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Die Paradoxie des Neuen

| 23. Oktober 2013 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 97, Fazitthema

Die Paradoxie des Neuen Rasierklingen und Regierungen, Zeitschriften und Mode haben eines gemeinsam: Sie sind auf den Nimbus des Neuen angewiesen. Eine alte Rasierklinge, die Mode aus dem letzten Jahr, Politik von vorgestern oder die sprichwörtliche Zeitung von gestern – sie alle sind ein rotes Tuch in unserer Gesellschaft, in der nur das Neue auch das Gute sein kann. Man muss dabei nicht unbedingt so weit gehen wie Heinrich von Pierer, der ehemalige Siemens-Vorstand: »Unternehmen müssen sich selbst erneuern, oder sie werden sterben.«

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Grundsätzlich gibt es natürlich nichts, was nicht regelmäßig erneuert werden sollte. Nichts hält ewig, und wenn doch sorgen allein die Langweile und die Lust aufs Neue dafür, dass der Fortschritt nicht aus lauter Zufriedenheit zum Erliegen kommt. Gleichzeitig steht dieser Lust am Neuen eine Liebe zum Vertrauten gegenüber, die der Filmemacher Peter Greenaway schon als »Tyrannei des Bestehenden« verunglimpft hat.  Die Tyrannei des Erneuerungszwanges soll auf diesen Seiten aber ebenfalls zur Sprache kommen

Es gibt natürlich gute Gründe, warum wir beim Rasieren immer auf frische Klingen achten. Sie schneiden besser und schneller, sind hygienischer als Mehrfachklingen. Gleichzeitig werden – gefühlt im Monatsrhythmus – ständig neue Rasierer mit besserer Technologie, noch mehr und noch schärferen Klingen und noch flexibleren Köpfen erfunden. Weiß der Kuckuck wozu. Als ob irgendeine dieser Innovationen jemals das tägliche Ritual der Rasur verändert hätte. Ja, es gibt seit geraumer Zeit elektronische Rasierer, die vor allem dabei helfen Müll zu vermeiden, aber auch die technischen Neuerungen, die in diesem Segment angepriesen werden, halten sich doch in den Grenzen der Notwendigkeit. Ein Rasierer rasiert. Mehr muss er nicht können und mehr wird er auch in hundert Jahren nicht können müssen.

Doch genau das hätte man für viele Dinge behaupten können, die dann revolutioniert wurden. Auch ein Mobiltelefon hat lange seinen Zweck erfüllt. Und plötzlich konnte man damit Fotos machen und im Internet surfen. Innovation lässt sich nicht vorhersehen. Der Epilierer – hauptsächlich von Damen verwendet – ist zum Beispiel eine tatsächliche Weiterentwicklung. Mit ihm wurde nicht irgendein Teil des Rasierers verbessert, sondern die Methode mit der der Zweck – die Haarentfernung – erfüllt wird, erneuert. Zupfen statt schneiden – das hat nicht die Welt revolutioniert, aber den Markt um eine wesentliche Alternative erweitert.

Gleiches ließe sich für die entscheidenden Fortschritte von der Schellack- über die Vinylplatte, weiter über die Kassette und die CD bis hin zum digitalen Format feststellen. Die wesentlichen Entwicklungsschritte lagen nicht innerhalb der Technologien – also von Schallplatten mit 33 Umdrehungen pro Minute auf jene mit 45 oder von 60-Minuten-Kassetten zu 120 Minuten –, sondern entscheidend waren die revolutionären Technologiesprünge. Diese haben, das sollte man bei allem Fortschritt nicht vergessen, nur selten zur völligen Verdrängung der „alten“ Technik geführt. Sie haben aber immer das Angebot so sehr verbessert und vergrößert, dass sich neue Massenmärkte für neue Massentechnologien gebildet haben. Gleichzeitig gibt es nach wie vor Liebhaber, die sich für die Aura der knisternden Schallplatte oder den riskanten Schliff eines echten Rasiermessers begeistern können. Und dazu gibt es Unternehmen, die auch diese Vorlieben gewinnbringend bedienen. Um die bereits ausgestorbenen Polaroidbilder wiederzubeleben, wurde mit »Impossible« sogar eine neue Firma gegründet, die nun dieses wunderbare »Rohmaterial« produziert.

Der Massenmarkt wandert immer (und immer schneller) mit der neuen Technologie – und mit ihm das große Geld. Doch dadurch entstehen Nischen, die sowohl qualitativ als auch kommerziell beeindruckend sind. Die Innovation von etwas völlig Neuem schafft den Raum, das Alte noch besser zu machen. Denn heutige Plattenspieler sind ebenso wie Rasiermesser oder Polaroidfilme nicht mehr mit der Durchschnittsware von früher zu vergleichen.

Erfindungen und Patente
Damit sich Erfindungen für ihre Erfinder auch finanziell lohnen, wurde 1474 in Venedig so etwas wie ein Patentamt eingeführt und die Neuheiten der damaligen Zeit konnten zumindest für die Dauer von zehn Jahren geschützt werden. Angeblich soll sogar schon 500 Jahre vor Christus im süditalienischen Sybaris ein Monopolrecht für Kochrezepte gegolten haben. Köche sollten in die Stadt gelockt werden, indem ihre Rezepte ein Jahr lang nicht von anderen nachgekocht werden durften. Der Grundgedanke, dass Ideen und Erfindungen, die ja meist auch das Ergebnis von Investition und Leistung sind, geschützt werden, wurde aber in den letzten Jahren – vor allem durch die Einführung der Digitaltechniken – ad absurdum geführt. Die Kopie selbst ist längst schon Technologie geworden und das Aufgreifen bekannter Ideen, bestehender Software etc. ist unvermeidlicher Teil jedes weiteren Fortschritts. Das beschränkt sich nicht nur auf die in früheren Fazit-Ausgaben geführten Urheberrechtsdebatten oder Fragen der Kunst, sondern spielt in der zunehmend digitalisierten Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Das Patentrecht hatte lang und hat wohl auch heute noch seine Berechtigung, gleichzeitig eskaliert das Patentieren von allen möglichen Unsinnigkeiten. Dazu kommt der gerade wieder anschwellende Streit, ob sich genetische Codes, Lebewesen oder andere »natürliche« Dinge patentieren lassen sollen. Die sogenannten Patent-Trolle versuchen, sich die Rechte auf alles Mögliche zu sichern und so ihre Konkurrenz zu verhindern oder zumindest durch lange juristische Streitigkeiten zu behindern. Die Zahl der jährlich beantragten Patente hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt!
Laut der Anwältin Julie Samuels haben Apple und Google 2011 »erstmals mehr Geld für Patente ausgegeben als für die Entwicklung neuer Technologien und Produkte«. Mit dem Kauf von Motorola – ebenfalls 2011 – erhielt Google ganze 17.000 Patente des Handyherstellers. Über die Qualität von Patenten wird weder gestritten noch entschieden. Selbst das Klicken eines Hyperlinks und die Benutzung der Maus wurden in den Anfangszeiten des Internets patentiert. Zuletzt verlor Apple allerdings den Patentstreit um die Idee, den Handybildschirm durch Wischbewegungen zu entsperren. Ob solche Streitigkeiten den Fortschritt nicht sogar mehr hemmen, als ermöglichen, ist umstritten. Gefährdet wird die Entwicklung aber, wenn der Ankauf von Patenten und der Gewinn aus daraus resultierenden Patentklagen profitabler wird als tatsächliche Innovationsarbeit. All das gilt es bei einer dringend nötigen Überarbeitung des Patentrechts mitzudenken.

Wahlen und Neuwahlen
Eine neue Regierung kann nur besser sein als die vergangene. Das war nicht nur der einhellige Tenor dieser Nationalratswahl, sondern das ist Prämisse für überhaupt alle Wahlen und Wahlkämpfe. Schon allein um mit neuen Personen auch neue Ideen, neue Schwerpunkte und eine neue Sprache in die Politik zu bekommen, finden regelmäßig Wahlen statt, und wie die Umfrage im letzten Fazit gezeigt hat, sind diese immer mit der Hoffnung verbunden, dass dadurch nicht alles, aber vieles besser wird. Die Enttäuschung ist aufgrund dieser Erwartungen natürlich ebenso programmiert. Denn es hängt nicht allein an Personen und Machtverhältnissen, wie und ob sich Politik erneuert.
In der Steiermark blieb nach der letzten Landtagswahl die gesamte Regierung – trotz Wahlverlusten von SPÖ und ÖVP – im Amt, lediglich einige Ressorts wurden getauscht. Und trotzdem kehrte mit der neuen alten Regierungsmannschaft nicht nur rhetorisch ein neuer Politikstil ein. Die selbsternannten Reformpartner lösen das Versprechen ein, das sie sich mit ihrem Namen gegeben haben. Sowohl in der Art und Weiße der Zusammenarbeit, als auch im Bereich der Gemeindestrukturreform. Eine politische Erneuerung, die ohne neue Politiker vollbracht wurde. Der Wechsel von Konfrontation auf Kooperation gelang sogar den Scharfmachern von damals.

Die neue Bundesregierung ist bei Erscheinen des Textes noch nicht bekannt, offensichtlich scheint aber, dass es dort keine grundlegenden Neuerungen gibt. Daran kann auch jene Partei, die das »Neue« im Namen hat, die Neos, die erstmals im Parlament vertreten sein werden, nichts ändern. Ihr Anspruch »Österreich erneuern« wird sich kaum erfüllen lassen – selbst wenn sie das vom Parteivorsitzenden Matthias Strolz geforderte Bildungsministerium bekommen sollten. Macht, Mehrheit und Machbarkeiten sind trotz der phonetischen Nähe nicht immer leicht zu vereinen. Sichtbar wurde das in der letzten Legislatur am Beispiel von Sebastian Kurz, der trotz zahlreicher erfolgreicher Projekte und tadelloser Amtsführung weder eine neue Flüchtlings- oder Asylpolitik einführen noch die gesamte Schulbildung für Migranten verbessern konnte. Der politische Erfolg ist nur in kleinen Schritten und selten durch große und plötzliche Umbrüche zu haben. Der »Neustart«, der so manches Computerproblem behebt, bleibt in der Politik und im Leben eine rhetorische Finte. Sturm Graz musste nach der Ära von Franco Foda so oft neu starten – mit neuen Trainern, neuem Vorstand, neuen Spielern –, dass man sich zuletzt schon nicht mehr traute, das Wort in den Mund zu nehmen. Nach ewigen Turbulenzen in Mannschaft und Geschäftsführung folgte irgendwann doch der Mut (oder die Notwendigkeit), trotz ausbleibender Erfolge an Trainer Darko Milanič und der Geschäftsführung festzuhalten. Und seit September zeigt die Form- und Platzierungskurve beim SK Sturm auch wieder aufwärts.

Geduldiges Beharren trotz anhaltender Niederlagen ist selten. Sowohl im Sport als auch in der Politik. Manche können sich keinen halben Fehltritt leisten (Christian Wulff), andere ruinieren neben ihrem eigenen Image auch das von Partei und Regierung und bleiben trotzdem im Amt (Nikolaus Berlakovich). Und wieder andere werden abgewählt, obwohl sie beliebt und erfolgreich sind: Der inzwischen ehemalige Ministerpräsident von Norwegen, Jens Stoltenberg, wusste schon vor der Wahl, dass es trotz sehr großer Zufriedenheit, guter Wirtschaftslage und niedriger Arbeitslosenzahlen im Land auch Lust auf etwas Neues gab. Die Koalition von Sozialisten, Arbeiter- und Zentrumspartei verlor im September schließlich die Wahl und Stoltenberg gestand trotz des ersten Platzes für seine eigene Partei die Niederlage der Koalition ein. Künftig wird Norwegen also eine rechts-konservative Regierung mit Erna Solberg als neuer Regierungschefin bekommen – ohne dabei allzu gravierende Kurswechsel in der Politik vorzunehmen. Das Volk hat gezeigt, dass ihm die vermeintliche Notwendigkeit und Lust auf eine personelle Erneuerung wichtiger sind, als die Absicherung des bereits Gewohnten. Diese Kombination aus Mut und Notwendigkeit ist wesentlich, um Raum für das Neue zu schaffen.

Fazit
Und wir müssen auch uns selbst diesem Spannungsfeld stellen. Seit der Gründung dieses Magazins vor neun Jahren haben wir zweimal den Namen und mehrmals das Layout des Heftes erneuert. War das nötig? Hat es mehr gebracht als die kosmetische und inhaltliche Anpassung an die Konkurrenz durch neue Medien und Tablets? Wir hoffen schon. Denn auch unsere Neuerungen sind zuerst einmal der Versuch, etwas besser zu machen, indem wir es neu machen. Gleichzeitig riskieren wir mit jeder Änderung, dass wir nicht mehr wiedererkannt werden oder manche Kategorien, die wir künftig weglassen, doch mehr vermisst werden, als von uns angenommen. Den ersten Reaktionen zufolge ist unser Vorhaben geglückt. Die Medienlandschaft haben wir damit selbstverständlich nicht revolutioniert.

Trotzdem zeigen alle Beispiele, dass es ein Trugschluss ist, zu glauben, dass alles Neue automatisch besser ist. Eine Dummheit wäre es, gar das Gegenteil anzunehmen, dass in allem Neuen der Teufel steckt. Innovation braucht Zeit und Zeitgeist, um erfolgreich zu werden – dazu kommt in der Wirtschaft auch die Frage, ob sich der erhoffte Fortschritt finanziell und rechtlich durchsetzen kann. Zumindest für Letzteres können Politiker und Unternehmen Ausgangsbedingungen schaffen, die es neuen Ideen leichter machen, sich zu entfalten und durchzusetzen.

Titelgeschichte Fazit 97 (November 2013)

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