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Der gespaltene Österreicher

| 30. April 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 112, Fazitthema

Illustration: Pedro el libre

Die Welt ist kompliziert, also wünscht man sich, mehr in Schwarz und Weiß denken zu können. Manchmal hat man dann das Gefühl, Österreich steht vor einer Spaltung seiner Gesellschaft. Dabei ist es ganz anders.

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Eigentlich sind solche Worte ja ein Gewinn. Als Andreas Gabalier Ende März bei den heurigen Amadeus Awards die Bühne betrat und diesen eher bedeutungslosen Preis für den besten Live-Act des Jahres einer noch bedeutungsloseren Veranstaltung entgegennahm, entschied er sich dafür, nicht nur zu danken. Also belanglos viel zu reden. Sondern auch etwas zu sagen. Man kann sich dieses Video zigmal online anschauen und zunächst gar nicht recht bemerken, ob denn etwas passiert ist. Aber ja, ist es.

Es ging um einen Satz. Um Manderl und Weiberl. Und wie schwer es das Manderl heutzutage hätte, wenn es noch auf Weiberl stehen würde. Und dann wurde er beschimpft. Aus dem Publikum heraus. Und der Volks-Rock’n’Roller fühlte sich so unverstanden, dass er Toleranz einforderte. In den folgenden Tagen überschlugen sich Journalisten, Meinungsbilder und Hobbyschreiberlinge mit Kommentaren, die so schwarz und weiß waren, dass sie etwas plakativ gedacht eine Frage aufwarfen: Droht die erste Spaltung Österreichs seit dem Bürgerkrieg der Zwischenkriegsjahre, wo sich Christlich-Soziale und Konservative, Arbeiter und Sozialisten sowie Deutschnationale feindlich gegenüberstanden? Natürlich nicht. Wir haben ja auch viel größere Probleme auf dieser Welt, die im Mittelmeer, in Kärntner Banken oder auf hungernden Kontinenten zu finden sind. Aber sind wir dennoch ein Land zwischen Conchita Wurst und Andreas Gabalier? Liberales Selbstverständnis vs. Erhalter der traditionellen Normativität? Progressiv vs. konservativ? Und wer war nun eigentlich intolerant? Der Progressive, weil er den Rückständigen nicht verstehen will, oder der Konservative, weil er um die traditionellen Werte seines Landes fürchtet? Und überhaupt: Ist Toleranz, also Duldung, das richtige Wort, und wäre es nicht richtiger, von Verständnis zu sprechen? Und zwar für beide Seiten?

Man darf ja wohl noch?
Denn die Frage ist doch viel mehr: Darf man einen Popstar mit traditionellen Werten, dem die gesellschaftliche Liberalisierung offensichtlich zu schnell geht, verurteilen? Und darf man eine Frau mit Bart noch komisch finden und sich klassische Mann-Frau-Trennung wünschen? Oder darf man sich einfach wünschen, dass politische Korrektheit nicht nur als sperriger Begriff vorherrscht? Der Ton macht jedenfalls die Musik. Und selbst rhetorische Fragen mit dem Wort »dürfen« sind schon wieder falsch. Es ist das Hauptargument von Meinungsbildern, die sich der akzeptierten öffentlichen, liberalen Meinung entgegenstellen: »Man darf ja wohl noch.« Ja, man darf. Aber es geht um mehr. Um Gleichheit. Um Horizonte. Um Vielfalt. Vor allem um Menschenrechte. Und auch um Freiheit oder Demokratie. (Wobei vor allem Letztere nicht mit »dürfen« verunglimpft werden darf.) Nicht einmal ein Schweizer wird heute mehr ernsthaft in Frage stellen, ob Frauen wählen gehen sollen. Kein Amerikaner wird in Frage stellen, was vor ein paar Jahrzehnten abnorm war: Dass auch dunkelhäutige Landsleute mit ihnen im Bus sitzen. Wenn sich aber dann Andreas Gabalier als heterosexueller Mann verfolgt fühlt, muss man sich fragen, ob er das ernst meint. Weil es ein Rollentausch ist, den man nicht mehr tolerieren kann. Wenn Homosexuelle seit Jahrzehnten darum kämpfen, nicht als krank zu gelten, kann man sich nicht ernsthaft als Opfer sehen. Das hat nichts mit linker oder rechter Einstellung zu tun. Und was ist denn eigentlich normal? Es ist normal, dass Menschen mit Veränderungen Probleme haben. Und bei uns ändert sich gerade viel. Aber noch normaler ist, dass wir nicht auseinanderrücken, sondern eigentlich immer näher zusammen.

Der Graben zwischen Wurst und Gabalier
Denn es geht nicht nur um unterschiedliche Meinungen und Auffassungen, sondern noch mehr um Werte. Um Werteverfall oder Wertewandel. Und wenn es nicht der Ton ist, dann macht eben die Wortwahl den Unterschied: Ob man Werte eher hysterisch »verfallen« oder mehr unaufgeregt »im Wandel« sieht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles verschwimmt. Die Norm ist nicht mehr, klar links oder richtig rechts zu sein. Jeder pflückt sich seine Werte raus. Manchmal hat man das Gefühl, die Masse sei eigentlich Mitte-Mitte und kurz vor der Wahl schweift man aus irgendeiner Kleinigkeit heraus in eine Richtung. Die Parteien nähern sich thematisch immer mehr an und es gibt eigentlich kein Schwarz und Weiß mehr (siehe auch Interview mit dem Soziologen Max Haller). Wahrscheinlich reden wir deshalb so lange über einen Graben zwischen Wurst und Gabalier, weil die Menschen sich auch nach einer einfacheren Diskussion sehnen. Denn es wäre doch viel weniger anstrengend, wenn es immer so wäre: Ich bin dafür oder dagegen. Aber einfach ist es eben nicht. Kein Genderdiskussion, keine Flüchtlingsdiskussion, Wirtschaftskrise oder Migrationswelle.

Und doch ist eben wieder simpel. Und dafür muss man nur ein Beispiel bemühen: Wer nicht für uneingeschränkte Aufnahme von Asylwerber ist, ist lange kein Ausländerhasser. Nicht jeder PEGIDA-Anhänger ist ein Nazi und auch Josef Hader ist nicht FPÖ-Parteimitglied, wenn für ihn der Wert der Gewaltfreiheit über allem steht und er deswegen erst unlängst sagt: »Ich bin gefragt worden, ob ich in Wien bei einer Aktion gegen den Akademikerball mitmachen möchte. Ich habe ›Nein‹ gesagt.« Auch hier auf diesem Papier muss ein Nein stehen. Nein, die österreichische Gesellschaft ist nicht gespalten, der Österreicher selbst ist gespalten. Es gibt so viel Freiheit und Selbstbestimmung, dass man von einer »Beliebigkeitsgesellschaft« sprechen könnte wie einst Kardinal Christoph Schönborn. Jeder fügt für sich Werte zusammen und baut sich seine eigene Welt – und die meisten Menschen sogar nach bestem Wissen und Gewissen. Denn schaden soll diese Welt möglichst niemandem. Der amerikanische Soziologe David Riesmann beschrieb dieses Phänomen schon 1958 in »Die einsame Masse«. Nicht mehr die Verwirklichung allgemeiner Werte, sondern konfliktfreies Zusammenwirken steht im Zentrum.

Die Bootsfahrt
Nein, wir bekommen keinen neuen Bürgerkrieg in Österreich. Aber es regt sich etwas in der österreichischen Gesellschaft. Und man kann nicht nur viel reden wie diese Preisträger bei Galen und nichts dabei sagen. Man kann auch viel schreiben und nichts dabei sagen, außer: Alles ist in Bewegung. »Alles fließt und nichts bleibt – es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln«, sagt schon die Flusslehre von Heraklit. Am Ende des Tages fließen wir gefühlt in eine immer liberalere Welt. Und dürfen auf Flussfahrt nicht verurteilen – egal ob wir im schnelleren oder langsameren Boot sitzen. »Sobald ich andere verurteile, weil sie etwas anders machen als ich, bin ich ein Arschloch«, hat ein anderer Mann einmal gesagt. Kein Philosoph, aber ein Mensch, der gerne und berechtigt von einer »gültigen Stimme« spricht, die jeder Bürger hat: Es war Roland Düringer im Fazitgespräch unserer März-Ausgabe. In diesem Sinne: Danke für den Song Contest in Wien, Conchita. Danke für Volks-Rock’n’Roll, Andreas. Ist beides irgendwie ein Gewinn. Oder auch nicht. Eigentlich ist Tom Neuwirth ein gescheiterter Castingshow-Sänger, dessen gute Stimme gepaart mit einem Mittelklasse-Lied und einem besonders schrillen Auftritt uns einen Anflug von Patriotismus bescherte. Und gleichzeitig eben mittlerweile viele nervt. Aber irgendwann redet wahrscheinlich keiner mehr darüber. Denn er ist kein Künstler der Marke Udo Jürgens. Und Andreas Gabalier ist ein gescheiterter Jus-Student, der mit seiner etwas anderen Art der Volksmusik gerade modern ist. Ja, interessanterweise vielleicht sogar ein bisschen progressiv. Aber auch bei Weitem kein Künstler wie Hubert von Goisern. Aber auch das ist nur eine Meinung. Bitte um Toleranz. Oder besser: Verständnis. Auch hier schreibt nur einer dieser gespaltenen Österreicher.

***

Interview mit Max Haller
»Die Menschen wollen sich weniger festlegen«

Max Haller ist Soziologe an der Karl-Franzens-Universität in Graz.
Ein Interview über Spaltungen, Werte und Toleranz.

Herr Haller, tut sich eine Schere auf in der österreichischen Gesellschaft zwischen Liberalen und Konservativen, wie das plakative Beispiel der Diskussion rund um Andreas Gabaliers Auftritt beim Amadeus-Award vermuten lässt?
Nein, ich sehe das nicht unbedingt. Man muss unterscheiden zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie wirklich tun. Zum Beispiel sind alle gebildeten Schichten für die Integration der Ausländer, stecken ihre Kinder aber dennoch nicht in Schulen, in denen viele Migranten sind.

Aber es gibt Menschen, die sich traditionelleren Werten verpflichtet fühlen, und andere, die liberaler denken. Also erleben wir einen Wertewandel?
Der Wertewandel ist in diesem Zusammenhang irreführend. Es gibt nicht neue und alte Werte, sondern es verschiebt sich ein bisschen. Viele Studien zeigen, dass Pflichterfüllung, Gehorsam und Pünktlichkeit früher wichtig waren. Das ist heute nicht mehr der Fall. Es gibt mehr Autonomie, aber viele Werte sind dennoch weiter wichtig. Auch bei den Jungen, die sehr wohl sagen, dass sie treu sein wollen und eine Familie anstreben. Denn die Freizeit bringt nicht viel, wenn ich sie alleine verbringen muss. Wenn man es politisch betrachtet, wollen Menschen sich weniger festlegen und treten seltener Parteien oder Organisationen bei. Dieses klassische Schema der Arbeiterklasse, die sich der SPÖ und der Gewerkschaft anschließt, nimmt ab. Die Parteien rücken zusammen, die Programme sind nicht mehr so unterscheidbar. Die Sozialisten wollen nicht mehr verstaatlichen, die ÖVP ist bereit, die höheren Einkommen mehr zu versteuern.

Wie sehen Sie die Aufgabe der Politik in Diskussionen über gesellschaftliche Veränderungen?
Wenn etablierte Parteien Ängste nicht thematisieren, entstehen sie erst. Es ist etwa ein Problem, dass die beiden großen Parteien in Österreich die Ausländerfrage immer weitestgehend totschweigen. Sie selbst verlieren dadurch Anhänger, weil Gruppen ausgegrenzt werden. Ich bin Südtiroler und in Italien haben die Christ-Demokraten mit den Sozialisten bis in die 1980er die Regierung gebildet und die Kommunisten nicht in die Regierung genommen, die mit fast einem Drittel der Wähler sehr stark waren. Die Folge war, dass sich die Korruption ausgebreitet hat. Es gab einen Korruptionsskandal und die beiden Parteien gibt es heute nicht mehr. Die Gefahr besteht in Österreich auch. Es passiert bereits, dass SPÖ und ÖVP Stimmen verlieren, während die FPÖ immer stärker wird.

Das Lieblingsthema der FPÖ sind Ausländer. Wie sehen Sie den Umgang mit Migranten in der österreichischen Gesellschaft?
Wir haben im Europavergleich einen hohen Ausländeranteil und trotzdem sind Ausländer im Großen und Ganzen gut integriert. Es gibt Umfragen, bei denen 90 Prozent sagen, dass sie sich wohl fühlen. In Deutschland und Frankreich, sogar in Schweden gab es Krawalle und Auseinandersetzungen mit Ausländern. Ich glaube, dass es in Kleinstaaten weniger harte Auseinandersetzungen gibt. Außerdem ist der gute Sozialstaat ein Grund dafür, und es gibt eine gewisse Tradition, dass man offen ist gegenüber Ausländern, nämlich aus der Monarchie mit dem Vielvölkerstaat heraus. Andererseits gibt es einen weiteren Grund dafür, dass Vorurteile auftauchen und politisch relevant werden: die gesamte wirtschaftliche Lage. Wenn man die Zuwanderung in den 60er- oder 70er-Jahren in Österreich betrachtet, war sie überhaupt kein Problem, sondern ganz im Gegenteil sehr positiv. Die Wirtschaft ist gewachsen und es gab Vollbeschäftigung. Heute herrscht hohe Arbeitslosigkeit und das Thema wird zum Problem.

Ist es nicht einfach so, dass nicht jeder Mensch sofort jede Veränderung tolerieren kann?
Es wird natürlich heute viel toleriert, was vor 30 Jahren noch nicht toleriert wurde. Eine Frau mit einem unehelichen Kind war früher stigmatisiert, heute bekommen die meisten jungen Paare Kinder vor der Ehe und es ist völlig akzeptiert. Politisch relevant wird es dann, wenn sich Gruppen zusammenschließen. PEGIDA ist noch eine lockere Bewegung, aber wenn eine Partei sich bestimmte Parolen zu eigen macht und ich mich dort zugehörig finde, verhärten sich Fronten. Das kann links und rechts sein.

Dann könnte sich die Gesellschaft spalten.
Vielleicht. Aber für die von Ihnen angesprochenen Phänomene in Österreich ist der Begriff der Spaltung zu hart. Eine gespaltene Gesellschaft ist eine, in der sich verschiedene Gruppen eher feindlich gegenüberstehen. Vorurteile, ja sogar Gewalt an der Tagesordnung stehen. So etwas gibt es derzeit in Libyen, vielleicht auch in Italien mit dem Norden gegen Süden. Bei den heutigen unterschiedlichen Werte verschiedener Gruppen müsste man eher von einer Vielfalt, einem Mosaik oder einem Nebeneinander sprechen.

Titelgeschichte Fazit 112 (Mai 2015) – Illustration: Pedro el libre

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