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Außenansicht (39)

| 27. Dezember 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 189

Über den Verlust des Vergnügens. Wenn dieser Text erscheint, ist die Fußball-WM vorbei. Dennoch wage ich jetzt schon die Prophezeiung: Entgegen aller Voraussagungen war sie ein großer Erfolg. Wer die Begeisterung der arabischen Fans erlebte, als Marokko die Fußballkönige Spanien und Portugal aus dem Turnier warf, musste erkennen, dass alle kritischen Kommentare in westlichen Medien keinen Einfluss hatten.

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Über den Verlust des Vergnügens. Wenn dieser Text erscheint, ist die Fußball-WM vorbei. Dennoch wage ich jetzt schon die Prophezeiung: Entgegen aller Voraussagungen war sie ein großer Erfolg. Wer die Begeisterung der arabischen Fans erlebte, als Marokko die Fußballkönige Spanien und Portugal aus dem Turnier warf, musste erkennen, dass alle kritischen Kommentare in westlichen Medien keinen Einfluss hatten. In Doha wurde gefeiert, auf eine neue, völlig unterschiedliche Art und Weise. Besucher aus allen Ländern lobten das Alkoholverbot, die Sicherheit auch nachts auf den Straßen, die perfekte Organisation, die modernen Stadien mit bequemen Sitzen, die guten Angebote in den Restaurants und Hotels. Man wollte sich wohl fühlen, sich vergnügen und einfach nur guten Fußball sehen, und der wurde geboten. Und nicht die Europäer waren die wichtigen Besucherinnen und Besucher, sondern jene aus Asien, Südamerika und Afrika.

Vielleicht kündigt sich hier eine neue Sehnsucht an. Ein Ereignis zu genießen, ohne sich mit Problemen zu belasten, die Schrecken der Wirklichkeit für kurze Zeit hinter sich zu lassen, wie bei einem Kinobesuch, einem Tag im Vergnügungspark, im Urlaub am Strand. Diese Momente an sich zu reißen und sich von nichts und niemandem stören zu lassen, eine imaginäre Schutzmauer aufzubauen, die wie ein Filter Probleme und Kritik fern hält.

»Kritisch zu sein« ist zu einer Ersatzreligion geworden. Wer nicht wenigsten einen kritischen Kommentar, eine Bemerkung zu einem Ereignis, einer Person, einer Idee, einer politischen Strategie, einer Religion, einer Ideologie, einem Theaterstück, einem Buch oder Film, einem Politiker, einer Politikerin, dem Nachbar, dem Busfahrer, der Eisenbahn, der Topfengolatsche oder dem Schnitzel im Gasthaus um die Ecke bietet, wird sich überlegen müssen, ob sein kritisches Bewusstsein nicht erkannt, und er oder sie als oberflächlich und leichtgläubig gesehen werde; und wer will das schon.

Früher war es einfach nur Nörgeln, vielleicht aus mieser Laune, man hatte einen schlechten Tag, am Abend zuvor zu viel getrunken oder nicht gut geschlafen. Heute ist es die Kritikfähigkeit, die uns prägt gegenüber anderen und unsere intellektuelle Position in der Gesellschaft definiert. Das ehemalige Nörgeln wurde ersetzt durch die Fähigkeit, reale Fehler zu entdecken, und das Aufdecken von verborgenen Lücken in der angeblichen Perfektion. Dabei definiert der Kritiker oft selbst die scheinbar reale Situation, um dann den Spalt zu finden, in den er schlägt.

Wenn also der Wirt um die Ecke glaubt, das beste Schnitzel anzubieten, so irrt er, sein Schnitzel ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Doch hat der Wirt tatsächlich behauptet, sein Schnitzel sei das beste? Hat Katar je behauptet, eine Demokratie zu sein und allen Homosexuellen die gleichen Rechte einzuräumen? Orientiert sich Kritik und kritisches Verhalten an einer Erwartungshaltung, die nie Realität war?

Was bleibt, ist eine Gesellschaft, die die Fähigkeit, sich zu vergnügen, verloren hat. Lachen kann man nur mehr über politisches Kabarett, in dem der politische Gegner verhöhnt wird. Wirklich lustig sind zynische Kommentare auf Twitter oder Karikaturen, die jene lächerlich machen, die man verachtet. Vielleicht darf es kein »harmloses« Vergnügen mehr geben? In Zeiten wie diesen muss man ernst sein und Lachen könnte ein Zeichen von Oberflächlichkeit bedeuten, das völlige Loslassen und Vergessen aller Probleme ein Symbol für dumpfes Spießertum.

Nach dem zweiten Weltkrieg sprach der deutsche Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich von der »Unfähigkeit zu Trauern«. Diese Zeit ist längst vorbei, heute dominiert die »Unfähigkeit, sich zu erfreuen«. Der Genuss beschränkt sich auf Kaviar und Champagner zu Silvester, sich über einfache Dinge des Alltags zu begeistern – wie die Übertragung eines tollen Fußballspiels aus einem schrecklich undemokratischen Land – ist verpönt. Manchmal hilft der Alkohol, der die Kritikhemmung außer Kraft setzt, aber ohne »Hilfsmittel« versinken viele in Verzweiflung über extreme Rechte und Linke, Islamisten, Klimaprobleme, Plastikverschmutzung, Asylbetrug, den Bundeskanzler, die Opposition, die Bürgermeisterin, Benzin-, Gas- und Strompreise, Ukrainekrieg, Trump, und – natürlich – das Schnitzel beim Wirt um die Ecke.

Außenansicht #39, Fazit 189 (Jänner 2023)

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