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Auf Zeitreise ins Espresso

| 9. Juni 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 183, Fazitbegegnung

Foto: Heimo Binder

Ein Kaffeehaus von 1927 muss man erst einmal finden – und einen Besitzer, der es geschafft hat, Mitte der Neunzehnsiebzigerjahre die Zeit anzuhalten. So geschehen am Dietrichsteinplatz 13a in Graz. Carl Maria Maximilian Binder (75) hat das Lokal von seinem aus Wien stammenden Vater Carl Johann übernommen, nachdem die Mutter Maria es als Witwe nur mit Dispens eine Zeit lang fortführen durfte (auch das waren die Siebziger!). Und er hat es im Stil der Zeit aus- und umgebaut, daher ist es ein »Espresso« – und das ist es bis heute geblieben.

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Carl Binder: »Nur mit den besten Materialien: Teakholz, Messing, Brüsseler Spitzengardinen, Stühle von Thonet, Musikbox von Rock-Ola, nicht von Wurlitzer, damals eine der ersten in Graz.« Und Stones statt Beatles. Analog als Singles aus Vinyl natürlich. Da ist er konsequent – kein Handy, kein Computer und ein Opel Rekord von 1956, noch vom Vater geerbt. Und dieser Vater war in den Fünziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts als »singender Konditor« bekannt, ist im Stefaniensaal aufgetreten und durfte in seinem Lokal Gäste wie Hans Moser begrüßen. Und er hat ein strenges Regiment geführt. Sohn Carl musste die Ware mit dem Rad ausführen, Gedichte aufsagen und auch »entsprechen«, als er schon älter war: »Sonst habe ich die Schlüssel für den Alfa Romeo Giulia Super nicht gekriegt.«

Carl Binder hat eine raue Schale, aber einen weichen Kern, zu dem man sich allerdings erst vorarbeiten muss. Wohlgemeinter Tipp: Sagen Sie nicht »Wirt«, auch nicht »Herr Wirt« zu ihm. Diese Bezeichnung hört er nicht gern, schließlich ist er Konditormeister: »Seinerzeit sogar der jüngste! Gelernt beim Strehly in Graz und beim Musil in Klagenfurt.« Mehrfach prämiert gilt er auch als der Erfinder der Grazer Schloßbergtorte. Torten macht er als Einmannbetrieb heute allerdings keine mehr, aber noch Brioche, herrliche Nußbeugerl oder diverses Plundergebäck.

Eigentlich ist er der letzte richtige Alt-Wiener-Cafetier, genauer Espressier – falls es dieses Wort überhaupt gibt. In Binders Espresso ändert sich der Rhythmus der Stundentrommel, umgeben von Versatzstücken und Fotos aus vergangenen Zeiten eröffnet sich hier eine Parallelwelt, in der eine Zeitreise möglich ist. Ob es früher besser war? Carl Binder: »Die Autobusse in der Grazbachgasse haben früher längere Stehzeiten gehabt. Da sind viele auf einen Kaffee hereingekommen.« Die langen Schließungsphasen während der Covidkrisenzeit hingegen haben der Gastronomie merklich zugesetzt.

Binders Auftritt im Film »Im Jakotop«, einer Dokumentation über den Bezirk Jakomini von Markus Mörth im Rahmen des Kulturjahres Graz 2020, dürfte das entrückte, wie aus der Zeit gefallene Kaffeehaus aber vor allem einem jüngeren Publikum nähergebracht haben. Es gilt mittlerweile als »kultig«. Zweiter Tipp: Schauen Sie sich den Film an, dann wissen Sie zum einen was Sie erwartet, falls Sie noch nie im Espresso Binder waren, zum anderen machen Sie dem Chef eine Freude. Aber fragen Sie niemals, ob er etwas verkauft, schon gar nicht den Opel, über den man auf dem Weg in die Toilette quasi stolpert oder gar das Kaffeehaus. Er könnte es für Neid halten und da hat er eine eindeutige Meinung: »Geiz ist gegen Neid eine Nobeltugend.« Antreffen werden Sie ihn leicht, jeden Tag von 7 bis 20 Uhr, außer samstags. Auch Sonntage und Feiertage hat er geöffnet. »Ich bin jeden Tag 13 Stunden im Geschäft«, bringt es Carl Binder auf den Punkt, »und ich gehe nicht in Pension, sondern ich bleibe bis sie mich raustragen.« Der Mann gehört unter Denkmalschutz.

Carl Maria Maximilian Binder wurde am 7. August 1946 in Graz geboren, er ist ledig. Schon sein Großvater hatte drei Lokale in Wien, sein Vater Carl Johann zog wegen Carls Mutter Maria nach Graz und öffnete vor 95 Jahren das Lokal am Dietrichsteinplatz. Carl jun. besuchte die Wieland-Hauptschule und absolvierte die Konditormeisterprüfung, um Mitte der Neunzehnsiebzigerjahre das Lokal zu übernehmen. Spätestens seit dem Film »Im Jakotop« genießt er Legendenstatus.   Espresso Binder auf Facebook

Fazitbegegnung, Fazit 183 (Juni 2022) – Foto: Heimo Binder

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