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Außenansicht (32)

| 2. Mai 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 182

Die Ukraine und die neuen Moralwächter. Irgendeine berühmte Sängerin – es scheint sie jeder zu kennen, deshalb ersparen wir uns den Namen – zeigte sich in der Vergangenheit auf ihrer Homepage und in der Öffentlichkeit immer wieder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

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Sie hatte nichts gegen Fotos von Journalisten bzw. Fotografen und protestierte auch nicht, wenn Bilder mit ihr und Putin in den Medien gezeigt wurde. Lächelnd stand sie neben dieser nun seit kurzem meist verhassten Person, und nicht nur sie, viele andere waren stolz auf solche Bilder, und warteten oft stundenlang bei Veranstaltungen, bis sie endlich an der Reihe für das Foto waren. Bilder mit Putin zeigten eine gewisse Wichtigkeit und wurden stolz veröffentlicht wie verbreitet. Manche intervenierten sogar über ihre Beziehungen zu den Medien, wenn vorhandene Fotos nicht groß und plakativ wiedergeben wurden.

Mit dem Überfall auf die Ukraine änderte sich das innerhalb von Stunden. Was einst Symbol einer gewissen Prominenz war, wurde nun zur Peinlichkeit und Blamage und führt zur Verurteilung in der Öffentlichkeit. Nicht der Fotograf, der Journalist, der Chef vom Dienst, der Chefredakteur, der einst das Bild übernahm und einen netten Text darunterschrieb, fühlt sich verantwortlich, nein, der »Held« in den Bildern und in den Meldungen muss es büßen. Vom Schifahrer bis zum Exkanzler und Manager wichtiger Konzerne werden Namen aufgezählt, alte Bilder gezeigt, und sie alle als Missetäter demaskiert. Die »Putin-Freunde« nennt man sie und machtsie mitverantwortlich für den Krieg in der Ukraine.

Manche reagieren betroffen und verurteilen den Krieg oder traten gar zurück von gut dotierten Positionen in russischen Unternehmen. Andere bleiben bei ihrer Position gegenüber Putin und werden öffentlich an den Pranger gestellt. Nur jene in den Medien, die einst das Nahverhältnis dieser Personen mit dem russischen Präsidenten völlig kritiklos wiedergaben, fühlen sich nicht schuldig. Auch Politiker, die Exkollegen nie für ihre Zusammenarbeit mit russischen Unternehmen zur Rede stellten, empfinden ihre plötzliche Meinungsänderung als völlig normal. Verantwortliche aus dem Kulturbereich, die russische Künstler oder Kolleginnen und Kollegen engagierten, die mit Unterstützungen aus Russland arbeiteten – und das viele Jahre völlig kommentarlos zur Kenntnis nahmen –, entdecken plötzlich ihre kritische Dimension im Denken und Handeln und schließen diese Kunstschaffenden aus dem Kunstbetrieb aus. Von einem Tag zum nächsten verschwinden Sänger, Dirigenten, Solisten, die alle viele Jahre vom Publikum ausnehmend gefeiert wurden.

»Otto Normalverbraucher« hat plötzlich die Moral entdeckt. Die Gleichgültigkeit wird kollektiv mit der Empörung ersetzt. Es gibt eine Form von Schulterschluss der neuen Gesellschaft der Anständigen. Die Empörung vereint alle von links bis rechts, von konservativ bis grün, von sozialdemokratisch bis bürgerlich. Entsetzen über die Gräuel in der Ukraine muss öffentlich sein, ebenso Unterstützungserklärungen für Flüchtlinge. Diese Gemeinsamkeit bekommt jedoch nur die entsprechende Anerkennung, wenn sie entsprechend formuliert und damit erkennbar ist. Einfach nur erschüttert über die Ereignisse in der Ukraine zu sein, ist nicht genug. Die neuen »Moral-Wächter« in Politik und Medien müssen überzeugt werden mit klaren, eindeutigen Stellungnahmen. Dann dürfen Sänger und Sängerinnen wieder singen, Maler wieder malen, Schriftsteller wieder schreiben, Klavierspieler wieder Klavier spielen und Dirigenten wieder dirigieren. Ein drohendes Berufsverbot kann etwa  mit dem Satz »Ich bin gegen den Überfall der Russen auf die Ukraine« aufgehoben werden. Auch »Meiner Meinung nach ist Putin ein Kriegsverbrecher«  wird noch akzeptiert.

Historische Vergleiche funktionieren selten und ich möchte auch keine versuchen. Rückblickende Verhaltensvergleiche bieten sich eher an, als immer wieder ein aufgesetztes, verlogenes, kollektiv-moralisches Verhalten, bestimmte Personen aus der Gesellschaft ausschloss. Die Kriterien für Aufnahme oder Ausschluss sind dabei völlig zufällig ausgewählt und definiert. »Wir« bestimmen, wer singen und tanzen, auf Universitäten unterrichten, in Zeitungen schreiben oder Bücher publizieren darf. Wer also noch »dazu gehört«.

Außenansicht #32, Fazit 182 (Mai 2022)

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