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Politicks November 2021

| 10. November 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 177, Politicks

Eine Frage von Tagen?
Natürlich gibt es aus der österreichischen Innenperspektive derzeit kein wichtigeres Thema als die Frage, wann Sebastian Kurz endgültig die politische Bühne verlässt. Denn obwohl es eigentlich ein juristischer Wahnsinn ist, wie die Justiz privateste Chatnachrichten aus geheimen Vorermittlungen durchsticht, ist allen außerhalb des engsten Kreises um den Exbundeskanzler längst klar, dass es nicht beim »Beiseitetreten« bleiben kann.

Trotzdem wäre es falsch, der ÖVP Vorwürfe für den schleichenden Rückzug ihres Superstars zu machen, selbst wenn er von der Idee getragen ist, dass Kurz als Schattenkanzler und VP-Obmann weiterhin die Hauptrolle in der Koalition spielen wird. Der Organismus Volkspartei ist nämlich noch lange nicht so weit, den politischen Super-GAU, den die Chatinhalte ausgelöst haben, in ihrer Tragweite zu bewältigen. Was in der ÖVP gerade passiert, erinnert stark an die Phasen der Akzeptanz von lebensbedrohenden Krankheiten, wie sie aus der Psychologie bekannt sind. Die erste Phase ist das »Nicht-wahr-haben-Wollen des Problems«. Damit hat sogar der engste Zirkel um den Exkanzler bereits abgeschlossen. Dieser innerste Kreis befindet sich gerade in der zweiten Phase – »dem Zorn und dem Ärger«. Hoffnungslos überfordert mit den Dingen, die über Kurz und die ÖVP hereinbrechen, ärgern sich die Weggefährten des Exkanzlers, dass es ausgerechnet die ÖVP und nicht eine andere Partei getroffen hat. Schließlich sind sie überzeugt, dass die auch nichts anderes tun als das, wobei man selbst ertappt wurde.

Die VP-Landesorganisationen und die Bünde sind jedoch bereits in der dritten Phase, »dem Verhandeln«. Sie haben das Problem akzeptiert und wissen, dass die Zeit, die für eine Schadensbegrenzung bleibt, verrinnt. Innerhalb von wenigen Wochen muss die ÖVP ihr Regierungsteam völlig neu aufstellen und einen neuen Parteichef finden. Denn sonst folgt unweigerlich die vierte Phase – »die Depression«. Und die geht der fünften Phase, »der Akzeptanz« des eigenen Untergangs, voraus.

Noch wagt sich kaum ein namhafter ÖVP-Funktionär aus der Deckung. Es ist keine Frage mehr, ob, sondern wann sich die Landeshauptleute mit oder ohne die VP-Bündechefs zusammenfinden, um zu tun, was getan werden muss.

Kickl und Kogler als Krisengewinner?
Die Krise der Volkspartei hat den anderen Parteien – mit Ausnahme der NEOS – völlig neue strategische Ausgangslagen eingebracht. Mit Ausnahme der NEOS deshalb, weil sie auch weiterhin bei keiner einzigen Konstellation etwas zur Mehrheitsbeschaffung beitragen können. Ihre Unterstützung reicht nicht für einen Regierungswechsel zu Rot-Grün und für eine etwaige Zusammenarbeit einer Nach-Kurz-ÖVP mit der FPÖ werden sie erst recht nicht gewollt oder gebraucht.

Der SPÖ wiederum ist das wohl einzigartige Kunststück gelungen, so gut wie gar nicht von der ÖVP-Krise zu profitieren. Im Gegenteil. Die Annäherung von Pamela Rendi-Wagner zur Kickl-FPÖ, nur weil auf einmal eine kleine Chance auf den Bundeskanzlersessel bestand, macht die SPÖ zum zweiten moralischen Verlierer nach der ÖVP. Die Beinahe-Kanzlerin hat sich nämlich über sämtliche SPÖ-Parteitagsbeschlüsse hinweggesetzt, die eine Abgrenzung zur FPÖ festgelegt hatten. Damit hat die SPÖ ihre zentrale interne Identität als Bollwerk gegen die für sie rechtsextreme FPÖ aufgegeben. Erster Gewinner der Krise der ÖVP sind eindeutig die Freiheitlichen unter Herbert Kickl. Der kann im Kampf um die zur türkisen ÖVP abgewanderten ehemaligen FPÖ-Wähler ganz klar die Doppelzüngigkeit der Volkspartei ins Treffen führen. Die hat Türkis-Blau bekanntlich aus moralischen Gründen platzen lassen. Außerdem wurde er jetzt durch die tollpatschige Pamela Rendi-Wagner reingewaschen.

Und wegen Rendi-Wagners geplanten Verrats an der Anti-FPÖ-Linie könnten am Ende sogar die Grünen von der Krise ihres Regierungspartners profitieren. Nachdem sich Werner Kogler von der SPÖ ständig sein mangelndes Durchsetzungsvermögen gegenüber der ÖVP in der Regierung vorwerfen lassen musste, steht er auf einmal als Gewinner im Machtpoker da. Kogler kann mit einer Heldengeschichte für linke SPÖ-Wähler aufwarten. Denn Kurz ist ja nur deshalb zurückgetreten, weil die Grünen standhaft geblieben sind. Außerdem erkennen viele linke SPÖ-Aktivisten gerade, dass die Anti-FPÖ-Linie ihrer Partei nur Taktik und Show ist.

Der gefährliche Aufstand der Polen
Die Machtprobe zwischen Polen und der Europäischen Union könnte sich zur Zerreißprobe für die EU entwickeln. Denn obwohl völlig klar ist, dass EU-Recht über nationalem Recht steht und in Streitfällen der Europäische Gerichtshof entscheidet, hat das polnische Verfassungsgericht geurteilt, dass polnisches Recht vor EU-Recht steht. Der Versuch des EuGH, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstoße gegen die Regel des Vorrangs der Verfassung und gefährde die Souveränität Polens, so der Beschluss. Bereits im März hatte der EuGH festgestellt, dass EU-Recht die Mitgliedstaaten dazu zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt. Konkret geht es um das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts in Polen, das gegen EU-Recht verstößt. Damit kann der EuGH Polen dazu zwingen, Teile der umstrittenen – verfassungsrechtlich abgesicherten – Justizreform wieder aufzuheben.
Statt das EuGH-Urteil zum Anlass für einen gesichtswahrenden Rückzieher zu machen, hat sich Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki mit der Bitte an das polnische Verfassungsgericht gewandt, die EuGH-Entscheidung zu überprüfen. Dazu muss man wissen, dass das polnische Höchstgericht kein unabhängiges Gericht im eigentlichen Sinn ist. Es sieht seine Aufgabe vor allem darin, die Aufträge der PiS-Regierung umsetzen. Das Urteil gegen den Vorrang von EU-Recht ist daher eine Farce.

Vor wenigen Tagen hat Polens Streit mit den EU-Institutionen eine weitere Eskalationsstufe erreicht. In seiner Rede vor dem EU-Parlament sprach der polnische Premier Morawiecki nämlich von Erpressung durch die EU. So würden die EU-Kommission und das EU-Parlament versuchen, schleichend ihre Kompetenzen zu Lasten Polens auszuweiten. Morawiecki verwies dabei auf die zahlreichen Extrawürste, die die EU regelmäßig brät, um den EU-rechtswidrigen Sonderwünschen wichtigerer Mitgliedsstaaten entgegenzukommen. Die Spielregeln müssten, so der Premierminister, für alle Mitgliedsstaaten gelten. Die Rechtsstaatlichkeit beinhalte auch die Pflicht der Institutionen, das einzuhalten. Das Problem dabei ist, dass die EU-Institutionen in der Vergangenheit tatsächlich immer wieder mit zweierlei Maß gemessen haben, wenn es etwa um Sonderwünsche von Frankreich oder Deutschland ging. Trotzdem sind sich die Mitgliedsstaaten und alle Fraktionen des EU-Parlaments mit Ausnahme der Rechtsradikalen darin einig, die Interessen der Union gegen Polen durchzusetzen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drohte daher mit neuen Sanktionen: »Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden.« Die Kommission müsse handeln, weil das polnische Urteil die Grundlagen der Europäischen Union in Frage stellt. Zur Wahl stehen ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren oder ein Artikel-7-Verfahren, das zum Entzug der polnischen Stimmrechte bei EU-Entscheidungen führen könnte. Das EU-Parlament fordert hingegen die erstmalige Anwendung des »Rechtsstaatsmechanismus«. Das ist jenes neue Sanktionsverfahren, das renitente Mitgliedsstaaten mit der drohenden Kürzung von EU-Mitteln zum Einlenken zwingen soll. Und das Parlament droht sogar damit, die Kommission beim EuGH zu klagen, wenn sie weiter zögern sollte, den Mechanismus in Gang zu setzen. Der Aufstand der Polen hat sogar das Potenzial, den weiteren Bestand des Binnenmarktes zu gefährden, weil es den gemeinsamen Rechtsrahmen gefährdet. Das kann natürlich weder von den Mitgliedsstaaten und erst recht nicht von der EU-Kommission hingenommen werden. Gleichzeitig hängen zahlreiche andere europäische Entscheidungen wie die Umsetzung des »Fit for 55«-Klimaschutzpakets von der Mitwirkung Polens ab.

Der polnische Ministerpräsident ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Polen seine Rechtsauffassung beibehalten werde. Und damit geht es längst nicht mehr nur um die Rechte der polnischen Bevölkerung, sondern um die Rechtssicherheit aller Europäer. Polen bestreitet zwar, einen Austritt aus der EU anzustreben, doch wenn die Grundfesten der Union gefährdet sind, könnte der am Ende nicht zu verhindern sein; mit allen unwägbaren Konsequenzen für die Europäerinnen und Europäer.

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Politicks, Fazit 177 (November 2021)

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