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EU: Viel versprochen, wenig gehalten

| 4. März 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 170, Fazitthema

Illustration: Adobe-Stock

Seit der Finanzkrise des Jahres 2008/2009 schlittert die Europäische Union von einem Versagen ins nächste. Der aktuelle Umgang mit der Pandemie und die Impfstoffbestellungen sind nur das vorläufige Ende einer langen Historie des Scheiterns. Ein Text von Johannes Roth.

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Einem Moloch wie der Europäischen Union Versagen vorzuwerfen, ist zunächst billig. Doch damit muss die EU leben. Denn der Vorwurf des europäischen Versagens ist eigentlich systemimmanent: Beim europäischen Interessenausgleich wird sich nämlich immer irgendeine Bevölkerungsgruppe, irgendeine Interessengemeinschaft, irgendein Staat übergangen, übervorteilt oder übersehen fühlen.

Doch Ereignisse wie Corona zeigen auch, dass die vielbeschworene »gemeinsame europäische Politik« in vielerlei Hinsicht tatsächlich nur eine Chimäre ist. Das berühmt-berüchtigte »gemeinsame Vorgehen auf europäischer Ebene« existiert praktisch nicht, wenn es ans Eingemachte geht. Das zeigt nicht nur das beschämende Versagen in der Bekämpfung der Pandemie, sondern auch eine Reihe von weiteren Herausforderungen, an denen die Gemeinschaft regelmäßig an den nationalstaatlichen Interessen scheitert. »Versagen« ist im Zusammenhang mit der europäischen Union ein Wort, das uns im Laufe der folgenden kurzen Zusammenfassung noch öfter begegnen wird.

Das Bashing der EU-Kritiker
Wobei es einem gar nicht leicht gemacht wird, die EU zu kritisieren oder ihr gar »Versagen« vorzuwerfen. Seit rechtskonservative politische Gruppierungen von Frankreich bis Ungarn in ihrer Kritik an der Europäischen Union ein weiteres Betätigungsfeld für populistische Umtriebe ausgemacht haben, gelten auch seriöse Skeptiker schnell als »rechtsextrem«. Gerade in den deutschsprachigen Ländern steht allzu laute EU-Kritik fast ausnahmslos unter dem Generalverdacht einer nationalstaatlichen Identitätspolitik. Das liegt allerdings in den allermeisten Fällen eher in der Natur der Sache als an irgendwelchen nationalistischen Tendenzen der Kritiker. Tatsache ist aber auch, dass die Boris Johnsons und Nigel Farages der Politszene, aber auch die etwas anders motivierten Visegrad-Staatschefs diese Vorwürfe mit ihren Handlungen regelmäßig bestätigen. Nichts ist seither leichter, als eine gesunde EU-Skepsis mit dem Vorwurf zu desavouieren, die Kritik sei »populistisch« oder »diktatorisch«, wenn nicht gar »nationalistisch« und daher von vornherein nicht ernst zu nehmen.

Die Währungskrise
Zum anderen liegt der Mangel an qualifizierter EU-Kritik auch in der Themenlage selbst begründet. Sie ist kompliziert und für sachunkundige Wähler oder Medienkonsumenten kaum zu verstehen. Bestes Beispiel: Die Währungs- und Fiskalpolitik der Europäischen Union und die in den Neunziger Jahren ausgehandelten Verträge von Maastricht. Sie werden kaum von den Mitgliedern des Europäischen Rates verstanden, geschweige denn von den Wählern, die alle fünf Jahre das Recht hätten, auf die Politik der EU einen gewissen – begrenzten – Einfluss zu nehmen. Wer einmal ernsthaft versucht hat, sich als Laie durch einen entsprechenden Artikel etwa der Frankfurter Allgemeinen zu kämpfen, bloß um die Verträge von Maastricht – gemeinhin unter dem Namen »Stabilitäts- und Wachstumspakt« bekannt – richtig einordnen zu können, weiß, wovon die Rede ist.

Das Problem ist insofern evident, als ja auch die Mitglieder des europäischen Parlaments durchaus nicht immer über die nötige Qualifikation verfügen, um auch nur ansatzweise Entscheidungen treffen zu können, die eigentlich auf dem Verständnis der europäischen Finanzmärkte beruhen müssten.
Dass dies kein bloß theoretisches Manko ist, zeigte sich überdeutlich in der Art der Bewältigung der Staatsschuldenkrise in Griechenland, die seit 2010 nur mühsam in den Griff zu kriegen ist. Da zu erwarten ist, dass nahezu alle Staaten Europas ihre Staatshaushalte wegen Corona bis an die Grenzen des Möglichen belasten werden – oder bereits haben –, müsste man den Maastricht-Regeln und ihrer Beurteilung eigentlich gerade jetzt besondere Bedeutung beimessen. Die Kombination aus Hunderten Milliarden Euro Staatshilfen, rezessiven Märkten und sinkenden Steuereinnahmen werden nur die stabilsten europäischen Volkswirtschaften halbwegs unbeschadet überleben können, zumal die Europäische Zentralbank ihre Möglichkeiten (gemeint ist hier hauptsächlich die Zinspolitik) bereits ausgeschöpft hat.

Dass auf europäischer Ebene bislang kaum die Rede davon ist, wie man angesichts der Herausforderungen im Gefolge der Coronakrise eine Finanz- und Währungsunion halbwegs stabil halten soll, ist schlicht der fachlichen Inkompetenz der Brüsseler Entscheider geschuldet.

Corona und Co.
Natürlich wird derzeit jede Diskussion über die fiskalpolitischen Coronafolgen vom Thema »Impfstoffbestellung« überlagert. Zu Recht, denn die EU muss sich einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen, nationalstaatliche Interessen über das Gemeinwohl aller EU-Bürger gestellt zu haben. Wie bei vielen anderen Themen tritt auch hier der alte Konkurrenzkampf der beiden mächtigsten Player auf der politischen Bühne der EU zutage: nämlich der schon lange nicht mehr unter dem Deckmantel der angeblich so innigen deutschfranzösischen Freundschaft zu kaschierende Dauerstreit zwischen Deutschland und Frankreich. Es mag Zufall sein, dass sich die EU zunächst eine hohe Anzahl an Impfdosen des französischen Herstellers Sanofi gesichert hatte, die allerdings erst Ende 2021 lieferbar sein werden, bevor über eine gemeinsame Beschaffung der deutlich früher verfügbaren Impfdosen von AstraZeneca oder Pfizer/Biontech verhandelt wurde. Das Bild ist jedenfalls schief, die EU hätte Erklärungsbedarf. Dieser steigt auch in Österreich täglich, wenngleich die beschämend niedrige Durchimpfungsrate hierzulande nicht nur der EU, sondern vor allem dem Missmanagement des heimischen Gesundheitsministeriums anzulasten ist. Dennoch bleibt die Frage im Raum, wieso ausgerechnet Staaten wie Großbritannien oder Israel, die nicht Mitglied der EU sind, eine um so vieles höhere Impfgeschwindigkeit vorweisen können.

Die Personalpolitik
Dass die Europäische Union von einer Krise in die nächste taumelt, liegt natürlich an den Umständen, ist andererseits aber auch hausgemacht. Einer der Gründe dafür ist die Personalpolitik des Molochs. Denn zum einen wird Brüssel seit langer Zeit und von vielen Staaten als Ort betrachtet, wohin man unliebsame und/oder inkompetente Politiker wegloben kann. Zum anderen verspielt die EU – wie zuletzt 2019 – mit der Besetzung von Spitzenpositionen (von der Leyen und ihre Stellvertreter) jegliches politisches Vertrauen der Bevölkerung. Man hat die beispiellose Art und Weise, mit der sich die Nationalstaaten – allen voran Deutschland und Frankreich – bei der Bestellung der EU-Kommissionspräsidentin über den Wählerwillen hinweggesetzt haben, noch lange nicht vergessen. 200 Millionen europäische Wählerinnen und Wähler sahen sich nach monatelangem Wahlkampf der Spitzenkandidaten plötzlich mit einer Kommissionspräsidentin konfrontiert, die nicht einmal zur Wahl gestanden ist. Und das nur, weil Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den EVP-Wahlsieger Manfred Weber nicht wollte und die deutsche Kanzlerin einen Platz benötigte, auf dem sie die in mehrere Skandale verwickelte Ursula von der Leyen unterbringen konnte. Die Machtlosigkeit der Wähler und die Zahnlosigkeit der demokratischen Instrumente innerhalb der EU traten einmal mehr überdeutlich zutage.

Die Tatsache, dass die EU-Kommission durch Nationalstaaten quasi hinter verschlossenen Türen besetzt wird, sorgt seit langem für Kritik und für Angriffsflächen der EU-Gegner. Dass jene Kommissare, die die entscheidenden Ressorts politisch leiten, durch die Regierungschefs der Nationalstaaten besetzt werden, bringt ihre Gesetze, Verordnungen und Entscheidungen zwar nicht um ihre demokratische Legitimität, aber allzu leicht in den Geruch einzelstaatlicher Partikularinteressen. Umso weniger Autorität hat natürlich die Kommissionspräsidentin, die jetzt, an der Spitze einer folgenschweren Fehlentscheidungskette stehend, schwere Fehler in der Bestellung der Impfstoffe einräumen muss. Fehler übrigens, die tatsächlich direkt Menschenleben kosten und indirekt ein ohnehin fragiles volkswirtschaftliches System noch weiter schwächen.

Die Asylpolitik
Dass die Menschen langsam den Glauben in die EU und ihre Proponenten verlieren, ist durch Umfragen belegt: »Die Frage, ob sie Vertrauen in die EU hätten, bejahten im Frühjahr 2007 noch 57 Prozent. Mit Beginn der Eurokrise begann auch das Vertrauen zu sinken. In der Flüchtlingskrise lag der Tiefpunkt bei 32 Prozent«, analysiert zum Beispiel die FAZ. Was dadurch gezeigt wird: In Großkrisen ist die EU über weite Strecken handlungsunfähig. In der jüngeren Geschichte der Union gab es drei solche Ereignisse und keines von ihnen nahm in der EU ihren Ausgang: Die Finanzkrise, die 2007 die Währungsunion erschütterte, dann die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 die nicht nur den Sinn der Asylpolitik, sondern des gesamten Schengen-Raumes in Frage stellte (und bis heute stellt), und nun ist es die Pandemie. Auf alle drei Krisen war die EU weder vorbereitet noch in der Lage, gemeinsam wirkungsvoll zu reagieren. Zu Recht kritisiert man in allen drei Fällen die mangelnde Vorbereitung auf die Aufgaben, die die EU im Gefolge dieser Krisen übernommen hatte: »In der Euro-Krise wurde sie zum Kreditgeber für klamme Mitgliedstaaten, obwohl sie kein Währungsfonds ist. In der Flüchtlingskrise sollte sie Migrantenströme steuern, obwohl sie keine (Grenz-)Polizei hat. In der Pandemie soll sie nun Impfstoff für 450 Millionen Menschen kaufen, obwohl sie nicht einmal ein Gesundheitsamt betreibt«, schreibt die FAZ weiter und bringt damit die Versäumnisse bei der Errichtung des Europäischen Gebäudes treffsicher auf den Punkt.

Mangelerscheinung Weitblick
Krisenmanagement – das weiß jeder halbwegs clevere PR-Berater – beginnt nicht erst bei Ausbruch einer Krise, sondern beim Erkennen möglicher Problemlagen und der entsprechenden Vorbereitung auf diese. Berücksichtigt man das in der Beurteilung von Krisen wie der 2015 virulent gewordenen Migrationskrise, kann man der EU-Kommission hundertprozentiges Versagen attestieren. Das Scheitern des Versuches, ein gemeinsames Vorgehen bei der Aufteilung der Flüchtlinge bzw. Migranten an die einzelnen Länder zu etablieren, darf man ruhig ebenfalls als logische Konsequenz aus mangelndem Weitblick und politischem Talent bezeichnen. Alleine die Möglichkeit, bei solchen Problemlagen nationalstaatlichen Interessen – wie denen der Visegrad-Staaten – sanktionslos den Vorrang vor gesamteuropäischen Interessen zu geben, lässt zu Recht an der Sinnhaftigkeit einer »Union« zweifeln.

Lähmende Volksabstimmungen
In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage: Nämlich die nach der Möglichkeit, zu jedem beliebigen Thema in jedem beliebigen EU-Land ein eigenes Referendum abzuhalten. »Die Referenden machen Europa handlungsunfähig« beklagen Abgeordnete aller Coleurs. Einer davon ist Elmar Brok, damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, der sich angesichts des von Victor Orban abgehaltenen »Flüchtlingsreferendums« vor einigen Jahren lautstark zu Wort meldete. 2017 wollte die EU beschließen, 160.000 Flüchtlinge aus den Hauptankunftsländern Italien und Griechenland auf die übrigen EU-Staaten zu verteilen. Victor Orbán war dagegen und kündigte ein eigenes Referendum an – mit bekanntem Ergebnis. Und seit die Briten 2016 via Referendum den Austritt aus der EU vorexerziert haben, wurde damit eine Büchse der Pandora geöffnet. Nach Artikel 50 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) ist es jedem Mitgliedstaat ausdrücklich erlaubt, im Einklang mit den eigenen verfassungsrechtlichen Anforderungen aus der Union auszutreten – und diese Drohung schwebt nun wie ein Damoklesschwert über der Union. Denn – auch das zeigt das Beispiel der ohnehin traditionell überprivilegierten Briten – es ist nicht länger von Belang, wie sehr die EU den einzelnen Mitgliedsstaaten auch nützen mag. Viel schwerer wiegen innerstaatliche politische Strömungen: Erstarken in einem Staat die Populisten, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Drohung eines Austrittsreferendums. Das beeinflusst maßgeblich den Stellenwert, den die Europäische Union auf der Weltbühne einnimmt.

Und genau dieser Stellenwert wird immer öfter in Zweifel gezogen. Ständige Vetos egozentrischer, meist rechtspopulistisch regierter Einzelstaaten, das Einstimmigkeitsprinzip und eine offen zur Schau getragene politische Inkompetenz in außenpolitsichen Fragen machen die EU zum leichten Gegner. Wenn zum Beispiel der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan öffentlich erklären darf, die EU sei »ein einflussloses Gebilde«, »ohne Weitblick«, wie Thomas Mayer vom Standard im Oktober vergangenen Jahres schrieb, und die deutsche Kanzlerin Merkel einen »konstruktiven Dialog« gegenüber deutlichen Sanktionen bevorzugt, dann zeigt das, wo die EU tatsächlich steht. Die »Deutlichkeit«, der Merkel eine Absage erteilt hatte, war übrigens von Sebastian Kurz angesichts des Gasstreites zwischen Zypern und der Türkei eingefordert worden – ein Thema, das hierzulande kaum auf mediales Echo gestoßen war.

Detailverliebtheit
Was das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der EU ebenso schwächt, ist ihr Mangel an Kommunikationsfähigkeit. Denn der Eindruck, dass sich die Europäische Union in Detailfragen zu mehr oder weniger irrelevanten Themen verliert, während die großen Probleme mangels politischen Talents und sozialen Weitblicks schlicht nicht vorausgeahnt werden, lässt sich in der Bevölkerung kaum vermeiden. Traurige Berühmtheit hat diesbezüglich die »Verordnung Nr. 1677/88/EWG zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken«, die Gurkenkrümmungsverordnung erlangt. In der öffentlichen Wahrnehmung von wesentlich weitreichender Irrelevanz dürften Verordnungswerke wie die DSGVO sein. Die war ja dazu gedacht, das Datensammeln und -verwerten von Techgiganten wie Facebook, Google und Co hintanzuhalten; tatsächlich schuf sie aber mehr Probleme, als sie löst. So ist die DSGVO und ihre schwammigen Formulierungen nebst fehlender Judikatur und unzureichend geklärten Zuständigkeiten unter anderem dafür mitverantwortlich, dass in der Pandemie das Contacttracing nicht funktioniert. Zudem hat die die DSGVO begleitende PR-Arbeit die Angst vor der Preisgabe von »Daten« so verstärkt, dass gerade in der Pandemie der Sinnspruch »Datenschutz vor Menschenschutz« zum geflügelten Wort avancieren konnte.

Wer übrigens glaubt, dass sich die digitale Inkompetenz rein provinziell bei der Errichtung von Plattformen wie Kaufhaus Österreich zeigt, der irrt. Auch auf EU-Ebene bieten Entscheidungen wie die Reform des umstrittenen Artikels 13 des EU-Urheberrechtsgesetzes breiten Raum für kontroversielle Diskussionen: Denn während die Tech-Giganten nach wie vor dem Vernehmen nach zu wenig Steuern für online erwirtschaftete Umsätze zahlen, ergeht sich die EU darin, das Urheberrechtsgesetz dahingehend zu »reformieren«, »geistiges Eigentum« noch stärker zu schützen – im besten Interesse von Verlagen und Medienunternehmen. Die von der Union beschlossenen Uploadfilter – die Richtlinie muss in den kommenden zwei Jahren von den Nationalstaaten umgesetzt sein – zeigen vor allem eines: das Unverständnis eines juristisch getriebenen Beamtenmolochs für digitale Kommunikationswege, Content und Meinungsfreiheit, wie sie die Millennials leben. Und mehr noch: den Unwillen und das Unvermögen, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren.

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Fazitthema Fazit 170 (März 2021), Illustration: Adobe-Stock

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