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Österreich und Europa

| 23. Dezember 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 109, Fazitthema

Illustration: Pedro el libre

Vor 20 Jahren, am 1. Jänner 1995 trat Österreich der Europäischen Union bei. Doch nicht jeder weiß zu schätzen, wovon er täglich profitiert. Weil die EU vielen Österreichern noch immer zu weit weg ist.
Eine Bilanz mit einem Blick in eine unsichere Zukunft.

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Am Anfang stand Optimismus. Das Jahr 1995 war im Anflug und Staatssekretärin Brigitte Ederer stützte sich auf eine Untersuchung der Arbeiterkammer. Die österreichische Durchschnittsfamilie könne sich bald über ein zusätzliches Haushaltseinkommen freuen. In der Höhe von 1.000 Schilling. Dank des Beitritts zur Europäischen Union, für die sich 66,6 Prozent der Österreicher keine sechs Monate zuvor in einer Volksabstimmung ausgesprochen hatten.

»Das faszinierendste Projekt in der Geschichte«
20 Jahre später weiß man, dass das mit dem Ederer-Tausender nicht mehr als ein populistischer Sager war und wir doch alle von der EU profitieren. Vom innereuropäischen Frieden, von der Wirtschaftsunion, die uns zumindest lange Zeit Wachstum versprach, vom Schengener Abkommen, das uns ohne Reisepass über die Grenzen fahren lässt, von einem Europäischen Gerichtshof, der uns Rechtssicherheit über die Heimat hinaus garantiert, von einer Währungsunion, die uns das Geldwechseln spart – und das sind nur die plakativsten Beispiele. Gleichzeitig denken wir an Gurkenkrümmungen, die dank der Grünen im vergangenen EU-Wahlkampf wieder auf das Radar der Österreicher gelangten. Oder ärgern uns über die gerade eingeführten Allergen-Bestimmungen in der Gastronomie. Man kann die Europäische Union allerdings auch nüchtern, rein wirtschaftlich betrachten. So wie es das Bundeskanzleramt online tut. Laut einer auf der Website zukunfteuropa.at veröffentlichten Statistik ist das Niveau des realen Bruttoinlandsprodukts Österreichs seit dem EU-Beitritt um rund 9,7 Prozent gestiegen und jährlich entstanden in Österreich dank der Europäischen Union rund 13.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl weiß ebenfalls von positiven Entwicklungen zu berichten. Ohne die EU würde es in Österreich »93.000 Arbeitslose mehr geben« und auch »das Preisniveau wäre um 4,5 Prozent höher«. Er bilanziert: »Trotz aller Schwächen und Kritikpunkte ist Europa das faszinierendste Projekt in der Geschichte.«

Jörn Kleinert ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz. 2011 in die Steiermark gekommen, wuchs der Deutsche in Ost-Berlin auf. Vor dem Mauerfall. Ein Grund, warum ihm die Europäische Union besonders wichtig ist und er alles andere als ein EU-Gegner ist. Mit Statistiken wie jenen vom Bundeskanzleramt und WK-Präsident Leitl tut er sich dennoch schwer. »Ich halte solche Zahlen ehrlich gesagt für Quatsch«, konstatiert der Wissenschafter. »Man kann nie wissen, wie man sich sonst entwickelt hätte.« So schwer es sei, fundierte Analysen zu treffen, ist er sich aber sicher: »Die EU hat Österreich zehn oder zwölf Jahre Sonderkonjunktur gebracht. Natürlich könnte man sagen, dass wir die durch die Öffnung Osteuropas ohnehin bekommen hätten, aber auch das weiß man nicht.« Und noch eines steht für ihn fest: »Wie großartig die EU ist, ist vielen Bürgern gar nicht mehr bewusst, weil viele Dinge selbstverständlich geworden sind. Nicht zuletzt für die jüngere Generation, die ein Leben ohne den Staatenbund gar nicht kennt.«

Hohe Erwartungen, große Herausforderungen
Wie der Österreicher wirklich über das bedeutsamste Projekt der Kontinentalgeschichte denkt, lässt sich anhand einer Umfrage der österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGFE) erahnen. 57 Prozent der Österreicher befinden laut dieser Befragung den Beitritt Österreichs zur EU rückblickend als richtige Entscheidung. Eine Mehrheit, aber eine kleine. Paul Schmidt ist darüber wenig überrascht. Er ist seit 2009 ÖGFE-Generalsekretär, war früher bei der Nationalbank und verweist auf den Durchschnittswert der Befragungen zum selben Thema in den vergangenen Jahren – der liege bei 58,8 Prozent. Und noch mehr verweist er auf die Rahmenbedingungen. »Man darf nicht die Wirtschafts- und Finanzkrise in der jüngeren Vergangenheit vergessen sowie die schwierigen politischen Entwicklungen. Da ist es klar, dass es gewisse Grundstimmungen und Skepsis gibt. Ich sehe nach 20 Jahren eine positive Bilanz mit Kritik im Detail.« Und auch diese Kritik lässt sich anhand einer Zahl ablesen: 93 Prozent der Menschen gaben in derselben Befragung an, dass die EU kompliziert sei. Dabei sollte sie doch alles vereinfachen. »Die EU wirkt sehr fern. Außerdem gibt es das Spannungsfeld zwischen nationaler und europäischer Ebene: Man weiß nicht genau, wer wofür zuständig ist, und es ist nicht für jedermann augenscheinlich, dass keine Entscheidung ohne uns getroffen wird. Für 28 Staaten ist es schwierig, einen Konsens zu finden. Aber die Bürger erwarten, dass auf große Herausforderungen schnell reagiert wird.«

Österreichische Einwürfe
Institutionen wie Schmidts Gesellschaft für Europapolitik könnten dazu beitragen, den Bürgern die EU näherzubringen. Haben aber nur begrenzte Möglichkeiten. »Wir tun, was wir können, sind aber nicht groß. Die Politik ist gefordert. Es wäre Aufgabe der österreichischen Bundesregierung, eindeutig Stellung zu beziehen und zu kommunizieren, welchen Beitrag Österreich leistet. Aber es überwiegen nationale Debatten.“ Wobei der österreichische Beitrag gesamteuropäisch gesehen de facto eher gering ist. Regiert wird Brüssel am Ende des Tages weiterhin von der starken französisch-deutschen Allianz, viele behaupten ohnehin, Angela Merkel alleine sei die heimliche Chefin. Dennoch ist es ein Verdienst des EU-Beitritts, dass auch Österreich Gehör findet – zumindest rudimentär. Wie das aussieht, lässt sich anhand einer Anekdote eines Gipfeltreffens Ende Juni 2012 erklären, die Cerstin Gammelin und Raimund Löw in ihrem Buch »Europas Drahtzieher« beschreiben. Gipfeltreffen sind jene Zusammenkünfte, in denen der Europäische Rat – also die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsstaaten, der Präsident des Europäischen Rats sowie der Kommissionspräsident – aufeinandertreffen, um Einigungen über aktuelle Themen zu erzielen. Jeder Staat hat dabei seine Interessen, jeder Teilnehmer seine Meinung. Das führt dazu, dass Menschen wie Werner Faymann spätnachts aus Sitzungsmarathons an die frische Luft gelangen und ihre Müdigkeit nicht verstecken können. Weil sie stundenlang verhandelt haben. Wenn auch nur über einen Absatz.

Eigentlich sind an diesem Frühsommer-Abend die Euro-Krise und die bevorstehenden Staatsbankrotte Spaniens und Italiens Thema. Doch unter dem Punkt »Sonstiges« wird über Europas Atomkraftwerke debattiert. Die Frage lautet: Sind die Stresstests, die nach der Katastrophe von Fukushima durchgeführt wurden, abgeschlossen oder nicht? Großbritanniens Premier David Cameron sitzt verärgert in der Runde, weil er neue Kernkraftwerke in seinem Land plant und das Thema von einer europäischen Ebene weglenken will. »Sicherheit ist nationale Kompetenz«, sagt er. Werner Faymann hält davon wenig. Er fordert, das Wort »Abschluss« aus dem Absatz zu nehmen und verweist auch auf Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso, der in einem Brief geschrieben habe, dass die Arbeit noch nicht abgeschlossen sei. Barroso unterstützt Faymann. Der slowakische Premier Robert Fico und sein tschechisches Pendant Petr Necas lehnen sich dagegen auf. Die Stresstests in ihren Ländern seien mit hervorragenden Ergebnissen beendet, also eben abgeschlossen worden. Jeder hat eben seine nationalen Interessen. Am Ende steht ein Kompromiss, vorgetragen vom Präsidenten des Europäischen Rats, Herman van Rompuy. Ein verkausalisierter Absatz voller Unklarheiten, den der EU-Bürger gar nicht mehr verstehen kann. Die Quintessenz ist der erste Satz: »Der Europäische Rat fordert die Mitgliedsstaaten auf, die vollständige und fristgerechte Umsetzung der Empfehlung sicherzustellen, die in dem Bericht enthalten sind, den die Gruppe der europäischen Aufsichtsratsbehörden für nukleare Sicherheit im Anschluss an die Stresstests im Bereich der nuklearen Sicherheit vorgelegt hat.« Außerdem ist von »weiteren Arbeiten« und der Absicht »im weiteren Verlauf dieses Jahres eine umfassende Mitteilung vorzulegen« die Rede. Das klingt kompliziert. Ist es auch – genau so wie es die Gespräche waren. Anekdoten wie diese zeigen, dass die EU oft nicht bewusst unnahbar wird, sondern als logische Folge einer Situation, in der viele Menschen mit vielen Meinungen und noch mehr nationalen Interessen aufeinanderprallen.

Vielleicht ist das auch der Grund für die Diskussionen um ein anderes großes Thema Europas, das seit Monaten stark in der Kritik steht. Das TTIP, das transatlantische Freihandelsabkommen, soll Handelshemmnisse zwischen Europa und Nordamerika abbauen. Wie genau, weiß allerdings niemand. Anstatt klar zu kommunizieren, wird ein viel zu langes Dokument im Internet veröffentlicht, das Bedenken nur noch mehr schürt und das Verdachtsmoment, dass hier die Big Player der Weltwirtschaft noch größer werden möchten, aufkommen lässt. »Ein internationaler Ökonom wie ich müsste ein solches Abkommen eigentlich mit großem Jubel begrüßen«, meint Jörn Kleinert von der Universität Graz. »Aber selbst wenn die Studien zum TTIP auf höchstem Niveau quantifizieren, was es bringt, glaube ich sie nicht. Es heißt natürlich dennoch nicht, dass es nicht ein Gewinn sein kann für unsere Gesellschaft. Ich bin nur skeptisch.« Vor allem aufgrund einer Facette: »Im Punkt des Schiedsgerichtes wäre eine richtige Debatte notwendig. Denn ich bin eigentlich überzeugt davon, dass wir in Europa und in Nordamerika ordentliche Gerichte haben.« Das TTIP würde vorsehen, eine eigene Gerichtsbarkeit als höchste Instanz etwa über dem Europäischen Gerichtshof akzeptieren zu müssen.

Die »Vereinigten Staaten von Europa«
Gedanken an das TTIP führen unweigerlich zum Vergleich der EU mit den USA. Von George Washington im 18. Jahrhundert bis hin zu Victor Hugo und einem schottischen Schriftsteller namens Charles Mackay im 19. Jahrhundert ranken sich viele Mythen um den Erfinder des Begriffs der »Vereinigten Staaten von Europa«. Fest steht, dass er schon viel länger verwendet wird, als in Europa über Staatenbündnisse nachgedacht wird. Ob die deutsche Politikerin Ursula von der Leyen, der Ökonom Hans-Werner Sinn oder zuletzt die Neos – fast im Monatstakt überbieten sich Meinungsbilder auch heute mit der Forderung nach europäischen Vereinigten Staaten in Anlehnung am amerikanische Vorbild. Doch so sehr man sich von dieser Idee auch treiben lässt, dass die EU zu dem werden könnte, was die USA sind – der Vergleich zum Vorbild USA hinkt nicht nur aufgrund der anderen Bezeichnung.

Als am 17. September 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika unterschrieben wurde und sich 13 Gründerstaaten zusammenschlossen, dauerte es fast drei Jahre, bis sich mit Rhode Island der letzte Bundesstaat in einer Abstimmung für den Staatenbund entschied. Kalifornien ganz im Westen des Kontinents wurde etwa erst am 9. September 1850 Mitglied. 63 Jahre später. Die Geschichte der Europäischen Union begann mit der vom französischen Außenminister Robert Schumann vorgeschlagenen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit sechs Gründungsmitgliedern im Jahr 1951. Als das Bündnis schließlich mit den Verträgen von Maastricht zur EU wurde und zwölf Staaten umfasste, schrieb man das Jahr 1993. Wenn man diese Daten vergleichen möchte, hat die USA über 200 Jahre Vorsprung und dadurch vor allem eines: ganz andere Voraussetzungen. Während das historisch junge Nordamerika gemessen an seiner Größe eine vergleichsweise homogene, über Jahrhunderte gemeinsam gewachsene Gesellschaft politisch, institutionell und wirtschaftlich eint, sieht sich Europa vor allem mit nationalen Identitäten konfrontiert, bei jedem Gipfeltreffen augenscheinlich werden. Und in den Ländern selbst noch offensichtlicher sind. Allein der stolze Umgang mit der amerikanischen Hymne beweist, wie sehr sich der US-Bürger als Teil der USA sieht. Ein Österreicher kennt die Hymne »Ode an die Freude« von Ludwig van Beethoven, doch beim Singen von »Land der Berge« schwingt weitaus mehr Stolz mit als bei jener Melodie, die im Deutschen vom Text »Freude schöner Götterfunken« begleitet wird. Wir wissen, dass wir Europäer sind, aber eigentlich sind wir alle vielmehr Österreicher.

Wenn die EU greifbar wird
Doch die Tatsache, dass die EU keine USA wird, heißt auch nicht, dass sie deshalb dem Untergang geweiht ist. Die EU hat eine große Krise überstanden und wird weiterleben. Das glaubt auch Paul Schmidt, der noch mehr über das Stimmungsbild von Herrn und Frau Österreicher nach 20 Jahren Europäische Union weiß. »Den Euro empfinden 61 Prozent der Österreicher als sehr positiv. Das ist ein guter Wert, weil er in den letzten Jahren eigentlich Sündenbock für alles war.« Zum Sündenbock sei er vor allem deshalb geworden, weil er greifbarer als viele andere Dinge sei, die in der EU passieren. »Jeder hat den Euro in der Hand und jeder hat eine Meinung dazu.« Auch wenn vielerorts das Ende des historisch bedeutendsten Projekts unseres Kontinents proklamiert wird, glaubt Schmidt nicht daran. »Die Ankündigung des Todes der EU ist verfrüht.« Dennoch stehe die EU vor großen Herausforderungen. Schmidt nennt nur einige: »Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Förderung des Wirtschaftswachstums, die Ukrainekrise, die Energiepolitik sind ebenso Themen wie die digitale Herausforderung, die Flüchtlingsströme nach Europa oder der Klimawandel. Die Liste ist lang.«

Volkswirt Jörn Kleinert sieht das ähnlich und die Krise noch allgegenwärtig. »Auch wenn es Krisen in dieser Größenordnung nur einmal im Jahrhundert gibt, ist diese noch lange nicht überstanden. Ich habe das Gefühl: Wir wurschteln uns weiter und hoffen, dass das Wachstum irgendwann wieder anspringt. Das tun die Japaner aber zum Beispiel seit 20 Jahren.« Die Gefahr eines EU-Zerfalls sieht er durchaus. »Natürlich könnte die EU zerbrechen, aber es wäre eine Katastrophe..« Der entscheidende Faktor sei nach wie vor Griechenland. »Wenn sich Athen entscheidet, die Währungsunion zu verlassen, könnte das eine Eigendynamik auslösen. Denn auch in Italien und Spanien könnten sich dann Mehrheiten gegen den Euro bilden«, gibt Kleinert zu bedenken. »Aber das klingt zu negativ«, sagt er am Ende noch eindringlich. »Ich bin dennoch optimistisch. Optimistisch, dass wir zusammen als Union auch diese Krise bewältigen.«

Titelgeschichte Fazit 109 (Jänner 2015) – Illustration: Pedro el libre

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