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Fußball. Unser neuer Gott?

| 28. Mai 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 103

Foto: Gerd NeuholdEin Essay von Leopold Neuhold. Wird der Gott Fußball vom Thron gestürzt? Demonstrationen gegen die Fußball-WM, wie sie derzeit gehäuft in Brasilien stattfinden, belegen, dass Fußball nicht unumstritten ist, dass Fußball selbst bei den fußballbegeisterten Brasilianern nicht als Rechtfertigung für alles gelten kann.

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Dr. Leopold Neuhold, 1954 geboren, ist seit 2001 Vorstand des Instituts für Ethik und Gesellschaftslehre an der Karl-Franzens Universität Graz und wurde 2003 zum Universitätsprofessor für Ethik und Gesellschaftslehre berufen. In zahlreichen Publikationen und Büchern beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der katholischen Soziallehre, ethischen Aspekten der modernen Gesellschaft und dem damit verbundenen Wertewandel in unserer heutigen Zeit.

Wird der Gott Fußball vom Thron gestürzt? Demonstrationen gegen die Fußball-WM, wie sie derzeit gehäuft in Brasilien stattfinden, belegen, dass Fußball nicht unumstritten ist, dass Fußball selbst bei den fußballbegeisterten Brasilianern nicht als Rechtfertigung für alles gelten kann. Schulen, Wohnmöglichkeiten werden anstelle von im Vergleich sündteuren Fußballstadien gefordert, der Fußball, der früher der Vergebung der Sünden diente, wird nun selbst zum Sündenbock. Natürlich wird die »Copa do Mundo« von verschiedensten Berufsgruppen dazu genutzt, ihre Interessen durch Streiks zur Durchsetzung zu bringen – Busfahrer, Lehrer, Bauarbeiter gehen auf die Straße, um die durch die WM geschaffene Aufmerksamkeit zu nutzen – ein Zeichen dafür, dass die Interessen des Fußballs mit anderen Interessen abgeglichen werden sollen. Das Interesse des Fußballs ist nicht mehr unantastbar von anderen Interessen abgehoben.

Das Interesse welchen Fußballs? Es ist ja nicht so, dass die Brasilianer nicht weiterhin fußballvernarrt sind, Fußball ist weiterhin Hoffnungszeichen für Menschen, das über das Elend der Favelas hinausreicht und hinausführt. Aber das ist offensichtlich nicht mehr der Fußball, wie er sich in WM und FIFA darstellt. Dieser Gott hat als selbst ernannter Gott sich von den Menschen entfernt, er vermag nicht mehr ihre Sehnsüchte zu binden, er steht nicht im, sondern gegen das Volk, das Herz dieses Gottes schlägt in den FIFA-Zentralen, in Europa, in der Schweiz, aber nicht in Brasilien. Solches zeigt sich an den zum Großteil neu errichteten Stadien. Das legendäre Maracanã-Stadion, das als Wallfahrtsort galt, das das Spiel mit der größten Zahl an Zuschauern ausrichtete, ist durch den Umbau mit der starken Reduktion von Zuschauerplätzen ein inszenierter Wallfahrtsort für »die da oben« geworden, ein Zeichen für Ausschluss, nicht Einschluss. Dieses Stadion in Rio de Janeiro wird im großen Buch der Fußball-Rekorde als »das größte je gebaute Fußball-Stadion« geführt. Beim WM-Endspiel 1950 Brasilien gegen Uruguay wurde die höchste Besucherzahl registriert: 199.854.

Nicht nur wegen dieser enormen Zuschauerzahl, die größer ist als die der gesamten Einwohnerschaft von Genf oder etwa Linz, – das Maracanã-Stadion, in dem legendäre Fußballspiele der brasilianischen Nationalmannschaft, der Seleçao, und des Fußballklubs Flamenco ausgetragen wurden, ist ein legendärer Ort, aber ist es denn auch ein heiliger bzw. war es ein solcher? Das auf eine Besucherkapazität von 76.525 Plätze reduzierte, für die Fußball-WM 2014 umgebaute Stadion – der Umbau war und ist nicht unumstritten, weil damit auch eine Beschränkung der Zugänglichkeit für Personen, die weniger verdienen, verbunden und etwas von der »Legende« genommen ist – wird der Austragung von Spielen der WM 2014 dienen und ist auch für die Eröffnungs- und Schlussfeier der Olympischen Spiele 2016 vorgesehen, aber wird es jemals wieder das alte Flair ausstrahlen? Damit wird auch das neue Stadion ein Ort sein, der durch Ereignisse respektive durch Großevents, wie sie heute benannt werden, etwas Besonderes wird und in der Abgrenzung zum Alltag eine gewisse »Heiligung«, sprich Eingrenzung, erfährt, etwas, das für viele Kritiker andererseits Ausgrenzung bedeutet. Schon die Eintrittspreise bei WM-Spielen sind eher exklusiv denn inklusiv.

Die Menschen wollen nicht einem Gott dienen, der das Gesicht der Dollarnote und der FIFA trägt und der auf den Unterschieden aufbaut. Es ist sozusagen nicht mehr der Fußball, das schöne Spiel, »jogo bonito«, was eigentlich aber von joga bonito kommt, was schön spielen bedeutet. Es sind nicht mehr die eigenen Heroen, die im Mittelpunkt stehen, sondern ein kommerzialisierter Fußball, der nicht mehr durch die Grenze, die Nebelschicht und Dunstglocke des Geldes und der Ausgrenzung nach unten zu den Herzen der Menschen zu dringen vermag. Es wird nicht mehr das Leben vieler getroffen, sondern nur der Geldbeutel, nicht mehr der Alltag wird auf den Sehnsuchtsort hin vermittelt, sondern ein abgegrenzter Ort bleibt in sich.

Fußball unter anderen Vorzeichen
Fußball – wie der Sport insgesamt – steht in den Zusammenhängen des Spiels, der Arbeit, des Krieges, der Religion, der Gesundheit usw. Der Mensch ist ein vielschichtiges Wesen, seine Motivation in den meisten Fällen eine gemischte. Eine heutige Entwicklung zeigt sich in einer verstärkten Differenzierung der einzelnen Lebensbereiche mit einer Abgrenzung dieser Bereiche voneinander. So versucht man in vielen Fällen beispielsweise, das Ziel der Gesundheit nicht über die Ausübung einer bestimmten Sportart zu erreichen, sondern dafür gibt es etwa das ganz spezifische Gesundheitsturnen. Bewegung wird von der Bewältigung des Weges zur Arbeit in eine spezielle »Bewegungszone jenseits von Arbeit und Arbeitsweg« in getrennter Zeit verlegt. Eine Haltung des »Nebenbei« wird dadurch zurückgedrängt. Damit können spezifische Ziele auch gezielter angestrebt werden. Das Laufen auf dem Weg zum Bahnhof entspricht beispielsweise nicht immer den Bedingungen einer gesunden Bewegung, der Rucksack muss getragen werden, man bewegt sich oft auf »falschem« Untergrund, die Kleidung ist dem Laufen nicht angepasst usw. Für heutige funktionale Zielerreichung müssen meist spezielle Einrichtungen geschaffen werden. Obwohl es arbeitsplatzorientierte Fitnessmaßnahmen gibt – wenn einer im Büro vor den Blicken anderer zu turnen beginnt, wird er oder sie oft komisch angeschaut. Dafür gibt es den Ort des Fitnesszentrums.

Ausgesonderte Orte und Zeiten sind für heute prägend, was dazu führt, dass das Ganze vermehrt in die einzelnen Teile verlegt wird. Ich muss ganz »Arbeitender«, ganz Familienmensch, ganz Freizeitmensch, ganz Fußballfan sein –, mit der Konsequenz, dass viele dann ganz »hin« sind, weil der Ausgleich damit nicht gegeben ist. Fußball wird – oder wurde zumindest – oft als wichtigste Nebensache der Welt bezeichnet. Damit war und ist etwa ironische Brechung möglich. Wenn ich verliere oder wenn mein Verein verliert, geht zwar die Welt unter – aber doch nicht ganz. Die Konsequenzen einer solchen Niederlage sind im Großen und Ganzen nicht existenzbedrohend – das Leben geht weiter, auch wenn ein Teil gestorben ist – aber eben »nur« eine Nebensache. Solch ironische Brechung zeigt sich ja im verschiedenen Akteuren im Fußball zugeschriebenen Statement: »Es ist ein Unsinn zu sagen, Fußball ginge auf Leben und Tod. Fußball ist viel ernster.« Das Wort Unsinn verweist auf die Relativierung des Fußballs als einer Nebensache, das »viel ernster« auf die wichtigste Nebensache. Diese kann aber trotz der über Leben und Tod hinausgehenden Qualität zurückgebunden werden an das Ganze des gelungenen Lebens, das nicht nur auf den Fußball bezogen werden kann.

Solche Relativierungsmöglichkeiten sind heute nun zum Teil schwächer geworden in der funktionalen Differenzierung. Natürlich – im Fußball stand man immer auch in einer eigenen Welt, aber früher war meines Erachtens der Bezug zur realen Welt in manchen Punkten stärker. Es bedurfte zum Beispiel für das Fußballspiel nicht eines klar dafür ausgewiesenen Fußballplatzes oder einer dafür reservierten Zeit. Wir spielten und auch heute noch spiele ich mit meinen Enkeln Fußball auf für Fußball an und für sich ungeeigneten Flächen, auf schiefen Wiesen oder auf umgepflügten Äckern etwa. Zwischen zwei Häuserblocks fand sich immer die Gelegenheit für ein Match, auch wenn die »Hauptgetroffenen« dabei die Fensterscheiben waren. Die berühmte Formel »Drei Corner – ein Elfmeter« hatte sich auch deswegen eingebürgert, weil wir auf Feldern ohne verlängerte Torlinie spielten; auf drei- oder vieleckigen Plätzen, die dadurch gekennzeichnet waren, dass das Tor die gesamte Begrenzungslinie bildete. Und wie leidenschaftlich konnten wir eine ganze Spielzeit lang – und darüber hinaus – streiten, ob der Schuss ein Tor war, streiten deshalb, weil wir das Tor nur mit ein Paar Schuhen markiert hatten und damit nicht festzustellen war, ob der Schuss über das Tor gegangen war. Auch trotz genauer Begrenzung »weiß« man heute nicht, ob Dante den Ball erst hinter der Torlinie ins Feld zurückbefördert hat. Es war deswegen kein Tor, weil der Schiedsrichter kein Tor gegeben hat. Grenzen waren früher verstärkt zugleich Entgrenzungen und bildeten Notwendigkeiten für relativierende Bezüge, die heute in Verabsolutierungen abgeschafft werden sollen. Für uns war es ebenso bedeutsam, ob der Ball im Tor war wie etwa beim legendären Schuss zum 3:2 Englands gegen Deutschland, einem Spiel, das 4:2 endete und England 1966 zum Fußballweltmeister machte, das Wembley-Tor, über das man heute noch diskutiert und mit Messungen und Theorien verschiedenster Art Gewissheit über Tor oder Nicht-Tor – und das ist ja die Frage – schaffen will. Für uns blieb aber angesichts der nicht klaren Abgrenzungen die Möglichkeit, auch bei besserem Wissen im reinen Gewissen zu bleiben; vor allem, es gab ja die Möglichkeit des »Ausgleichs« bei anderen Gelegenheiten: Mit einem Krügerl Bier, das natürlich verboten war, konnte die Akzeptanz des Tores doch eingeholt werden.

Und auch zeitlich gab es Entgrenzungen. Man spielte, wenn sich gerade die Gelegenheit ergab, in Pausen zwischen Schulstunden, in Minuten, die von einer Arbeit abgezwackt wurden usw. Fußball war damit trotz der Herausnahme aus dem Leben im Alltagsleben, ein eigener Bereich in Verbindung und Relativierung zu anderen Bereichen. Der alltägliche Spitzenfußball fand Eingang in unseren Fußballalltag, indem wir »drittklassige Fußballkünstler« imitierten; es mussten damals nicht Messi oder Ronaldo sein, sondern Ekmecic, Grloci, Franz Reiter oder Willi Sgerm. Fußball war noch nicht »so weit weg«, und heilig wurde er durch Bezug, nicht so sehr durch Abgrenzung, obwohl Pele meine fußballerischen Träume besetzte. Fußball wirkt als Spiel, dort, wo Menschen zum Spiel zusammenkommen, im Vollzug des Spieles zeigt sich die Faszination. Vor religiöser Überhöhung blieb das Spiel durch offensichtliche Begrenztheit der Möglichkeiten von uns Spielern bewahrt. Er verweilte somit in der Hoffnungsperspektive: »Wenn einmal alles gelingen sollte wie das Kopfballtor jetzt, dann …« Dabei blieb das »Dann« immer offen, auch bei einem »göttlichen«, erlösenden, den Fußballhimmel öffnenden Torschuss oder einer übermenschlichen Parade des Tormanns. Es könnte sein, dass … und manchmal wurde und wird es Wirklichkeit beim Spiel und beim Zuschauen. Zusehen ist dabei nicht passives Danebenstehen, sondern aktives Hineinbegeben, Mitwirken, Glauben, etwas bewirken zu können, doch noch das Spiel zu drehen, vielleicht nach dem 0:3 doch noch eine Kehrtwende herbeiführen zu können, auch wenn es dann bald 0:4 heißt und der Schlusspfiff nicht mehr fern ist: Dabei ist der Schlusspfiff nicht abschließende Gerechtigkeit, sondern Aussicht auf Wiedererlangung der Gnade, dann, wenn es wieder so weit ist, wenn die Serie durchbrochen werden wird, wenn die Chance wieder da ist, denn jedes Match beginnt bei 0:0.

Dieses das Spiel Überschreitende und die Überschreitung im Spiel werden heute oft in den Zusammenhang der Wirtschaft gestellt. An der Höhe der Ablösesummen für Spieler und an ihren Gehältern wird klar, dass es um mehr geht als um banale Wirtschaft. Nur zu oft vergessen sonst reale Geschäftsleute im Banne des Fußballs auf geschäftliche Grundprinzipien, wenn das Göttliche des Spiels für das Wirtschaftliche instrumentalisiert werden soll, wenn das Religiöse für das Wirtschaftliche inszeniert wird. Auch wenn Geld keine Tore schießt, es erleichtert doch das Toreschießen. Und in der Verwirtschaftlichung wird das verschwenderische Spiel nur zu leicht zu einer berechnenden Arbeit, der das Charisma des ganz Anderen fehlt, auch wenn es Gott sei Dank immer wieder aufblitzt. Es fehlt auch die große Tragödie und die eröffnende Erlösung, wenn es nur das Geld ist, dem durch das Spiel und auch durch das Zuschauen gedient werden soll. Die Trennung von Spitzenfußball und Breitensport Fußball wird dann oft durch Korruption rückgängig zu machen versucht, das wirtschaftliche Fehlverhalten droht dann zur vereinigenden Klammer zu werden. Der Sieg wird im wirtschaftlichen Zugriff halbherzig, die Perspektive liegt ja im Mehr, auch Niederlagen und Abstiege sind dann letztlich »nur« wirtschaftliches Versagen, abgelöst von der Tragödie des letztgültigen Scheiterns, weil es durch Geld behoben werden könnte. In der Reduktionsmöglichkeit auf das Wirtschaftliche ist dann alles klein geworden, der Abstieg und der Aufstieg wirtschaftlich sehr bedeutend, aber existenziell? Nicht existenziell als an die materielle Existenz gehend, sondern als mich im Überschreiten meiner selbst ganz betreffend. Der Unterschied zwischen diesen Arten des Scheiterns zeigt sich oft in VIP-Logen, wenn äußerlich und innerlich Weinende wirtschaftlich Berechnenden gegenüberstehen, oder besser, die einen stehen und die anderen sitzen. Was reißt uns von den Sesseln? Wenn das Verschwenderische in die Berechnung einschwenkt? Wenn der Trost: »Es ist ja nicht das Leben!« zur leeren Rechnung wird: »Es ist das Ende in einem Teil des Lebens, in Bezug auf den wir uns der Illusion hingaben, es wäre das ganze Leben.« Wenn in der Verwirtschaftlichung aus der Freude am Spiel die Verbuchung des Gewinnes oder Verlustes wird, kommt es bald zu einer Reduktion des Fußballspieles auf Entertainment und des Stadions zu einer Stätte der Unterhaltungsindustrie, die dann nicht mehr »angreifen«. Aus dem Fan – vom lateinischen Wort fanum – Heiligtum abgeleitet – wird dann ein sich, andere und anderes zerstörender Fanatiker, der keinen Bezug mehr findet zu dem, was angreift und doch Distanz findet, weil es nur ein Anklang ist an das, was tragen könnte, weil es nur Etappen trägt und nicht die ganze Strecke.

Fußball in der Fratze der Gewalt
Sport kann gesehen werden unter der Funktion, dass er der Irrelevantmachung des Krieges dient. So sieht etwa Peter Eicher den Sport als irrelevanten Krieg. Sport, besonders auch Fußball stand und steht unter der Voraussetzung der Konkurrenz: Den Ball über lange Strecken mit den Füßen in der Luft zu halten, ohne dass er den Boden berührt, ist Kunst, aber nicht der Gewinn eines Fußballspiels. Fußball wird gegen andere, gegen eine andere Mannschaft gespielt. Darin besteht die Herausforderung. Fußball wird aber gegen andere gespielt im Wissen, dass diese anderen wesentlicher Teil des Spieles sind. Fußball richtet sich gegen andere, aber nicht in der Form, dass auf die Vernichtung deren Existenz abgezielt würde, sondern in der Ausrichtung auf Erzielung von Toren. Auch wenn sich die gegnerische Mannschaft gestaffelt ins Tor legen sollte, gewonnen wird nicht durch Treten auf sie und durch ihre Zerstörung, sondern dadurch, dass der Ball öfter in ihrem Tor als dem eigenen landet. In der Weglenkung des Angriffs vom Körper der anderen durch die Hinlenkung auf Tore besteht dieses Irrelevantmachen des Krieges.

Es geht um Konkurrenz, aber es geht um Konkurrenz, die in der Feststellung des Erfolges als Erzielung eines Tores Feinde zu Gegnern werden lässt, die existent bleiben müssen, will man das Spiel fortführen. Es geht sozusagen im Fußballspiel um nichts existenziell Wichtiges, es geht »nur« um das symbolische Tor, das als lächerlich in Bezug auf die Existenz betrachtet werden kann. Durch ein Tor wird keiner verletzt, durch ein Tor erspart sich keiner das Essen. Zudem nützt keinem das Tor als Einzelperson, mit drei Toren, die ich schieße, besiege ich nicht andere, die nur zwei oder ein Tor(e) schießen. Die Tore werden für die Mannschaft aufsummiert. Dass ich für mich spiele, wenn ich für die Mannschaft spiele, lässt die Bedeutung des Einzelnen steigern wie auch relativieren. Es kommt auf dich an, aber nicht nur auf dich: entlastend und belastend zugleich, weil in die Ebene des Symbolischen des Spieles geführt, was ironische Brechung bedeutet. Wenn ich fünf Tore schieße, die Spieler der anderen Mannschaft zusammen aber sechs, kann ich der Beste sein und trotzdem verlieren. Der Sieg und der Verlust bleiben also schwebend, auch deswegen, weil für das Resultat nur Tore gezählt werden und nicht Schönheits- oder Technikpunkte. Wenn daraus auch richtigerweise gefolgert wird, dass es nichts nützt, wenn man 95 Prozent Ballbesitz hat – was immer das sein soll – und keine Tore schießt, so bleibt doch immer noch die Sehnsucht nach dem schönen Spiel, das einen Sieg noch schöner werden lässt, aber auch eine Niederlage leichter ertragen helfen kann! »Wir haben ehrenvoll verloren!« Dies lässt die Niederlage, die nur über Tore festgestellt wurde, leichter ertragen, auch wenn es im Moment mehr schmerzen kann, als »bessere« Mannschaft vom Feld gegangen zu sein. Besser bedeutet aber immer, mehr Tore geschossen als bekommen zu haben, eine ironische Brechung der Wichtigkeit der Tore.

Eine Herausforderung besteht heute darin, dass im Fußball der Krieg zum Teil wieder relevant wird; nicht so sehr, wie leider auch immer wieder, auf dem Platz, sondern in den Zuschauerrängen und vor allem in den »Kampfzonen« außerhalb des Stadions. Besonders problematisch wird es dann, wenn Fußball nur als äußerer Anlass genommen wird, um vorhandene Rivalitäten mit den Fäusten auszutragen. Zum Teil Überwindung, zum Teil Weiterführung des Krieges bzw. der Gewalt zeigte sich ja im vor kurzem gespielten Cupfinale in der Ukraine Schachtjor Donezk gegen Dynamo Kiew. Sich sonst feindlich gegenüberstehende Fangruppen verbrüderten sich im Streben nach dem Erhalt der nationalen Einheit, eine Massenrangelei auf dem Feld und auf den Zuschauerrängen zeigte die Nähe zur Gewalt. Fußball führt sehr oft zusammen, damit dann zusammen gegen andere, die sich zusammentun, vorgegangen werden kann. Fußball ist dabei aber oft nur der Anlass für die Ausübung von Gewalt. Gewalt entsteht dabei oft aus ungebändigter Konkurrenz, die in ihren Auswirkungen in der Symbolisierung gemildert und auch sublimiert werden kann. Nationalismus und Chauvinismus werden dabei spielerisch »gebrochen«, können natürlich aber auch im Gegensatz dazu entarten. Als Spiel im Vollzug sind Festsetzungen immer prekär.

Und die Religion? Fußball und Rituale
Religionsphänomenologisch verweisen viele Ausprägungen des Fußballs auf Religion. Die Wallfahrt ins Stadion, die Teilnahme am Vollzug, die Fangesänge mit Texten voll religiöser Inbrunst, aus der Religion entliehene Begriffe wie erlösender Torschuss, Flanken- und Fußballgott, die religiöse Inbrunst beim Abspielen der Hymne, die »Allerheiligenlitanei« der Präsentation der Spieler, der heilige Rasen, nur für Auserwählte begehbar bzw. betretbar, getrennt von der Profanität außerhalb, Stadien als Kathedralen: Die Beispiele ließen sich beliebig verlängern. Fußball gemahnt an das Religiöse; oder noch besser: Es scheint oft über das Religiöse, wie es von Kirchen präsentiert wird, hinauszugehen. Es scheint zum Teil Menschen tiefer und umfassender zu erfassen als in Institutionen gepresste Religionen. Es ergreift oft gesamthafter, wenn auch nur für die neunzig Minuten des Spiels. Es führt zwar über Zeit und Raum hinaus, bleibt aber trotzdem darin gefangen; Religion bildet sich nämlich im Spiel und bleibt weitgehend auf das Spiel beschränkt. Stadien sind religiöse oder quasireligiöse Orte, wenn und insofern in ihnen gespielt wird. Man tut sich schwer, Stadien als Kathedrale auch in der Zeit nach Spielen zu betrachten. Insofern entweiht ein Popkonzert oder ein Saufgelage in einem Stadion dieses nicht. Es stellt sich nun die Frage, warum religiöse Energien heute teilweise im Fußball eher frei werden als etwa im ureigensten Bereich für Religion, in den Kirchen. Es gibt viele Gründe dafür, einer kann in der besonders tiefen Erlebnisqualität des Spiels liegen. In der Kirche hat man sich zum Teil zu sehr in abstrakte Figuren begeben, in das Laster der Abstraktion, was teilweise dazu führte, dass die im Erlebnis gelegene Begeisterung herausgenommen wurde. Wenn es in Bezug auf den Fußball heißt: »Grau ist alle Theorie, entscheidend ist auf dem Platz«, so scheint dieses Bewusstsein für die Entscheidung hier und jetzt in der Kirche nicht mehr so greifbar zu sein, weil sich das Erlebnis verflüchtigt hat und man sich so auch nicht aus der Hand geben darf.

Weinende Männer werden im Stadion nicht nur toleriert, sondern auch geachtet, wie ist es mit gerührten Menschen in der Kirche: Will man, dass es angreife und ergreife, oder will man nicht eher die distanzierende Skepsis? Das mag auch damit zu tun haben, dass in den Kirchen nicht mehr die ansteckende Dichte vorhanden ist, die die Menschen mitreißt. Kann man nicht durch Rationalisieren so einengen, dass dieses Überschreiten von Grenzen, das einem Sport eigen ist, nicht mehr möglich erscheint und dann das Spiel seinen Ewigkeitsbezug in einem Sehnsuchtsraum verliert? In seinem Roman »Der Boden unter den Füßen« schreibt Salman Rushdie über die Rockmusik. In einem Gespräch, das im Zeit Magazin, der Beilage zur Wochenzeitung »Die Zeit«, daraufhin abgedruckt wurde, antwortet Rushdie auf die Frage des Reporters: »Im Buch ist die Sängerin eine große Macht. Sie ist eine Art Heilige, die den Menschen die Absolution erteilt und mit ihrem Gesang eine krisengeschüttelte Welt heilt. Ist das nicht sehr naiv?« Folgendes: »Das funktioniert ja nur, solange die Musik läuft. Es ist vorbei, wenn Sie den Plattenspieler ausschalten. Wie beim Fußball. Gestern war ich im Wembley-Stadion, um das Pokalspiel zu sehen. Mein Team Tottenham Hotspurs hat gewonnen, ich hatte einen sehr schönen Nachmittag. Da ist dieser Moment, der nur in einem riesigen Stadion mit 80.000 Fans entstehen kann. Da kommt eine phantastische, gemeinsame Erfüllung von Lust zum Ausdruck, weil alle Menschen gleichzeitig ihre Hoffnungen in diese elf Leute auf dem Feld setzen. Für einen Moment fühlen alle Leute dasselbe zur selben Zeit. Das ist extrem selten.« Und der Gesprächspartner Herbert Grönemeyer, einer der bekanntesten Rockmusiker Deutschlands, meint dazu: »Aber deshalb bewundern alle Rockmusiker, weil sie diesen Moment der ultimativen Erfüllung kreieren können, der Erfüllung von Lust für eine Millisekunde.« Im Fußball und in der Musik gibt es also diese Momente der Selbsttranszendenz für eine kurze Zeit, wenn es auch nur für sehr beschränkte Zeit als ein Transzendieren erfahren werden kann. Birgit Jeggle-Merz und Nicole Stockhoff sehen diese Intensivierung des Lebens auf dem Fußballplatz folgendermaßen: »Die Emotionen, die beim Fußball erlebt werden können, erstrecken sich auf die ganze denkbar mögliche Palette der menschlichen Gefühle: Freude, Glück, Schmerz, Wut, Angst, Verzweiflung und dies oftmals alles gleichzeitig und in ebenso rasantem Wechsel. Diese Gefühle werden existenziell erlebt. Woche für Woche führt Menschen die Suche nach Intensität in die Stadien«. Time-out vom Alltag, das in Intensität auf dem Platz führt, wobei der Platz der Ort der Realisierung ist. Nochmals: »Grau ist alle Theorie. Entscheidend is aufn Platz«, so formulierte es die Legende von Borussia Dortmund der 50er Jahre, Adi Preißler, im Blick auf die Spieler. Aber auch für die Zuschauer hat die Entscheidung einen Ort – den Platz, der gerade in seinem Entscheidungscharakter ein heiliger Ort wird.

Diese magisch genannten Momente führen den Menschen über sich selbst hinaus. Im Fußball transzendiert dieses Über-Sich-Hinausgehen in den Augenblick hinein, nicht auf eine Person, auf Gott hin, wie in der Religion. Vielleicht ist es auch die Scheu vor dieser Begegnung, die den heutigen Menschen zurückhält. Im Fußball kann man bei sich bleiben, in der Religion geht es in verändernde Begegnung – und die ist gefährlich. Wie Religion hat es Fußball mit Kontingenzbewältigung zu tun, wobei diese im Fußball im Spielerischen verbleiben kann, in der Religion aber an die Begegnung gebunden ist.

Fußball – unser neuer Gott:
Ein Kirchenlied als Anstoß zum Nachdenken
Der Dankgesang aus der Schubertmesse (Melodie Franz Schubert, Text Josef Ph. Neumann) kann erhellend für die Frage, ob Fußball unser neuer Gott sein kann und soll, werden. Hier sollen nur einige Gedanken dazu angestellt werden. »Herr, du hast mein Flehen vernommen. Selig pocht´s in meiner Brust.« Nach einem Sieg wird sich das Gefühl, erhört worden zu sein, bei vielen Fußballfans einstellen. Doch wer hat das Flehen vernommen? Offensichtlich nicht der Fußball! Ansprechpartner kann nicht der Fußball sein, sondern einer, der die Kontingenzen des Fußballs beherrschen kann, der es bewirken kann, dass auch ein Außenseiter siegreich sein kann. Aber ist es nur ein Sieg, der als Erhörung angesehen werden kann? Jedenfalls ist im Fußball klar, wann das Flehen nicht nur vernommen, sondern auch der damit verbundene Wunsch erfüllt worden ist oder nicht. Wie ist das in der Religion? Wenn Religion als Kontingenzbewältigung, als Erklärung und Bewältigung nicht logisch erklärbarer Entwicklungen gesehen wird, so ist es die Möglichkeit, in der Artikulation von Wünschen Einbezug in verstehende und unterstützende Begegnung erreichen zu können. Durch unser heutiges Geprägtsein von Erfüllungsmentalität, die Stillung von Bedürfnissen hier und jetzt erwartet, wird aus dem Flehen sehr oft Forderung, Nichterfüllung Grund zur Abkehr. Und in der durch unser Denken in Machbarkeit gelegenen Haltung ist uns »heißes Flehen« auch oft nicht möglich, sondern oft nur kalte Forderung, die aber den Rahmen der Erhörung auf Sieg und Niederlage verkürzt.

»In die Welt hinaus, ins Leben folgt mir nun des Himmels Lust«, heißt es im Lied weiter. Führt Fußball hinaus ins Leben, oder ist er nicht nur ein abgegrenzter Bereich des Lebens? Aber ist das heute nicht auch die Religion geworden, ein vom Alltag abgegrenzter Bereich? Des Himmels Lust reicht oft nicht hinein in den Alltag, sondern steht abgetrennt. Was im Fußball als Aufgipfelung akzeptiert wird, kann in der Verlängerung der Religion in den Alltag diesen oft nicht erreichen.

»Dort auch bist ja du mir nahe, überall und jederzeit, allerorten ist dein Tempel, wo das Herz sich fromm dir weiht.« Fußball hat heute meist einen klar lokalisierten Tempel, der eben nicht Alltag ist, aus dem Alltag herausführt. Religion aber soll in den Alltag hineinführen, und das wirkt oft banal, so nicht-anziehend in einer Erlebnisorientierung.

Aber Fußball soll nicht Religion werden, im Sinne, dass er das Ganze des Lebens umfasst, auch wenn dieser Anspruch an ihn herangetragen wird, sondern als Spiel ein Ausgriff auf aus dem Spiel herausführende Rituale, ohne das Ziel vorzugeben. Spiel muss Spiel bleiben, Fußball muss Fußball bleiben können, dann wird er seinen Zielen gerecht, nicht als Religion und nicht nur als Wirtschaftsfaktor. Als solcher greift er zu kurz und ist als Religion zu beengend. Das spüren offensichtlich die Menschen in Brasilien.

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Essay, Fazit 103, (Juni 2014) – Foto: Gerd Neuhold

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