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Nach dem ersten Akt

| 12. Mai 2023 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 192, Kunst und Kultur

Foto: Michael Pöhn

… nicht klatschen. Die mittlerweile sechste Aufführung der Parsifal-Inszenierung von Kirill Serebrennikov an der Wiener Staatsoper war wohl ähnlich glänzend wie die fünf davor. Anmerkungen zu einem Gründonnerstagserlebnis anlässlich einer Wiederaufnahme.

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Zuvörderst jedoch sei einführend noch auf etwas anderes hingewiesen. Erstaunlich, wie man noch vor wenigen Monaten zusammensitzen musste oder zur Pause mühevoll das wohlverdiente Pausenmineralwasser im Gustav-Mahler-Saal am Maskenrand vorbei in sich hineinschlürfte. Gibt es eine verlässliche Messskala menschlicher Vergesslichkeit bzw. Unbedenklichkeitsbescheinigungen, so ist die sogenannte Covidperiode am beginnenden dritten Jahrtausend christlicher Zeitordnung der Anthropozänära als Paradebeispiel zu nennen. In dieser Phase lassen sich zwei Basiskonstanten des Homo sapiens festmachen. Namentlich: »Furcht« und »Mitleid«. Furcht vor dem Zwang und Mitleid mit sich selbst.

Parallelnarrative
Womit wir beim eigentlichen Thema wären – und setzen folgerichtig mit Fernsehen fort: Als die laufende Parsifal-Inszenierung der Staatsoper vor zwei Jahren über den Kultursender des Öffentlich-Rechtlichen flimmerte, konnte das Erstaunen nicht größer sein ob des enormen Einsatzes von Videomaterial, das für sich genommen Parallelnarrative erzählt. Die Gefängnisparaphrase auf der Bühne bekommt durch die Aufnahme tätowierter Häfenbrüderdarsteller und des berühmten weißen Schwans in Menschengestalt zusätzliche Akzentuierung, die, wie angesprochen, vor dem Bildschirm mit Chips und billigem Fusel perfekt funktioniert. Der (verspätete) Opernbesuch gestaltet sich schwieriger, weil mit mehr Brechungen in der Wahrnehmung. »Schande«, hallt es dann aus dem Zuschauerraum nach dem ersten Akt. Dies umso lauter, als nach dem ersten Akt des Weihespiels nicht geklatscht werden sollte. »Ich komme eh nur wegen dem Jordan«, raunt eine Sitznachbarin beleidigt. Und Phillipe Jordan ist von der alten Mannschaft 20/21 der Einzige, der übergeblieben ist. Aber der wohnt ja faktisch in der Staatsoper.

Nimbus der Furchtlosigkeit
Serebrennikov kommt ja ursprünglich von der jungen Wildheit und die hat recht viel mit neuen Medien zu tun. Selbige kommen massiv in Wagners Weltabschiedswerk, dessen Uraufführung der Meister 1882 nur ein halbes Jahr überlebte, zum Einsatz. Der Regisseur stürmte Anfang der Nullerjahre das russische Schauspieltheater und hatte den Nimbus der Furchtlosigkeit. Der russische Neologismus der »Regieoper« könnte passender für diese Inszenierung nicht sein. Der »Parsifal« zuerst einmal für die Saison 20/21 mit den Superstars Jonas Kaufmann, Georg Zeppenfeld und Elina Garanca umgesetzt, ist mit all seine Facetten vor allem eines: ein multiples, nach allen Seiten offenes Konzept. Stofflich ging es einst doch nun mal darum, sein eigenes Leiden (seine Schuld oder Sünde je nach Weltanschauung) zu erkennen und dadurch Mitleid mit anderen zu empfinden. Der Held schließt von seinen Gefühlen auf ähnliche der anderen – wir sind fast geneigt zu sagen: Es ging um Empathie.

Leinwand und Bühne im Wechselspiel
Diese neu gewonnene Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, gepaart mit empathischem Handeln, macht ihn stark. Diese drei Begriffe, am Ende als brennende Wörter gezeigt, subsumieren die gesamte Oper. Dieses Konzept geht auf, dank gekonntem Wechselspiel der Handlungen auf Leinwand und Bühne. Dass der ursprüngliche Wagnerintimus Friedrich Nietzsche zur Abkehr und zum Urteil »Wagner ist fromm geworden« veranlasste, lag wohl auch daran, dass er die Denke des Meisters plötzlich im christlichen Lager verortete. Für deklarierte Nationalsozialisten einige Jahrzehnte später ein Grund, dieses eine Werk Wagners zu dissen. Die aktuelle Besetzung ist zudem ansprechend. Vor allem Michael Nagy als Amfortas und Ekaterina Gubanova als Kundry sind hervorzuheben. Mittlerweile ist es Gewissheit, dieser Parsifal schafft es auch in das Osterangebot der nächsten Saison! Und als weiteres Aviso: Der heiße Juni verspricht noch einmal mit Wiederaufnahmen ein schöner Wagnermonat zu werden. Gleich zweimal bietet die Wiener Staatsoper die komplette Nibelungen-Tetralogie Wagners an. Hören und schauen Sie sich das an.

Parsifal
Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen von Richard Wagner
Wieder zu Ostern 2024 in der Wiener Staatsoper
staatsoper.at

Alles Kultur, Fazit 192 (Mai 2023), Foto: Michael Pöhn

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