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Literatur und Geheimnisse

| 31. Mai 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 173, Fazitbegegnung

Foto: Heimo Binder

Den buchstäblichen Elfenbeinturm gibt es also tatsächlich. Er steht auf der Südseite des Schloßbergs in Graz, knapp unter dem Uhrturm und wird Cerrini-Schlößl genannt. Die Dichterklause ist inmitten eines wild wuchernden Urwalds dermaßen gut versteckt, dass es im gesamten Internet außer vom dicht bewachsenen Vorhof kein einziges Foto gibt.

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Entlegen, trotzdem mitten in der Stadt mit einzigartigem Ausblick über dieselbe, extrem ruhig und auch über den offiziellen Zugang vom Herbersteingarten für Fremde nicht erreichbar, weil der Weg über die Stiege in den Vorhof versperrt ist – das hätte Franz Kafka gefallen. Das Häuschen, es ist weder ein Turm noch ein Schloss, sondern ein schlichter Bau aus dem 19. Jahrhundert, dient heute als Wohn- und Arbeitsstätte für Stadtschreiber und für in ihren Heimatländern bedrohte Künstler. Zur Zeit wohnt und arbeitet hier – neben zwei, in Weißrussland verfolgten Künstlern – die montenegrinische Lyrikerin Jana Radicevic als Stadtschreiberin. Ein kultureller Luxus und zugleich ein großes zivilisatorisches Statement der Stadt Graz, zurückgehend auf die Initiative des legendären, weil zutiefst humanistischen wie auch erfolgreichen Kulturpolitikers Helmut Strobl. 1997, als das verfallene Haus aus einem dezennienlangen Dornröschenschlaf geweckt und saniert wurde, kam Jana Radicevic in Podgorica, vormals Titograd, zur Welt. Begrenzt von Kroatien, Bosnien, Serbien, dem Kosovo und Albanien ist die Stadt erst mit dem Referendum von 2006 die Hauptstadt der seitdem unabhängigen Republik Montenegro geworden. Mit ihren 23 Jahren ist Jana die bislang jüngste Stadtschreiberin von Graz.

Nach der Matura studierte sie Deutsche Literatur und Sprache an der Universität von Montenegro in Niksic und war für jeweils ein Semester in Marburg an der Lahn und in Graz. Da sie das Semester an der Grazer Universität unmittelbar vor Erhalt des Jahresstipendiums als Stadtschreiberin absolvierte – das mit September 2020 begann – befindet sie sich bereits seit mehr als einem Jahr in der Stadt. Sie ist schon seit 2015 in Literaturzeitschriften und -portalen literarisch aktiv und Mitglied des Forums Junger Schriftsteller in Podgorica. 2019 veröffentlichte sie eine Gedichtsammlung bei einem serbischen Verlag (»Wenn ich es sage, kann es wahr werden.«), was auch in weiterer Hinsicht ein Glücksfall war: Zumindest eine Veröffentlichung gehört nämlich zu den Voraussetzungen für das Grazer Stipendiat. Das im Übrigen neben dem freien Logis auch einen großzügigen monatlichen Zuschuss umfasst, der gewährleisten soll, dass der Kopf frei von materiellen Sorgen und offen für den Geist bleibt. Mit dabei sind auch Jahreskarten für das Universalmuseum Joanneum, die Landesbibliothek und für den Schloßberglift. Letztere ist angesichts der doch herausfordernden An- wie Abstiege zum beziehungsweise vom Uhrturm wegen jeder Kleinigkeit (die Butter!) auch keine Kleinigkeit. Außer man kennt den – wenn auch mittlerweile sehr verwachsenen – kurzen Geheimweg von der Sporgasse aus. Der noch aus jener Zeit stammt, als Camillo Pistor der Grundeigentümer war und er das Cerrini-Schlößl als Schenkung an die Stadt Graz nur unter der Bedingung überlassen wollte, dass er auf diesem Grund begraben wird. Was nicht geschah. Aber das ist, wie so oft, eine andere Geschichte, die aber niemand mehr kennt.

Apropos, das literarische Projekt, ebenfalls eine Voraussetzung für das Stipendium, ist nach wie vor ein ziemliches Geheimnis. »Es ist ein langes Gedicht über Wasser«, viel mehr verrät Jana Radicevic nicht. Es hat mit einem Fluss in Montenegro zu tun, mit Hochwasser und Überschwemmungen. »Wasser ist Leben«, sagt die Lyrikerin, »Wasser kann dein Freund sein, aber auch dein Feind.« Zwei Stimmen erzählten die Geschichte, eine aus kindlicher Perspektive, die andere reflektiere in lyrischem Ton. Mehr habe ich nicht herausgefunden. Das Gedicht ist noch nicht fertig, es dürfte bislang rund 30 DIN-A-4-Seiten umfassen, auf Montenegrinisch. Ein wichtiges Thema wird wohl die Übersetzung sein. Ein Verlag ist mit Edition Thanhäuser bereits gefunden. »Ich habe meine Bücher«, antwortet Jana auf Fragen nach ihrem Alltag. Deutsche Musik von »Einstürzende Neubauten« oder »AnnenMayKantereit« mag sie auch. Aber lesen stehe an allererster Stelle, viel Lyrik, aber auch »die lyrische Note im 16. oder 17. Kapitel von »Ulysses« im Serbischen.« Da kann ich aus zwei Gründen nicht mitreden. Aber das geht vielen so.

Jana Radicevic wurde 1997 in Podgorica/Montenegro als älteste von drei Kindern geboren. Ihr Vater ist Programmierer, die Mutter Hausfrau. Nach der Matura 2016 machte sie den Bachelor in Deutscher Sprache und Literatur an der Uni in Niksic/Montenegro. Sie schreibt Lyrik und ist noch bis Ende August 2021 Stadtschreiberin in Graz, im Oktober führt sie ein Stipendium für Germanistik nach Würzburg.
janaradicevic.com

Fazitbegegnung, Fazit 173 (Juni 2021) – Foto: Heimo Binder

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