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Hilfe ohne Entwicklung

| 29. Oktober 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 107, Fazitthema

Illustration: Piero Pichleretto

Einbahnstraße Entwicklungshilfe. Fast zwei Billionen Dollar hat der Westen in den vergangenen 50 Jahren allein nach Afrika überwiesen. Doch nicht nur Korruption, Krankheiten und Bürgerkriege halten die Entwicklungshilfe auf. Auch die Industrieländer stehen sich selbst im Weg.

Von Peter K. Wagner
Mitarbeit: Philipp Tripolt

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Auch ein paar Handschuhe können helfen. In keinem Land in Westafrika leiden die Menschen mehr unter Ebola wie in Liberia. 2.500 Menschen sind dort bereits an der Infektionskrankheit verstorben. Dass es in den Krankenhäusern allein schon an Handschuhen fehlt, die vor dem Virus schützen könnten, klingt nach Normalität in einem armen und von jahrelangem Bürgerkrieg geprägten Land. Und doch ist es mehr als paradox: Denn ausgerechnet Liberia ist auch reich, zumindest an Kautschuk – es ist eines der Länder mit dem weltweit größten Kautschukvorkommen. Doch der Markt wird vom amerikanischen Unternehmen Firestone beherrscht. Der Rohstoff wird exportiert, heimische Industrie zur Handschuhfertigung gibt es keine.

Nur eine Geschichte vom Versagen der Entwicklungshilfe. Seit der ersten Konferenz der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – kurz OECD – am 16. November 1961 in Paris wird dieser Begriff verwendet, um das Bestreben der westlichen Staaten nach Unterstützung der Entwicklungsländer zu bezeichnen. Wobei das Bestreben selbst nicht immer da war.

Der Wettlauf um die große Unbekannte
Ende des 15. Jahrhunderts waren die europäischen Staaten von ihrer geistigen und kulturellen Vorherrschaft auf der Welt überzeugt. Aufgrund ihres technologischen Fortschritts bauten sie im Akkord Schiffe und brachen über alle Weltmeere in die Epoche des neuzeitlichen Kolonialismus auf. Es dauerte nur ein paar wenige Jahrhunderte, um all das, was über Jahrtausende an kultureller Vielfalt entstanden war, aber als rückständig angesehen wurde, einzunehmen, zu missionieren und auszubeuten. Mit neuen Ressourcen und Rohstoffen konnten sich die Europäer so an den indigenen Völkern der Welt bereichern und gaben ihnen als Abschiedsgeschenk neue territoriale Begrenzungen mit auf ihren weiteren Lebensweg. Afrika galt besondere Aufmerksamkeit. In den 1880ern war plötzlich der Wettlauf um den bis dahin weitestgehend unbekannten Kontinent gestartet worden, der in der sogenannten Kongokonferenz in Berlin sein erstes großes Etappenziel fand. Deutschlands Reichskanzler Otto von Bismarck hatte im November 1884 nach Berlin geladen und drei zähe Verhandlungsmonate später war im Februar 1885 eine willkürliche Spaltung des Kontinents beschlossene Sache – ohne auch nur einen Afrikaner darüber zu Wort kommen zu lassen. Einen aus den über 3.000 unterschiedlichen Stämmen des Kontinents, auf dem über 2.000 verschiedene Sprachen gesprochen wurden.

Ihrem aus ihrer selbstauferlegten Überlegenheit gegebenen Recht waren sich die 14 Teilnehmer der Konferenz dennoch sicher. Otto von Bismarck selbst wird jenes Zitat zugeschrieben: »Unsere Regierungen teilen den Wunsch, den Eingeborenen Afrikas den Anschluss an die Zivilisation zu ermöglichen, indem das Innere dieses Kontinents für Handel und Bildung erschlossen wird und damit begonnen wird, der Sklaverei ein Ende zu machen.« Mit Abstrichen klingt auch das eigentlich nach Entwicklungshilfe späteren Verständnisses. Wobei schon das Wort Entwicklung selbst Raum für vielerlei Diskussion eröffnet. Was der eine als entwickelt, fortschrittlicher oder gar modernisiert betrachtet, muss für den anderen noch lange nicht erstrebenswert sein. Der Weg zur Feststellung der Unterentwicklung ist ein kurzer. Doch wer definiert, dass aus westlichen Gesichtspunkten gesehene lebensnotwendige Güter und lebenswichtige Dienstleistungen auch für andere Menschen ein Leben lebenswert machen?

Unterentwicklung als Attraktion
Im Golf von Bengalen ist die Zeit stehengeblieben. Etwas weiter als auf halber Strecke zwischen der indischen Ostküste und den letzten südlichen Ausläufern von Myanmar liegen die Andamanen und Nikobaren. Eine Gruppe von 204 Inseln mit allem, was das Touristenherz begehrt. Weiße Sandstrände, erstklassige Tauchresorts und eine atemberaubende Flora und Fauna locken jährlich etwa 200.000 Touristen an – die meisten aus Indien. Und viel zu viele von ihnen gehen auf Safari. Ihre Kameras lechzen aber nicht nach Tieren, sondern nach Menschen. Denn auf zwei der vielen Inseln leben hier noch Ureinwohner als Jäger und Sammler – die Jarawa. Auf zahlreichen Videos im Internet lassen Touristen die Stammesangehörigen tanzen – zum Dank gibt es Bananen oder Süßigkeiten. Gefühlte Unterentwicklung als Attraktion.

1990 hätten die Jarawa zwanghaft sesshaft gemacht werden sollen, NGOs setzten sich für sie ein und konnten das verhindern. Erst 1998 nahmen die kleinwüchsigen, dunkelhäutigen Ureinwohner nach etwa 60.000 Jahren ihrer Geschichte bewusst Kontakt mit den restlichen, hauptsächlich indischstämmigen Bewohnern der Insel auf. Was folgte, war eine Massenepidemie, weil sie in den vergangenen Jahrhunderten gegen gewisse Erreger keine Abwehrkräfte gebildet hatten. Wären sie nie mit anderen, »moderner« lebenden Menschen in Berührung gekommen, wären nicht so viele von ihnen gestorben und es gäbe auch heute noch weitaus mehr als nur noch 400 ihres Stamms.

Der alte Japaner und der junge Afrikaner
Gesundheit ist auch das Spezialgebiet des schwedischen Professors Hans Rosling. Der Mediziner machte sich mit »Gapminder« einen Namen – einem Online-Tool, das komplexe Statistiken so verständlich darstellt, dass Google ihm seine Idee 2007 abkaufte. Sein Werkzeug hilft ihm auch bei der Darstellung seines berühmtesten Videos. Der Titel: »200 Länder, 200 Jahre, 4 Minuten.« Die kurze Präsentation, die im Internet rauf und runter gespielt wurde und wird, zeigt, dass die Lebenserwartung weltweit seit Anfang des 19. Jahrhunderts stieg. Selbst die ärmsten afrikanischen Länder stehen heute lediglich aufgrund von Epidemien wie HIV erst dort, wo die Spitzenreiterländer schon vor über 200 Jahren angekommen waren. Aber gleichzeitig zeigt sie eben auch, dass die Schere der Lebenserwartung zwischen den Ländern nicht mehr um wenige Jahre auseinander klafft, sondern um Jahrzehnte. In Japan werden Menschen heute 87 Jahre alt, in Sierra Leone nur 46. Aber es geht noch plakativer: Tag für Tag sterben 25.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Unterernährung, gleichzeitig sind 1,4 Milliarden Menschen fettleibig. Und während 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als einem Euro pro Tag auskommen müssen, besitzt ein Prozent der 7,2 Milliarden Menschen weltweit die Hälfte des gesamten Reichtums.

Das hat sich die OECD alles ganz anders vorgestellt, als sie 1961 zu Taten schritt – und armen Ländern ein bisschen vom eigenen Reichtum abgab, um selbigen dort zu ermöglichen. Vor allem nach Afrika. Bereits in den 1950er Jahren waren um die 100 Millionen Dollar als Entwicklungshilfe in den zweitgrößten Kontinent der Welt geflossen. Bereits 1965 waren es über 950 Millionen Dollar. Allein Ghana erhielt 90 davon, Sambia, Kenia und Malawi bis zum Ende der 1960er Jahre an die 315 Millionen Dollar. Wie viel Geld genau in die zumeist gerade erst kürzlich entkolonialisierten Staaten floss, weiß man nicht so genau. Statistische Aufzeichnungen gibt es kaum. Fest steht, dass das meiste Geld in Brücken, Flughäfen und Eisenbahnstrecken investiert werden hätte sollen – zu Beginn der 1970er allerdings noch alles andere als eine nennenswerte Infrastruktur vorherrschte. Was folgte, war die Ölkrise und eine in die Finanzkrise stürzende Weltwirtschaft. Die Erdölexporteure deponierten ihre steigenden Einnahmen auf internationalen Bankkonten – und diese wiederum wollten immer mehr Kredite vergeben. Auch an Entwicklungsländer. Der steigende Erdölpreis führte zu höheren Lebensmittelpreisen und auch die Entwicklungshilfe wandelte sich alsbald: Statt der Infrastruktur wurde der Armutsbekämpfung Geld zur Verfügung gestellt. Doch die meist mit variablen Zinssätzen vergebenen Kredite an die Entwicklungsländer wurden bald immer teurer, weil die Zentralbanken der Industrienationen auf den zweiten Ölpreisschock reagierten, indem sie die Zinsen anhoben. Schon 1982 ging Afrika unter einer Schuldenlast von etwa acht Milliarden Dollar unter – 1975 waren es noch zwei Milliarden Dollar gewesen. Als dann der mexikanische Finanzminister Jesus Silva Herzog auf die Idee kam, dass Mexiko seine fälligen Schuldzahlungen nicht leisten werde, weil es einfach nicht möglich war, wurde man auch in Afrika hellhörig. Länder wie Angola, die Elfenbeinküste, Kongo, Nigeria oder Sambia schlossen sich an. Um die globale Finanzstabilität nicht zu gefährden, wurde umgeschuldet und Schulden erlassen.

Man versucht es also fortan mit Neoliberalismus. Die Märkte der Schwellenländer Asiens wurden als Vorbild ausgemacht und die Entwicklungshilfe förderte die Einschränkung staatlicher Eingriffe, die Privatisierung staatlicher Betriebe sowie die Liberalisierung des Handels oder die Einschränkung der öffentlichen Verwaltung. Der staatliche Anteil an Firmenvermögen sank in Afrika von fast 90 auf zehn Prozent – es herrschte Freiheit der Märkte. Freiheit für Erfolg, aber auch Freiheit zu scheitern. Geld wurde indes weiterhin immer mehr aus dem Westen überwiesen – Ende der 1980er hatten die Entwicklungsländer Schulden von mindestens einer Billion Dollar.

Eine Frage der Moral
Doch es half alles nichts. Das Wirtschaftswachstum sank, die Armut nahm weiter zu. Neben Fehlern in der Zielsetzung und Einsetzung der finanziellen Hilfsleistungen aus dem Ausland hatten dem Kontinent auch Krankheiten wie Aids stark zugesetzt. Bürgerkriege, die die westlichen Kolonialisten mit ihrer Territorialpolitik einst förderten, standen ebenso an der Tagesordnung, und dann war da noch zusätzlich die Frage nach der Integrität der politischen Führung. Denn nicht nur der Hunger auf den Straßen wurde immer größer, auch die Korruption hielt sich immer hartnäckiger. Nur ein bekanntes Beispiel: Zaires Präsident Mobutu Sese Seko bat sein amerikanisches Pendant Ronald Reagan einst um leichtere Rückzahlungskonditionen für Schulden in der Höhe von fünf Milliarden Euro. Nur um kurz darauf seine Tochter mit einer Concorde zu ihrer Hochzeit in die Elfenbeinküste einzufliegen.

Es dauerte bis Ender 1990er, bis die Geberlaune der Industrienationen sank, dennoch blieb für viele Länder in Afrika die Entwicklungshilfe aus dem Ausland die Hauptfinanzeinnahme. In zu vielen Nationen entstammten zwischen 1987 und 1996 bis zu 90 Prozent der Nettoausgaben der Entwicklungshilfe. Als die Lage endgültig verfahren schien, wurde es um die Jahrtausendwende glamourös und die Musiker Bob Geldorf und Bono von U2 jetteten um die Welt, um die Ära der Moralaktivisten einzuläuten, die sich für Afrika einsetzen wollten. Alles und nichts sollte gerettet und unterstützt werden. Patenschaft hier, Spende dort. Das Gefühl, das bei den Menschen in Afrika entstand, beschrieb der damalige Präsident von Tansania wie folgt: »Es ist ein Skandal, dass wir dazu gezwungen werden, zwischen einer medizinischen Grundversorgungen, der Ausbildung unserer Menschen und der Rückzahlung historischer Schulden zu wählen.«

Er sprach diese Worte fünf Jahre nachdem sich Vertreter der UNO, der Weltbank, der OECD und mehreren NGOs im September 2000 in New York trafen, um die so genannten Millenniums-Entwicklungsziele zu erarbeiten. Eine acht Ziele umfassende Erklärung, die genau auf diese Bereiche und noch mehr abzielte: Neben der Bekämpfung von extremer Armut und Hunger umfasste die Resolution auch Punkte wie die Primärschulbildung für alle, Senkung der Kindersterblichkeit, Bekämpfung von Krankheiten wie Aids oder Malaria sowie ökologische Nachhaltigkeit und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter.

China auf dem Vormarsch
Auch wenn sie selbst noch mit vielen Problemen zu kämpfen haben, sind die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, Indien und China, schön längste Wirtschaftsmächte. Und gerade China weiß seine Macht einzusetzen. Nicht zuletzt in Afrika. Es war das Land der aufgehenden Sonne, das sich alsbald am nachhaltigsten am Kontinent einbrachte. Schon in den 1970ern baute China für 500 Millionen Dollar die 1.860 Kilometer lange Eisenbahnstrecke, die Sambia über Tansania mit dem Indischen Ozean verbindet. Und nach der Jahrtausendwende ging es richtig los. Allein 2006 unterzeichnete China mit Afrika Handelsverträge in der Höhe von fast 60 Milliarden Dollar. 30 Milliarden Dollar wurden zwischen 2000 und 2005 an Direktinvestitionen geleistet. Äthiopische Straßen, sudanesische Pipelines, nigerianische Eisenbahngleise oder Textilfabriken in Lesotho und Minen in Sambia – alles ein Werk Chinas. Dahinter steckte der Plan, dominierende ausländische Macht am Kontinent zu werden. Wie ernst dieser Plan verfolgt wurde, zeigte auch das 5,5 Milliarden teure Engagement an der Standard Bank – 20 Prozent der größten einheimischen afrikanischen Bankengruppe gehört seit 2007 Peking. Studien belegen, dass auch die Menschen in Afrika den Chinesen besser gesinnt sind als anderen Investoren. Selbst in Ländern, in denen etwa China und die USA gleichermaßen positiv bewertet werden, freut man sich über die Asiaten mehr. 86 Prozent der Senegalesen sind überzeugt, dass China ihnen hilft, ihre Situation zu verbessern. Von den USA glauben das nur 56 Prozent.

Dambisa Moyo wurde in Lusaka, der Hauptstadt von Sambia geboren. Schon 2009 veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel »Dead Aid«, in dem sie erklärt, warum die bisherige Entwicklungshilfe trotz der fast abenteuerlichen Höhe von fast zwei Billionen Dollar in den vergangen 50 Jahren nicht funktioniert hat. Ihre Kernaussage wiederholt sie heute noch stetig und sie ist radikal: Die Entwicklungshilfe muss gestoppt werden. Warum, weiß die Autorin, die in Oxford in Volkswirtschaftslehre promovierte, ganz genau: »Der Fehler des Westens war und ist es, ohne Gegenleistung gegeben zu haben«, erklärt sie. Und zieht den Vergleich mit China. »Das Geheimnis des chinesischen Erfolges besteht darin, dass es den Chinesen nur um Geschäfte geht. Der Westen schickt Entwicklungshilfe nach Afrika und kümmert sich wenig darum, was dort damit geschieht. China dagegen überweist Geld nach Afrika, um Gewinne zu machen.« Und lässt den Satz folgen, den man eigentlich gerade im Westen immer verstanden hat: »Auf die Wirtschaft kommt es an.«

Titelgeschichte Fazit 107 (November 2014)

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