Entwicklung überhaupt Jahrzehnte voraus zu planen, etwa bis 2050?
Natürlich braucht es einerseits das lokale, schnelle Agieren und Reagieren. Dieses muss jedoch gleichzeitig in Visionen für langfristige Stadtentwicklungskonzepte, die nicht nur auf Gewinn, sondern auf Lebensqualität für alle ausgerichtet sind, eingebettet werden. Naturgemäß macht es wenig Sinn, sich angesichts des rapiden Wachstums der Stadt auf Konzepte aus den 1980er Jahren zu beziehen. Ein großes Manko sind nun mal die Anlasswidmungen. Die Kommune müsste hier viel härter bleiben.

Das ist doch wohl ein Eingriff in Eigentumsrechte?
Nein. Man ergreift hier einfach die Möglichkeit, einer ungezügelten Kapitalisierung entgegenzutreten. Es geht nun mal auf der anderen Seite schlicht und einfach um die Interessen der Allgemeinheit und wir reden hier von Menschen, die wenig Geld haben. Da braucht es auch eine soziale Durchmischung. So sollte zum Beispiel auch am Ruckerlberg und Rosenberg sozialer Wohnbau möglich sein.

Was wäre ein erreichbares Ziel bezüglich der Nachhaltigkeit eures Projekts für das Grazer Kulturjahr?
Nachdem wir ja unverbesserliche Verfechter von »Makro-Utopie«, d. h. Utopien im Kleinen, sind, wünschen wir uns, dass jedes der vier Projekte über die künstlerisch-urbanen Interventionen während des Kulturjahres 2021 hinaus in eine langfristige Verankerung übergeführt werden kann. Die konkreten Interventionen behandeln alle jeweils virulente Themen im Bezirk und schaffen Situationen, in denen durch die aktive Teilnahme der Stadtbevölkerung auch konfligierende Interessen in einem öffentlichen Austausch diskutiert werden. Somit wollen wir die Komplexität von Fragestellungen der Stadtentwicklung aus verschiedenen Perspektiven sichtbar machen und Visionen für ein Engagement für Gemeinschaft jenseits von Partikularinteressen entwickeln.

Wir konzentrieren uns mit »Normal« also darauf, Konflikte aufzugreifen und öffentlich zu verhandeln. Dies ist unserer Meinung nach viel fruchtbringender, als bloß zu schauen, dass jemand überstimmt wird oder Diskurse auf billigen Konsens hinauslaufen. Die Konflikte, die auch in Zukunft das städtische Zusammenleben prägen, bringen natürlich unterschiedliche Interessen zu Tage.

So realisiert »orizzontale (I)« in Liebenau das Projekt »Flussfluss« als Beitrag zur neuen Identität am Grünanger und eröffnet mit ihrer Installation auch eine Diskussion um die wechselvolle jüngste Geschichte des Kraftwerksbaus. public works (GB) wird in Andritz mit »Platzen – School for Civic Action« die Rolle eines Hauptplatzes im Bezirk und die mögliche Neugestaltung des Andritzer Hauptplatzes im Mai diskutieren. In Waltendorf laden wir/ transparadiso (A) zum »Third World Congress of the Missing Things« ein, Qualitäten, die fehlen, zu diskutieren. In Waltendorf fehlt geradezu eine »Poesie des Zentrums«, wie es das Pammerbad und die Kirche in der Nachkriegszeit und bis vor einigen Jahren waren. In Wetzelsdorf wiederum geht Georg Winter (D) mit der »TanzPflanzPlan AG« der Frage nach, wie Freiraumplanung in Zukunft möglich ist. Georg Winter erarbeitet hier über performative Strategien am Feld, wie man das im sozialen Wohnraum als lästig wahrgenommenes »Abstandsgrün« für den Anbau von Nutzpflanzen aktivieren könnte.

Bei allen Projekten geht es um klare Haltungen, die auch die Verantwortung des Einzelnen ansprechen. Vom Umdenken bezüglich Bodenversiegelung, bei der Österreich als europäischer Spitzenreiter fungiert, gar nicht zu reden. Diese Fragen – wie etwa: »Wie kann man restlichen Boden wieder einer ökologischen Nutzbarkeit zuführen?« – beschäftigen uns dann intensivst auch am 3. und 4. Juli dieses Jahres. Der Parkplatz der Pfarre St. Paul in der Eisteichsiedlung in Waltendorf wird ein informelles Kongresszentrum für den »Third World Congress of the Missing Things«. Bei dieser Kooperation mit der Pfarre werden wir viele Punkte auf den Tisch bringen, die für die Stadtentwicklung von entscheidender Bedeutung sein werden, und dürfen jetzt schon dazu einladen. Das Ende des Kulturjahrs Graz 2020/2021 ist für uns also nicht das Ende unseres Engagements für »Normal«.. Vielmehr betrachten wir die Erfahrungen als Auslöser für eine weitere Diskussion mit der Stadt Graz.

Alles Kultur, Fazit 170 (März 2021), Foto: Lorenz Seidler

Kommentare

Antworten