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Die digitale Herausforderung

| 27. November 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 108, Fazitthema

Illustration: Piedro el libre

Die digitale Revolution verändert unser Leben wesentlich stärker, als es Zukunftsforscher je erwartet hätten. Sie ist Segen und Fluch zugleich. Ganze Wirtschaftsbereiche werden wegrationalisiert – neue Branchen entstehen. Anpassungsfähigkeit ist notwendig. Und zwar in einem atemberaubend hohen Tempo, das uns zu überfordern droht.

Von Peter K. Wagner
Mitarbeit: Franziska Behrend

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Es war nur ein charmanter Blick in eine modernere Zukunft. Gewagt hatte ihn Walter Cronkite, einer dieser typischen amerikanischen Nachrichtensprecher der alten Schule. Anzug, rote Krawatte, Oberlippenpart. Einen kleinen, aber bestimmten Schritt setzte er nach dem anderen und zeigte, wie ein modernes Büro im neuen Jahrtausend aussehen werde. Die Zeitung kommt per Knopfdruck aus dem Drucker, einer der vielen Bildschirme zeigt sofort nach dem Einschalten die aktuellen Börsenkurse und direkt daneben wartete schon die Anrufvorrichtung, die samt einer weiteren Bildröhre Videotelefonie möglich macht. »Im 21. Jahrhundert werden sie zu Hause arbeiten können. Außerdem wird im 21. Jahrhundert kein Zuhause vollständig sein ohne eine computerisierte Kommunikationszentrale«, sagt er noch etwas bieder. Film Ende. So war die Vorstellung im Jahr 1967. Und so realitätsfremd der bald 50 Jahre alte Beitrag des amerikanischen Nachrichtensenders CBS wirkt, er ist gar nicht so weit weg von dem, woran wir uns heute gewöhnt haben.

Der 200 Jahre alte rechte Winkel
Tatsächlich ist es nur viel schlimmer. Oder auch einfacher. Die Diskussion um die digitale Revolution ist auch eine der Position. Wir alle profitieren, wovon wir schon morgen hart getroffen werden könnten. Das Tempo des technischen Fortschritts ist hoch und das ist eine junge Entwicklung. Denn wenn man einen Blick auf die Menschheitsgeschichte wirft, wird offensichtlich, wie gemächlich sich unsere Gesellschaft über Jahrtausende entwickelt hat. Zwischen Steinzeit, Antike, Mittelalter und Neuzeit standen natürlich Fortschritt, Weiterentwicklung ebenso am Programm wie Krankheiten oder philosophische Strömungen – aber im großen Kontext sind diese Epochen unaufgeregt verlaufen. Erst vor etwa 200 Jahren macht die Verhältniskurve zwischen sozialer Entwicklung und Weltbevölkerung einen Knick nach oben – nahezu im rechten Winkel. Dank der industriellen Revolution und jener Konstruktion, die James Watt 1769 patentieren ließ: der Dampfmaschine. Die Folge dieses Fortschritts waren schon bald Fabriken, Massenproduktion und Massentransport. Und ein immer stärker wachsende Erdbevölkerung. Gab es Anfang des 18. Jahrhunderts noch etwa 600 Millionen Menschen, waren es am Aufbruch ins 19. bereits fast doppelt so viele.

Weniger um die Anzahl von Menschen, aber vielmehr um Zahlensprünge dreht sich jene Revolution, die unser Leben heute beeinflusst – und dabei eben noch viel schneller ist als die industrielle Revolution. Und zwar genauer gesagt um den Faktor zwei. Es war eigentlich eine mehr beiläufige Fußnote, die der Mitbegründer von Intel, Gordon Moore, im Jahr 1965 in einem Artikel im Elektrotechnik-Branchenmagazin »Electronics« formulierte: »Die Komplexität hat sich mit minimalen Komponentenkosten etwa um den Faktor zwei pro Jahr erhöht. Das dürfte sich zumindest kurzfristig fortsetzen, wenn nicht gar steigern. Auf längere Sicht ist die Zuwachsrate nicht ganz so gewiss, obschon es keinen Grund zur Annahme gibt, dass sie nicht mindestens zehn Jahre lang mehr oder minder konstant bleibt.« Hinter dieser sperrigen Erklärung versteckt sich nichts anderes als die Tatsache, dass Computerchips jährlich ihre Leistungsfähigkeit verdoppeln, was fortan als Moore‘sches Gesetz bezeichnet wurde. Nur dass aus den vom in San Francisco geborenen Amerikaner geschätzten zehn Jahren einige mehr wurden und heute mittlerweile von 18 Monaten als Zeitraum für die nächste Verdopplung von digitaler Leistung ausgegangen wird.

Dabei sind die Computerchips selbst schon lange nicht der einzige Antriebsfaktor für das, was wir als digitale Revolution und für viele Branchen auch als digitale Gefährdung bezeichnen. Denn so jugendlich die industrielle Revolution ist und so kindlich die digitale – weltgeschichtlich gesehen ist das Internet gerade einmal wenige Sekunden alt. Und hat dennoch in jeder Millisekunde seines Bestehens  in unserem Leben einem Bereich nach dem anderen grundlegend verändert.

Neue Wege für alte Branchen
Blick nach Graz. Im März 2015 wird eine Institution ihre Pforten schließen, die im Sog der industriellen Revolution im Jahr 1806 ihr erstes Kapitel aufschlug: die Traditionsbuchhandlung Leykam. Von den großen Drei in der Innenstadt der steirischen Landeshauptstadt ist damit nach der Schließung von Kienreich vor einigen Jahren nur noch die Buchhandlung Moser am Eisernen Tor übrig. Und selbst dort stellt sich die Frage, wie lange das noch gut gehen kann. Und das gar nicht wegen des offenen Geheimnisses, dass das Buch ebenso wie die Zeitung oder das Magazin zu verschwinden droht. Schon die Musikindustrie hat uns mit der Programmierung von mp3-Tauschbörsen wie Napster an der Wende zu den Nullerjahren aufgezeigt, wie schnell eine Branche einem Wandel unterzogen werden kann. Seit dem Jahr 1999 waren die Umsatzzahlen der Musikindustrie rückläufig, dass sie in Europa im Jahr 2013 erstmals wieder ein Umsatzplus verzeichnen konnten, lag aber nicht daran, dass wieder plötzlich CDs oder Kassetten gekauft wurden.

Branchen, die einem Wandel unterzogen sind, müssen neue Wege finden. Der Wettlauf um die neueste Technologie und die modernste Art und Weise zu konsumieren, ist dabei fast unübersichtlich. Zumindest im Nachhinein betrachtet. Wer Anfang der Nullerjahre ein mp3-Gerät besaß, war fast innovativ – auch wenn er eigentlich nur 14 verschiedene Lieder auf sein Gerät brachte. Eigentlich brannte man sein gratis im Internet ergaunertes Liedgut lieber noch auf CD. Bald verzeichnete Apple über Jahre massive Umsätze mit ihren auf Festplatten basierten mp3-Spielern und dem 99-Cent-pro-Musikstückdienst »iTunes«. Und irgendwann braucht es dann Menschen wie Daniel Ek und Martin Lorentzon, die etwas weiter denken. Die beiden Schweden starteten im Oktober 2008 das Start-up »Spotify« das heute 10 Millionen Abonnenten und 40 Millionen aktive Nutzer hat. »Spotify« ist dabei nichts anderes als eine logische Weiterentwicklung von menschlichen Bedürfnissen unter Berücksichtigung der modernen Technologie. Soll heißen: Die ganze Welt lauschte gratis Musik, lud sie herunter und versuchte sie zu ordnen. Der Nachteil: Nicht alles war überall zu finden, immer wieder wurden Seiten und Plattformen gesperrt, und das, was man fand, war nicht immer die Version, die einem im Radio gefallen hatte, oder sie bot schlicht und ergreifend nicht die Qualität, die man von den CDs gewohnt war. Und dann gab es da noch ein Phänomen: Auf Videostreaming-Diensten wie »YouTube« war das Problem nicht gegeben. Dort stellten die Musikkünstler brav ihre Titel in bester Qualität online, was dazu führte, dass die Menschen anfingen, sich Online-Playlists zusammenzustellen und auf das Video gar nicht zu achten. Es muss eine Kombination aus diesen Beobachtungen gewesen sein, die Ek und Lorentzon dazu brachten, ein Programm zu starten, das es ermöglichte, Musik in bester Qualität zu hören – und zwar ganz legal. Nur durch etwas Werbung unterbrochen. Und wer als Abonnent 10 Euro im Monat zahlt, hat heute keine kommerziellen Pausen zu fürchten und kann davon sogar noch am Handy, Tablet oder Computer ebenso profitieren. Und was noch viel wichtiger ist: Die Option des dauerhaften Besitzes der Lieder und damit des Hörens ohne Internetzugang ist inklusive. Der Musikindustrie ist auch geholfen: Immerhin verdient jeder Interpret 0,3 Cent pro gestreamten Stück. Dass das die (vorübergehende Zukunft) des Musikhörens ist, beweist vor allem Apple, die die Gefahr erkannten und durch den Start ihres eigenen Streamingdienst »Beats Music« vor wenigen Monaten öffentlich zugaben: »iTunes« und 99-Cent-Käufe sind gefühlt tot.

Kein Warten auf das Hauptabendprogramm
Nun spart dieser Blick auf die Musikbranche aus, dass es natürlich noch CDs im Regal gibt und der Vinylverkauf zuletzt immer wieder einen Aufschwung erlebte. Aber das darf deshalb eigentlich unerwähnt bleiben, weil diese Ausnahmen gesamtökonomisch gesehen getrost als Liebhaberei abgetan werden dürfen. Viel schwerwiegender sind da schon die Folgen dieser beschleunigten Entwicklung einer Branche, vor der die Fortschritte der digitalen Revolution die Wirtschaft immer wieder stellt: So kostensparend, bequem und wunderbar eine umgekrempelte Musikindustrie für den Konsumenten ist, und so schön es sein mag, dass die Musiker selbst dank Livekonzerten dennoch weiterhin Millionäre sind – was ist mit den vielen Menschen zwischen ganz oben und ganz unten? Irgendjemand hat schließlich einmal CDs in einem der unzähligen Musikläden verkauft. Und das ist nur ein Markt. Die Buchindustrie mit all den sterbenden Geschäften und der Hype um E-Books, die Medienwelt mit der Auslöschung von Zeitungen, Magazinen und Personalrationalisierungen bei den wenigen überlebenden Medienhäusern, die Welt der Banken mit allen den Online-Überweisungen oder Online-Beratungstools – viele Menschen wurden, einige werden noch ersetzt werden. Und natürlich macht das Moore’sche Gesetz auch vor digitalen Errungenschaften nicht halt. Wie viele kompakte Digitalkameras sind keine fünf Jahre alt, aber dennoch doppelt oder dreifach so groß wie unser Smartphone mit halb so guter Pixel- und Blitzleistung? Wer muss in Zeiten von Netflix, dem Serien- und Filmstreamingdienst mit einer monatlichen Pauschale von wenigen Euro im Monat, noch auf das Hauptabendprogramm warten, um dann zu sehen, was er sehen will, wann auch immer er es will? Die Tage, in denen man zum kleinen Elektronikhändler ging, sind ohnehin lange vorbei. Aber nicht einmal beim großen Elektro-Discounter macht man heute mehr, als sich Geräte anzuschauen, um sie direkt im Internet auf Preisvergleichsseiten wie geizhals.at zu suchen, um das größte Schnäppchen zu machen. Niemand braucht mehr den Verkäufer, dem man nie richtig vertraut hat und nun schon gar nicht mehr vertraut, wo man online doch allerhand Testberichte über jede Kaffeemaschine lesen kann. Die Veränderung der Arbeitswelt ist schon da, aber sie wird noch viel weitreichender ausfallen. Ja, es ist gut, dass es in Zukunft keine Menschen mehr braucht, die an der Supermarktkassa Barcodes einlesen und Bargeld in die Hand nehmen. Aber wollen wir wirklich sogar unser Plastikgeld auf dem Smartphone gespeichert haben, wie Apple erst kürzlich mit der Fingerabdruck-Kreditkarte in Aussicht gestellt hat? Hat man dann neben dem Handy keine Brieftasche in der Hose, sondern ein Aufladegerät, weil bei all der exponentiellen Verdopplung von Rechnerleistungen die Akkuleistungen in den vergangenen Jahren nie mitgewachsen sind?

Der Fortschrittsmotor läuft
Dass sich unsere Gesellschaft verändert, steht außer Frage. Unsere Wirtschaft tut das auch. Laut einer Statistik der »Deutschen Bank Research«, die technologischen Entwicklungen auf vier Stufen herunterbricht, läuft der Fortschrittsmotor seit 200 Jahren wie geschmiert. Und wird immer leistungsstärker. So betrug das weltweite Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr in seiner ersten Stufe zu Zeiten der industriellen Revolution 694 Dollar. Am Beginn des 20. Jahrhunderts, als die elektrische Energie die arbeitsteilige Massenproduktion möglich machte, schon bei 2.753 Dollar und um 1980 sorgte die zunehmende Automatisierung durch Elektronik und Informationstechnologie für Stufe 3. Und etwa 20.042 Dollar. Die Vorhersage für 2020 mit all dem Internet und den immer schneller werdenden Computerchips? 90.000 Dollar. Auffällig ist dabei ein Paradoxon. Zumindest wenn es nach den beiden amerikanischen Autoren Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee geht. Die Wissenschaftler des »Massachusetts Institute of Technology« stellen in ihrem Buch »The Second Machine Age« fest: »Das BIP und das Innovationstempo waren nie höher. Das Einkommen des US-amerikanischen Medianhaushalts ist jedoch gesunken.« Und die größten Gewinner der digitalen Revolution? Die Superstars. Während die Buchbranche strauchelt und Bücherläden schließen müssen, wird J.K. Rowling, die Autorin von Harry Potter, immer reicher. Sie wurde gar zur ersten Milliardärin in einer Branche, die nie die Reichsten der Reichen hervorbrachte. Doch die neue Welt eröffnet ihre alle Möglichkeiten – Digitalisierung, Globalisierung, Vermarktung ohne Ende, vom Buch über den Film bis zum Videospiel. Und das alles zu geringen Kosten.

Wer die Gedanken an Maschinen und Roboter sowie Automatisierung weiterspinnt, wird irgendwann an Horrorszenarien denken, die in Hollywood-Blockbustern zur Ausrottung der Menschheit und Übernahme der Weltherrschaft durch die künstliche Intelligenz führen. Sofern wir davon ausgehen, dass wir Maschinen nie die Macht geben, zu entscheiden, was für die Erhaltung unseres Planeten am besten ist, wird es nicht so weit kommen. Und außerdem ist es fast schon zu empathisch, wenn man sich um seine Urenkel Sorgen macht, wo doch schon das eigene Leben bald umgewälzt werden könnte. »Eine Maschine kann die Arbeit von fünfzig gewöhnlichen Menschen leisten, aber sie kann nicht einen einzigen außergewöhnlichen ersetzen«, sagte der amerikanische Schriftsteller und Verleger Elbert Hubbard einmal. So außergewöhnlich muss er aber gar nicht sein.

Ein Team von Wissenschaftler der Universität im kalifornischen Berkeley versah einen humanoiden Roboter mit vier Stereokameras und Algorithmen, die ihm ermöglichten, Handtücher zu erkennen. Er schaffte es, die Handtücher zu greifen und zusammenzulegen. Aber nicht beim ersten Versuch. Es dauerte 1.478 Sekunden. Also 25 Minuten. Nicht für 50 Handtücher. Für ein einziges. Es sind auch einfache Berufe, die in Zukunft noch gefragt sein werden. Was für Handtücher gilt, gilt nämlich noch lange für Mechaniker, Krankenpfleger, Handwerker oder Ärzte. »Zukünftig werden immer mehr Menschen im Beruf keine reine Informationsarbeit ausführen – die Art von Arbeit, die gänzlich von einem Schreibtisch aus erledigt werden kann«, glauben die Autoren Brynjolfsson und McAfee. Und erklären weiter: »Stattdessen werden sie sich auch durch die physische Welt bewegen und mit ihr interagieren müssen.« Klingt so gar nicht nach der Zukunftsprognose des CBS-Nachrichtensprechers Walter Cronkite mit dem hochtechnologisierten Büro und der Arbeit von zu Hause, die eigentlich so nach Gegenwart aussah. Und ist doch auch ein sehr charmanter Blick in eine modernere Zukunft. Nur das diesmal die entschleunigte Facette den Charme ausmacht.

Titelgeschichte Fazit 108 (Dezember 2014) – Illustration: Piedro el libre

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