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Das Missverständnis vom grammatikalischen Geschlecht

| 25. April 2014 | 2 Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 102

tomaskubelik_webEin Essay von Tomas Kubelik. Frauen sind in den westlichen Gesellschaften seit Jahrzehnten rechtlich gleichgestellt. In manchen Bereichen werden sie von vielen europäischen Ländern sogar erheblich bevorzugt.

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Dr. Tomas Kubelik, 1976 in der Slowakei geboren, wuchs in Stuttgart auf und studierte Germanistik und Mathematik. 2005 promovierte er zum Dr. phil. Er ist als Gymnasiallehrer für Deutsch und Mathematik tätig. Kürzlich erschien sein Buch »Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache«.

Wir alle haben es längst internalisiert: Frauen sind das diskriminierte, das benachteiligte, das unterdrückte Geschlecht. In der Berufswelt, in der Familie, in der Partnerschaft und nicht zuletzt in der Sprache: Frauen sind das Opfer patriarchaler Strukturen. Seit bald zwei Generationen wird die Öffentlichkeit mit diesem Dogma bearbeitet.

Trotzdem ist das Gegenteil wahr. Daran ändert auch die mantraartige Wiederholung falscher Behauptungen nichts. Frauen sind in den westlichen Gesellschaften seit Jahrzehnten rechtlich gleichgestellt. In manchen Bereichen werden sie von vielen europäischen Ländern sogar erheblich bevorzugt: So müssen sie keinen Wehr- oder Zivildienst leisten, müssen trotz höherer Lebenserwartung kürzer arbeiten als Männer und sie genießen als Mütter gegenüber Vätern massive Vorteile im Sorgerecht. Die zunehmend grassierenden Frauenquoten sind zwar für die Frauen diskriminierend, weil sie unterstellen, ohne die Quoten seien Frauen nicht fähig, entsprechende Bildungsabschlüsse oder berufliche Positionen zu erreichen. Sie bedeuten aber eine gesetzlich verankerte Schlechterstellung von Männern. Eine rechtliche Schlechterstellung von Frauen hingegen existiert nicht. Auch ein Blick auf die soziale Wirklichkeit entlarvt die Behauptung von der weiblichen Opferrolle als Schwindel. Männer erkranken häufiger schwer, sie verunglücken wesentlich öfter als Frauen, sind häufiger von Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit betroffen, haben öfter als Frauen mit Alkohol- und Drogenproblemen zu kämpfen, nicht zuletzt stellen sie den Großteil der Gefängnisinsassen und führen die Selbstmordstatistik an.

Auch die Behauptung, Männer seien nur selten Opfer von Gewalt, ist falsch. 78% der Prügelopfer und 84% der Mordopfer sind Männer. Die Weltgesundheitsorganisation schreibt in ihrem Weltbericht Gewalt und Gesundheit aus dem Jahr 2002: »In allen Ländern sind junge Männer die Haupttäter und ­opfer von Tötungsdelikten.« Selbst in Beziehungen wenden Frauen und Männer ungefähr gleich häufig emotionale und körperliche Gewalt gegen ihren Partner an. Laut einer Pilotstudie im Auftrag des deutschen Familienministeriums sind rund 25% der Männer mindestens einmal in ihrem Leben körperlicher oder sexualisierter Gewalt in Partnerschaften ausgesetzt. Die WHO dazu: »Sexual violence against men and boys is a significant problem. With the exception of childhood sexual abuse, though, it is one that has largely been neglected in research.« Und die Sonderauswertung einer Männerstudie aus dem Jahr 2009 kommt zu dem Ergebnis, dass rund 30% der Frauen und Männer gewaltaktiv sind. Dort heißt es: »Auch Frauen üben demnach physische Gewalt aus. Insgesamt ist die These, Männer dominierten alle Formen der Gewalt, nicht haltbar! Wie zahlreiche Studien zeigen, erfolgt weibliches Gewalthandeln auch keinesfalls ausschließlich aus Notwehr.« Und weiter: »Frauen und Männer üben etwa zu gleichen Teilen Gewalt gegen den Partner/die Partnerin aus.«  Überraschend ist auch der Befund, dass »nach den vorliegenden Daten der Männerstudie eher die Frauen zu den höheren Häufigkeiten im Gewalthandeln neigen als die Männer.«

Männer sind für die härtesten, dreckigsten und gefährlichsten Arbeiten einer Gesellschaft zuständig, sie stellen die Mehrheit der Hilfsarbeiter und machen die meisten Überstunden. Und selbst das Märchen von der schlechteren Bezahlung von Frauen für gleiche Arbeit ist trotz des alljährlichen Equal Pay Days längst wiederlegt und als statistischer Trick entlarvt. Männer und Frauen unterscheiden sich in ihrer durchschnittlichen Ausbildung, ihrer Berufswahl, ihrer Berufserfahrung und ihrer Arbeitszeit erheblich, so dass Einkommensvergleiche sehr schwierig sind. Der Statistiker Walter Krämer gibt zu bedenken: Um einen brauchbaren Vergleich über geschlechtsspezifische Lohnunterschiede zu bekommen, »müssten Frauen und Männer miteinander verglichen werden, die über die gleichen arbeitsmarktrelevanten Charakteristika verfügen und in denselben Unternehmen die gleiche Tätigkeit ausüben. Würden wirklich vergleichbare weibliche und männliche Beschäftigte miteinander verglichen, wäre es überraschend, wenn ein nennenswertes Lohndifferential festzustellen wäre. Wäre dies der Fall, würden nicht nur eine Vielzahl von Unternehmen gegen geltendes Recht – das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – verstoßen, sondern auch die Betriebsräte und Gewerkschaften bei einer ihrer wichtigsten Kontrollaufgaben weitgehend versagen«. Tatsächlich: von den Tausenden Anzeigen, die Frauen wegen so krasser Ungleichbehandlung regelmäßig einbringen müssten, ist nichts zu vernehmen. Davon abgesehen weisen Sozial- und Wirtschaftsforscher darauf hin, dass Frauen mittlerweile die Mehrheit der Kaufentscheidungen treffen – selbst in Beziehungen, wo der Mann mehr Geld verdient.

Ein Blick auf die Ausbildungsstatistik macht deutlich: Jungen zählen zu den Bildungsverlierern der Gegenwart. Die Mehrheit der Maturanten und der Hochschulabsolventen sind Frauen. Burschen hingegen haben im Durchschnitt mit größeren Disziplinproblemen und mit schlechteren Schulleistungen zu kämpfen, sie stellen die meisten Klassenwiederholer und Schulabbrecher. Hinzu kommt, dass sie mittlerweile überwiegend von weiblichen Pädagogen erzogen werden, oft fehlen zu Hause auch noch die Väter. Viele Jungen müssen daher auf eine väterliche Zuwendung und auf männliche Vorbilder, die positiv besetzte und gesellschaftlich akzeptierte Männerrollen repräsentieren, verzichten. Das führt bei heranwachsenden Burschen zu einem kaum lösbaren Problem. Jedes Anzeichen von Gewalt, jede Form von Dominanzverhalten, ja von allzu ungestümem Durchsetzungswillen wird ihnen von klein auf ausgetrieben. Zugleich verkörpert der immer kommunikationsbereite, verständnisvolle Softie nicht das Ideal, mit dem sie sich identifizieren wollen, ist dieser doch weder in der Berufswelt noch auf dem Beziehungsmarkt besonders gefragt.

Und in der Öffentlichkeit? Da werden Männer lächerlich gemacht als emotional minderentwickelt, als potentiell gewalttätig, als triebgesteuert, rücksichtslos und konkurrenzbesessen. Diese feministische Arroganz ist für viele Menschen zunehmend frustrierend. So äußerte die englische Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing, deren Romane als Klassiker des Feminismus gefeiert wurden, vor einigen Jahren: »Ich bin zunehmend schockiert über die gedankenlose Abwertung von Männern, die so Teil unserer Kultur geworden ist, dass sie kaum noch wahrgenommen wird. […] Es ist Zeit, dass wir uns fragen, wer eigentlich diese Frauen sind, die ständig die Männer abwerten. Die dümmsten, ungebildetsten und scheußlichsten Frauen können die herzlichsten, freundlichsten und intelligentesten Männer kritisieren und niemand sagt etwas dagegen. Die Männer scheinen so eingeschüchtert zu sein, dass sie sich nicht wehren. Aber sie sollten es tun.«

Der Feminismus und das biologische Geschlecht
Vor wenigen Jahrzehnten begann ein beispiellos erfolgreicher Feldzug gegen die Traditionen der deutschen Sprache, der unter der Bezeichnung »Gendern« mittlerweile zum Teil Allgemeingut geworden ist. Die Vorschläge zur Veränderung der Sprachgewohnheiten haben ihren Ursprung in den Utopien radikalfeministischer Kreise der 70-er Jahre. Mit den absolut berechtigten Forderungen der frühen Frauenrechtsbewegung haben sie indes nichts zu tun. Letzteren ging es um bürgerliche Rechte, die im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Bürgertum erstritten hat – zunächst für Männer und dann allmählich auch für Frauen. Der moderne Feminismus hingegen zielt nicht auf rechtliche Gleichstellung – die ist in Mitteleuropa längst erreicht –, er greift nicht faktische Benachteiligungen von Männern oder Frauen auf, sondern stellt die natürliche Dichotomie von Mann und Frau grundsätzlich in Frage. Aus seiner Sicht ist praktisch jedes geschlechtsspezifische Verhalten ein soziales Konstrukt und daher politisch manipulierbar. Ziel ist der neue Mensch: Männer und Frauen sind in allen beruflichen und zwischenmenschlichen Situationen austauschbar, sie sind praktisch geschlechtslos, da das biologische Geschlecht außer der Fortpflanzung keinen Einfluss auf ihr Dasein, auf ihr Verhalten, ihr Sprechen, ihre Gefühle hat. Für die Sprache bedeutet die Leugnung biologischer Unterschiede Folgendes: Entweder das Geschlecht muss nach Möglichkeit aus der Sprache verschwinden oder zwischen männlich und weiblich muss völlige Ausgewogenheit herrschen. Dieser Ansatz ignoriert jedoch nicht nur unausrottbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern auch, dass die Sprache ein organisches Gebilde ist, das eine Jahrtausende alte Geschichte hat.

Daher ist die Frage, ob die faktischen Differenzen zwischen Männern und Frauen allesamt ansozialisiert oder größtenteils genetisch bedingt sind, in Wirklichkeit unerheblich. Denn die Behauptung, Geschlechterrollen seien das Ergebnis direkt oder indirekt anerzogener Verhaltensweisen, impliziert noch kein Werturteil über die zugrunde liegende Kultur. Ist die europäische, oft als patriarchal verschriene Kultur nun erhaltenswert oder verwerflich, langfristig tragfähig oder dem Untergang geweiht, produktiv und kreativ oder nur passiv und reaktiv? Sind die Menschen, die in ihr großgeworden sind, glückliche Menschen, die sich in ihrem Weltbild heimisch fühlen? Oder sind sie orientierungslos und daher für jede Modeströmung empfänglich? Garantiert ein aus dem ideologischen Boden gestampftes neues Bewusstsein eine gerechtere, eine bessere, eine wünschenswertere Gesellschaft? Ist eine auf die Herrschaft der Politischen Korrektheit gegründete Zivilisation wirklich ein erstrebenswertes Ziel? Ist sie den Menschen in höherem Maße gemäß als überkommene Wertvorstellungen? Können sich Menschen unter ihr besser entfalten? Das alles sind Fragen, die wohl nur aus dem historischen Rückblick zu beantworten sein werden. Was ich zu sagen versuche: jede Gesellschaft verfestigt Lebensformen, die sich in einer bestimmten Zeit als erfolgreich erweisen. Dabei konkurrieren stets divergierende Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit.

Das Experiment, das heutzutage in der westlichen Zivilisation durchgeführt wird, sucht in der Geschichte wohl seinesgleichen. Denn jede Kultur definiert sich auch über die Unterschiedlichkeit zwischen Männern und Frauen. Und es ist nirgends gesagt, dass eine Gesellschaft dauerhaft Bestand haben kann, ja dass das Leben in ihr auch nur in irgendeiner Weise als attraktiv und lebenswert empfunden wird, wenn das Weibliche dem Männlichen bis zur Unkenntlichkeit angeglichen wird oder das biologische Geschlecht aus der Wahrnehmung der Menschen weitgehend verschwindet.

Übrigens scheint der Streit darüber, ob Erziehung oder Anlagen für geschlechtsspezifische Unterschiede verantwortlich sind, entschieden zu sein. Dem norwegischen Komiker und Soziologen Harald Eia fiel auf, dass norwegische Frauen trotz Quoten und eines nationalen Genderplans, der eine geschlechtsneutrale Erziehung garantieren sollte, nach wie vor stark in frauentypische Berufe drängen. In einer 2010 ausgestrahlten, populärwissenschaftlichen Serie für das öffentlich-rechtliche Fernsehen unter dem Titel hjernevask (Gehirnwäsche) befragte er international anerkannte Experten und konfrontierte heimische Wissenschaftler mit deren Stellungnahmen. Die Reaktionen der Norweger erwiesen sich als erschütternd blamabel. Sie erklärten unisono naturwissenschaftlich-genetische Faktoren beim Unterschied zwischen den Geschlechtern für abwegig und Erkenntnisse von Naturwissenschaftlern für tendenziös. Die Konsequenz der Debatte: der Nordische Ministerrat – in dem die Länder Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland und Island vertreten sind – Länder also, die seit Jahrzehnten an der Spitze der Gender-Forschung stehen, strich dem 1995 gegründeten Gender-Institut die Förderung, so dass es Ende 2011 geschlossen wurde.

Bei der feministischen Sprachkritik handelt es sich keineswegs um Reaktionen auf eine Notwendigkeit, die von der Mehrheit der Bevölkerung irgendwann erkannt worden wäre. Es gibt kein Bedürfnis nach feministischer Kampfsprache. Im Gegenteil: Vom ersten Tag an wurde den sprachverhunzenden Ideen einer geschlechtergerechten Sprache sowohl von den meisten Männern als auch von den meisten Frauen mit einer Reihe guter Gründe heftiger Widerstand entgegengebracht. Dennoch muss man der feministischen Bewegung Anerkennung zollen. Denn sie hat es sich in der Kultivierung der Opferrolle bequem gemacht und agiert von dort aus ungemein erfolgreich. Je umfassender die rechtliche und faktische Gleichstellung voranschreitet, die mittlerweile in vielen Fällen zu einer weiblichen Bevorzugung zuungunsten von Männern ausartet, umso vehementer werden Gender Studies forciert, umso mehr Gleichstellungsbeauftragte bevölkern öffentliche Institutionen, umso mehr Leitfäden zum geschlechtssensiblen Sprachgebrauch werden auf Kosten der Steuerzahler gedruckt, umso nachhaltiger werden Kinder in Schulen mit einem zeitgeistigen Gendersprech gefüttert.

Sprache – ein Spiegel der Welt
Sprache ist das Produkt einer jahrhundertelangen Entwicklung, sie ist ein Spiegel der Gesellschaft und einem ständigen Wandel unterworfen. Eine veränderte soziale Wirklichkeit schlägt sich in veränderten Sprech- und Schreibgewohnheiten nieder. So bereichern technische Erfindungen die Sprache um entsprechende Bezeichnungen (wie etwa Teilchenbeschleuniger, Differentialgetriebe oder Nacktscanner). Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse führen zu neuen Ausdrücken (wie etwa Patchwork-Familie, Homo-Ehe oder Globalisierung) und lassen andere verschwinden (wie etwa Lebewohl, Gesinde oder Droschke). Dasselbe gilt für sprachliche Umgangsformen (etwa bestimmte Floskeln in Briefen), die eine Hierarchie bzw. ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Personen unterstreichen. Ganz langsam passen sich auch Stil und Grammatik veränderten Realitäten an. Dabei spielen fremdsprachliche Einflüsse ebenso eine Rolle wie der Wandel in der Wissenschafts-, der Werbe- oder der Jugendsprache sowie in den Kommunikationsbedürfnissen der Menschen.

Eine Veränderung in der Weltsicht, in den Themen und Prioritäten der Sprecher führt also zu einem natürlichen Sprachwandel. Entscheidend ist, dass die gesellschaftliche Entwicklung der sprachlichen Anpassung immer vorausgeht. Das, was sich sprachlich durchsetzt und vielleicht mit der Zeit zur neuen Norm wird, dient immer dazu, die veränderten Verhältnisse präziser zu beschrieben. So selbstverständlich heutzutage das Handy ist, so allgegenwärtig auch dessen Bezeichnung. Wer glaubt, mit einer Ganzkörper-Durchleuchtung die Flugsicherheit zu erhöhen, wird dies mit Argumenten tun und dabei vielleicht von modernen Nacktscannern sprechen. Wer moderne Familienverhältnisse und alternative Lebensformen beschreiben möchte, wird nicht umhin können, über Patchwork-Familie und Homo-Ehe zu sprechen. Wer heutzutage einem guten Bekannten eine SMS schreibt, wird aus Platz- und Zeitgründen womöglich auf die Anrede verzichten. Und wer sagt, am Ende des Tages werde man wissen, ob eine Maßnahme Sinn mache, hat nichts anderes getan, als feststehende englische Redewendungen (»at the end of the day« bzw. »to make sense«) ins Deutsche zu übersetzen. Erst nach einiger Zeit erscheinen uns solche Formulierungen vertraut und nur noch Sprachpuristen stoßen sich dann an den ursprünglich unpassenden bzw. fehlerhaften Formulierungen. Manche sprachlichen Neuschöpfungen werden allerdings von Stilforschern zu Recht kritisiert, und zwar immer aus demselben Grund: Dort, wo etwa ein fremdsprachlicher Ausdruck einen einheimischen und verbreiteten verdrängt, büßt die Sprache in der Regel ein Stück ihres Differenzierungsvermögens ein. Besonders lächerlich wirkt es, wenn pseudoenglische Wörter kreiert werden, die zwar englisch klingen, im Englischen aber gar nicht vorkommen. Berühmte Beispiele für solche Wortschöpfungen sind Handy, Wellness, Oldtimer oder Beamer. Ein Großteil des Sprachwandels kann aber gar nicht präzise erforscht werden, er passiert langsam und unscheinbar. Und erst wenn man eine 20 Jahre alte Zeitung in die Hand nimmt, merkt man, wie stark sich nicht nur die Themen, sondern auch die Sprache selbst gewandelt haben.

In all den Beispielen sind es die äußeren Umstände, welche die Sprache verändern. Niemals ist es umgekehrt. Dass verstärkt Anglizismen ins Deutsche Einzug halten, liegt an der Omnipräsenz der englischen Sprache. Kein Mensch käme auf die Idee, englische Redewendungen bewusst ins Deutsche zu übertragen, um die Bedeutung des Englischen als Weltsprache zu festigen. Dasselbe gilt für technische Erfindungen oder gesellschaftliche Phänomene. Sie alle müssen erst da sein, bevor sich eine Bezeichnung für sie etabliert. Ebenso verhält es sich übrigens mit der Sprache eines einzelnen Individuums. Wie ein Mensch spricht, richtet sich nach seinen Bedürfnissen. Das, was jemand auszudrücken beabsichtigt, prägt seinen Wortschatz und seine Grammatik. Wer sich mit abstrakten philosophischen Inhalten beschäftigt und bemüht ist, diese zu artikulieren, wird sich einer entsprechenden Sprache bedienen. Wer erzählend eine lebendige Stimmung erzeugen möchte, wird anders formulieren als jemand, der seine Gefühle möglichst klar mitzuteilen bemüht ist. Sprache wandelt sich also in einem langsamen evolutionären Prozess, er ist stets Ausdruck veränderter Lebensverhältnisse.

Ein vollkommen anderer Vorgang liegt vor, wenn mit Sprachvorschriften welcher Art auch immer versucht wird, eine bestimmte Weltanschauung zu transportieren. Denn Sprachvorschriften sind immer Denkvorschriften. Bei jeder Form staatlicher Sprachlenkung geht es um Gesellschaftsformung durch Bewusstseinssteuerung. Wo der Sprachwandel also von oben verordnet wird, ist die Freiheit des Denkens in Gefahr. »Denn es ist ein Unterschied, ob der Staat sich darum bemüht, Benachteiligungen mit gezielter Förderung zu beseitigen – oder ob er sich herausnimmt, neue Rollenbilder für die Menschen zu entwickeln und dabei schon Jugendliche in den Dienst eines sozialpädagogischen Projekts zu stellen, das auf einer zweifelhaften theoretischen Grundlage steht«, wie der Journalist René Pfister feststellt. Das feministische Hauptargument für Eingriffe in die Sprache beruht auf der Feststellung, dass nicht nur das Denken die Sprache formt, sondern auch umgekehrt: die Sprache einer Gruppe in einer Epoche prägt Denken und Wahrnehmen ihrer Mitglieder. Das ist selbstverständlich und soll auch gar nicht bestritten werden. Vermutlich gibt es gar kein Bewusstsein, das nicht in irgendeiner Weise sprachlich ist. Meinen und Verstehen setzen Sprache voraus. Dabei erfüllt das, was man beim Spracherwerb im familiären Umfeld hört, eine wichtige Sozialisierungsfunktion. Deshalb gibt es in jeder Gesellschaft nicht nur große regionale Sprachunterschiede, sondern auch schichten- und bildungsspezifische. Und deshalb können viele kulturelle Gegensätze auch an der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Sprache abgelesen werden. Sprache spiegelt die Mentalität und die Weltsicht ihrer Sprecher wider. Entscheidend aber ist: die Sprache ändert sich niemals, damit Menschen etwas Bestimmtes denken, wie von Feministinnen gefordert. So wie sich in der Natur Lebewesen an ihre Umwelt anpassen, so passen Menschen ihre Sprache den Bedürfnissen ihrer Kommunikation und das heißt ihres Lebens an. Dabei ist das, was mit den Wörtern, Redewendungen und grammatikalischen Zusammenhängen innerhalb einer Sprache ausgedrückt wird, das Ergebnis langer Entwicklungsprozesse. Wo die Unterscheidung von Farbnuancen eine große Rolle spielt, sind entsprechende Wörter geläufig. Wenn es in bestimmten Sprachen keine Zeitformen für Verben oder keine Zahlwörter gibt, dann deswegen, weil gewisse Kulturen solche Differenzierungen nicht gebraucht haben. Und bilinguale Personen wissen, dass es ihr Bewusstsein beeinflusst, welche Sprache sie gerade sprechen.
Dass Meinen und Verstehen zwischen Menschen halbwegs funktionieren, beruht auf einem Konsens, der tief in die Geschichte einer Sprachgemeinschaft reicht, die meistens überdies durch andere gemeinsame Erfahrungen miteinander verbunden ist. Bedeutung und der auch oft nicht offensichtliche, sondern nur aus dem Stilempfinden des Einzelnen erspürbare Sinn einer Formulierung, einer Bemerkung, eines sprachlichen Bildes werden nicht auf dem Reißbrett linguistischer Forschung entworfen. Sie erwachsen aus der Geschichte, den Hoffnungen, Ängsten und Selbstverständlichkeiten eines Lebensraums, aus den Geschichten, die sich Freunde am Abend erzählen, aus den Predigten der Priester, den Weisheiten der Denker, den Schöpfungen der Dichter sowie aus den politischen und weltanschaulichen Kämpfen eines Volkes, nicht zuletzt aus der gemeinsamen Erinnerung an Lieder und Kinderreime. Man bedenke auch, dass der Großteil des Gesprochenen – im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Auffassung – keine Gedanken transportiert, sondern ausschließlich die soziale Funktion erfüllt, das Schweigen zwischen den Menschen auszufüllen: ob es sich um Grußfloskeln handelt, um »Erkundigungen nach dem gesundheitlichen Befinden, Bemerkungen über das Wetter, Bestätigungen eines auch für den Dümmsten offensichtlichen Sachverhalts, Berichte über Vorgänge ohne Belang«, im Vordergrund stehen selten Logik und Information, sondern der Wunsch nach zwischenmenschlichem Kontakt. Damit Sprache diese ihre ureigenste Funktion aber erfüllen kann, muss sie in einer Tradition wurzeln. Der Grund für das Scheitern sämtlicher Kunstsprachen – ob sie nun Esperanto, Unilingua oder Interglossa heißen – liegt nicht etwa darin, dass sie schlecht konstruiert sind. Ihre größte Schwäche ist vielmehr, dass sie überhaupt konstruiert sind, sie haben »keine Geschichte, sie bieten keine Kinderlieder, Abzählverse, Sprichwörter, Kneipenwitze und Flüche an, nichts also, um das Gemüt zu erwärmen oder zu entlasten«. Diese Künstlichkeit ist es auch, die viele Menschen an den feministischen Vorschlägen abstößt. Was eine Sprachgemeinschaft primär zusammenhält, das ist – bei allem Sprachwandel – die Stabilität von Wortschatz und Grammatik. Wolf Schneider meint: »Der Wortschatz des Raumfahrtzeitalters deckt sich zu neunzig Prozent mit dem der Postkutschen-Ära.« Sprache ist eben zutiefst konservativ.

Genus = Sexus?
Der Kern feministischer Sprachkritik und in ihrem Gefolge der Großteil des grassierenden Genderwahns beruhen auf einem fundamentalen Irrtum: der Gleichsetzung von Genus und Sexus. Wer erkennt, dass zwischen dem grammatischen und dem biologischen Geschlecht keine Kongruenz herrscht, kann sich und seiner Umwelt all die sprachlichen Verrenkungen, die Paarformen und Binnen-Is, die Schrägstrichansammlungen und syntaktischen Zumutungen ersparen. Die feministische Linguistik – die ja bloß einen kleinen Teil der Sprachwissenschaft repräsentiert – geht von der Annahme einer sprachlichen Benachteiligung der Frauen aus. Behauptet wird, das Genus gebe bei Personenbezeichnungen den Sexus der bezeichneten Person wieder, so dass zwischen beiden eine Übereinstimmung herrsche. Dadurch rücke das im Deutschen sehr verbreitete so genannte generische Maskulinum – also die geschlechtsunabhängige, neutrale Bezeichnung einer Person durch ein Maskulinum – Frauen angeblich in den Hintergrund. Nach Ansicht dieser so wirkungsmächtigen Bewegung bezeichnen Wörter wie Lehrer, Student, Analphabet, Bürger, Auftraggeber, Stellenbewerber oder Kunde ausschließlich Männer. Das generische Maskulinum wird daher abgelehnt. Die meisten Feministinnen fordern stattdessen einen neuartigen, den Sexus besonders betonenden Sprachgebrauch. Es müsse – so die Devise – explizit kenntlich gemacht werden, wenn auch von Frauen die Rede sein soll.

Kann Sprache unsichtbar machen?
Der Behauptung, die deutsche Sprache mache Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise sichtbar, kann durchaus zugestimmt werden, allerdings sieht die Realität ganz anders aus, als von feministischer Seite behauptet. Dort, wo Frauen explizit als Frauen erwähnt werden sollen, ist dies meist mit sehr einfachen Mitteln möglich. Das Deutsche erlaubt es nämlich, bei sehr vielen Wörtern – meist durch das Anhängen der Silbe »-in« – eindeutig anzuzeigen, dass eine Frau gemeint ist: Sklavin, Schriftstellerin, Mörderin, Kundin, Erbin. Linguisten sprechen von der so genannten Movierung. Eine analoge Möglichkeit zur Hervorhebung des Männlichen bietet die deutsche Sprache hingegen nicht. Nur sehr wenige Wörter bezeichnen eindeutig eine männliche Person, so etwa Kaufmann, Bräutigam, Seemann, Witwer. In den meisten Fällen müssen sich Männer damit abfinden, dass Maskulina beide Geschlechter im gleichen Maße erfassen. Wer etwa fragt, wie viele Studentinnen an einer Universität studieren, erhält die Zahl der dort immatrikulierten Frauen. Wer hingegen die Anzahl der Männer an jener Universität wissen will, muss die umständliche Formulierung wählen: Wie viele männliche Studenten studieren an dieser Universität? Fragt man nach der Einwohnerzahl eines Landes, käme niemand auf die Idee, nur die Männer zu zählen. Wer von den Rechten der Indianer in Nordamerika berichtet, geht nicht davon aus, dass damit nur die Rechte von Männern gemeint sind, sondern schließt die weiblichen Angehörigen dieser Kulturen mit ein. Wenn wir wissen, dass in einer Grundschule 200 Schüler von 18 Lehrerinnen unterrichtet werden, dann kennen wir zwar das Geschlecht der Lehrkräfte, das der einzelnen Kinder aber nicht. Wenn man sagt, Franz Kafka sei im Prager Judenviertel aufgewachsen, zweifelt kein Mensch daran, dass dort auch Frauen wohnten und dass der Bürgersteig auch für sie gedacht war. Wenn es hingegen heißt, ein Arzt setze sich für seine Patientinnen ein, können wir seine Fachrichtung leicht erraten. Wenn eine Modedesignerin ihre Kundinnen zu einer Modeshow einlädt, wird klar, dass sie Frauenkleider entwirft. Während ein Politiker ein Mann oder auch eine Frau sein kann, herrscht über das Geschlecht der Politikerin kein Zweifel.

Die deutsche Sprache macht also dort, wo es notwendig ist, Frauen in höherem Maße sichtbar als Männer. Denn sie hält im Unterschied zu Männern für Frauen eine eigene grammatikalische Form bereit. Ausschließlich von Männern zu sprechen ist somit viel umständlicher. Der feministische Vorwurf läuft demnach ins Leere. Diese Tatsache war freilich noch nie Anlass für irgendjemanden, damit eine Wertung zu verbinden und eine Benachteiligung zu orten, geschweige denn die Forderung nach einer Umgestaltung der überkommenen Sprachgewohnheiten zu erheben. Von den ersten Veröffentlichungen an wurde an den Konzepten der feministischen Linguistik harsche Kritik geübt. Alle Argumente sind bis ins Detail analysiert, alle Vorwürfe gegen die deutsche Sprache entkräftet. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist marginal. In der Alltagssprache kommt das Gendern so gut wie nicht vor. Trotzdem wuchert es im öffentlichen Sprachgebrauch ungehindert. Keine Universitätsvorlesung, kein Schulbuch, kein Gesetzestext, kein behördliches Schreiben, kein Internetauftritt einer staatlichen Institution, keine Politikerrede kommen ohne mehr oder weniger konsequentes Bemühen aus, gendergerecht zu formulieren. Mögen die darin praktizierten Ausdrucksformen noch so sperrig, missverständlich und unästhetisch sein, immer mehr Menschen glauben, sich dem gesellschaftlichen Druck beugen und ihr Sprachempfinden zugunsten eines zeitgeistigen Gendersprechs betäuben zu müssen. Sogar etliche Journalisten, die traditionell eine sehr ökonomische und auf Verständlichkeit bedachte Ausdrucksweise pflegen, tendieren zu einem Deutsch, das sich mehr an einer Ideologie als an Prägnanz und Klarheit orientiert.

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Der vorliegende Text stammt in Teilen aus dem Buch »Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache«, Projekte-Verlag Cornelius, September 2013. (Hier bei Amazon bestellen.)

Essay, Fazit 102, (Mai 2014) – Foto: Privat

Kommentare

2 Antworten zu “Das Missverständnis vom grammatikalischen Geschlecht”

  1. Klaus
    23. April 2018 @ 15:51

    Offensichtlich muss in diesem verkorksten Land erst jemand aus der Slowakei kommen, um den dämlichen Deutschen ihre eigene Sprache zu erklären.
    Danke, Herr. Dr. Kubelik!

  2. Veit
    29. April 2018 @ 20:02

    Es wird Zeit, die Missverständnisse weckenden Begriffe Maskulinum, Neutrum und Femininum durch die unverfänglicheren Termini Standardgenus, zweites Genus und drittes Genus zu ersetzen. (Die Reihenfolge „Standard“, „zweites“ und „drittes“ entspricht der entstehungsgeschichtlichen Abfolge.) Könnten Sie sich dafür stark machen, Herr Dr. Kubelik?

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