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Europa ist eine historische Anomalie

| 29. Juli 2015 | 1 Kommentar
Kategorie: Essay, Fazit 115

Foto: Archiv

Ein Essay von Manfred Prisching. Ein Kontinent zwischen späteuropäischem Paradies und posteuropäischer Apokalypse? Manfred Prisching bringt in Erinnerung, dass Europa Elemente der Zivilisation hervorgebracht hat, die großartige Errungenschaften für die ganze Menschheit sind.

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Mag. Dr. Manfred Prisching ist Universitätsprofessor und Autor. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. 1985 wurde er habilitiert und ist als Dozent und seit 1994 als Professor an der Karl-Franzens-Universität tätig. 1997-2001 war er wissenschaftlicher Leiter der steirischen Fachhochschulen. Prisching ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Herausgeber der Reihe »Sozialethik«. manfred-prisching.com

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Lobreden auf Europa gibt es viele. Sie sind mit mehr oder weniger pathetischen Zitaten aus dem geistigen Erbe des Abendlandes angereichert und tauchen den ehrgeizigen Versuch, die europäischen Länder in eine neue »Gemeinschaftlichkeit« zu führen, in das hellste Licht. Man sagt üblicherweise dazu: »Erfolgsgeschichte«. Freilich sind auch die gegenteiligen Behauptungen nicht so selten, gerade in der gegenwärtigen Epoche. Ihnen zufolge ist nichts wirklich gelungen, die Wirtschaftskrise war schon schlimm genug, und in Anbetracht britischer Verweigerer und griechischer Rabauken befindet sich das Gemeinschaftsunternehmen im Zusammenbruch.

Es könnte noch schlimmer kommen: Die USA und Russland streiten über die europäischen Köpfe hinweg und könnten Europa in einen heißen Krieg verwickeln. Alltäglich sagt man zu einer solchen Situation: »Pfusch«. – Politische Schwarz-Weiß-Gemälde sind nun allerdings fast immer Wirklichkeitsverzerrungen, und in Abgrenzung zu beiden extremen Versionen, dem späteuropäischen Paradies und der posteuropäischen Apokalypse, kann man sich vergewissern, warum Europa (in seinem gegenwärtigen Zustand) als schön betrachtet werden kann: als ein unter Bedachtnahme auf alle historischen und globalen Vergleiche wundersames Land, als eine positive Anomalie in der historischen Entwicklung.

Man kann die Feststellung dieser Anomalie durch die Fragestellung ergänzen, ob man sich in Würdigung aller Entwicklungen damit zufriedengeben sollte, einen stolzen Blick auf Vergangenes zu werfen und den Niedergang Europas – vielleicht gar nicht in Form eines dramatischen Zusammenbruchs, sondern eher in der Gestalt einer voraussehbaren Erosion im Laufe des nächsten Jahrhunderts – als schicksalhaftes Geschehen hinzunehmen.

Nicht selten besteht die verderbliche List der Geschichte ja darin, dass Völker, Nationen oder Kulturkreise ihrer eigenen Errungenschaften nicht mehr eingedenk sind, dass ihnen diese Erfolge vielmehr so selbstverständlich und alltäglich geworden sind, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen und deshalb auch nicht wertgeschätzt werden. Die Völker und Menschen haben dann vergessen, wie es in der Geschichte gewesen ist; sie können sich nicht vorstellen, dass es anders sein könnte als in der Gegenwart; und sie gehen deshalb leichtsinnig mit diesen kulturellen Beständen um. Man nennt das dann: »Dekadenz«. Es ist deshalb in Erinnerung zu bringen, dass Europa Elemente der modernen Zivilisation hervorgebracht hat, die großartige Errungenschaften für die ganze Menschheit sind. Ich beschränke mich auf vier Bilder: das denkende, das friedliche, das respektvolle und das reiche Europa.

Diese Adjektive klingen zu schön, um wahr zu sein, und natürlich muss man zugeben, dass es sich in der Tat insofern um eine Beschönigung handelt, als die gegenwärtige Epoche zwar aus einer langen Geschichte herausgewachsen ist, in der diese Gegenwart, in Versuch und Irrtum, in Fortschritt und Rückschlag, entfaltet wurde, aber auch aus einer Geschichte, auf die man nicht so stolz sein kann wie auf die europäische Gegenwart. Europa ist durch Jahrhunderte von Gewalt hindurchgegangen, bis es so weit gekommen ist, dass es sich zur Friedlichkeit entschlossen hat.

Es war ein blutrünstiger Kontinent, mit Völkern, die alle paar Jahre, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, übereinander hergefallen sind. Wir haben schließlich auch gerade erst das »Jahrhundert der Extreme« hinter uns gebracht, in der die Vernichtungslogik noch einmal eine ungeahnte Steigerung erfahren hat. Aber diesmal wollen wir von den schöneren Seiten der Gegenwart sprechen – vom gegenwärtigen Zustand Europas, der eine atemberaubende geschichtliche Besonderheit darstellt.

1. Das denkende Europa

Wenn wir zurückblicken, so sehen wir eine Entwicklung des europäischen Geistes, die von der Dumpfheit zur Reflexivität führt. Dieser Prozess hat lange gedauert; denn auch wenn wir durch die Jahrhunderte mit Stolz die römischen Amphitheater und die gotischen Kathedralen sehen, so war doch der größte Teil der Bevölkerung dieses Halbkontinents in einen brutalen und engen ländlichen Alltag gebunden, mit einem beschränkten Horizont, weitgehend zur Sprachlosigkeit verdammt, ohne Wissen und Information, dem Aberglauben ebenso ausgeliefert wie der Willkür des Machthabers, beschäftigt mit dem schlichten Überleben.

Aber Europa hat im Laufe der Jahrhunderte gleichwohl Reflexivität geschaffen: Denkfähigkeit, Argumentierfähigkeit, Analysefähigkeit, intellektuelle Nüchternheit. Das Prinzip, auf der Grundlage des Wissens und Argumentierens, der Theorie und Empirie, der Neugierde von Forschern und Experimentatoren die Welt und sich selbst erkennen zu können und zu wollen, ist keine Selbstverständlichkeit. Da gab es durch die Jahrhunderte hindurch Fortschritte und Irrtümer, aber auch durchwegs beeindruckende Beiträge: die philosophischen Überlegungen über Platons Schatten an der Wand; die spitzfindigen römischen Juristen und die scholastischen Theologen; den besonnenen Edmund Burke und den zynischen Voltaire; und tausend andere. In einem langen Prozess, in Wort und Widerwort, ist man vom Mythos zur rationalen Metaphysik und schließlich zur modernen Nüchternheit gelangt.

Die Idee Europas ist eine »Vernunftkultur«, d. h. eine Mentalität, die sich von mythischen Vorstellungen löst und religiösen Vorstellungen ihren angemessenen Platz zuweist. Es ist eine Kultur der diskursiven Auseinandersetzung und der Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit. Das westliche Christentum hat sich früh auf eine im Diesseits zu bewährende Moral festgelegt, im Unterschied zu mythologischen Weltdeutungen, zu christologischen Spekulationen des Byzantinismus, zu einem Individualismus der Innerlichkeit. Damit wurden auch magische Elemente zurückgedrängt, in Anknüpfung an die rationale Scholastik des westlichen Abendlandes, die im östlichen Bereich fehlte.

Das Gegenstück drängt sich in diesen Jahren auf: die religiöse Orthodoxie im islamischen Raum. Die Verpflichtung auf eine enggeführte und dogmatische Lesart des Koran und die theokratische Konfiguration der islamischen Gesellschaften haben den Niedergang der arabischen Welt seit dem zwölften Jahrhundert, vor allem seit dem Beginn der Neuzeit bewirkt. Die geistige Selbstbeschränkung wird neuerdings wieder forciert; und die Gefühle des Versagens werden in aggressiver Haltung nach außen projiziert. Europa war hingegen durch Jahrhunderte mit der Erfahrung konfrontiert, dass einander geistliche und weltliche Macht bekämpft haben, dass von vornherein der Dualismus divergierender Ideen und Ansprüche bestanden hat, dass einander die konkurrierenden Mächte allein schon durch ihre Konfrontation relativierten. Staat und Gott sind nicht dasselbe. Dadurch ist eine, wie auch immer bewusste oder unbewusste, Option für Freiheitsspielräume und Rationalitätsvarianten eröffnet worden.
2. Das friedliche Europa

Europa bietet rund um die Schwelle zum dritten Jahrtausend ein friedvolles Bild. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden die entscheidenden Schritte getan von der Gewaltsamkeit zur Zusammenarbeit. Wenn wir einige Jahrhunderte in die Geschichte zurückblicken, dann sehen wir auch in Europa eine gewalttätige Gesellschaft. In der alten Zeit war der Tod ohnehin immer gegenwärtig, schon wegen der Krankheiten und Unfälle, denen man weitgehend ausgeliefert war; aber man musste auch jeden Tag damit rechnen, dass bewaffnete Banden aus dem Wald hervorbrechen würden, Räuber oder Armeen, weil gerade ein Krieg herrschte, von dem man nichts wusste, mit Brandschatzung, Vergewaltigung und Folterung. Es war eine Gesellschaft der starken Gefühle, und es herrschte eine gewisse Freude an der Gewalt. Öffentliche Hinrichtungen waren im Mittelalter Volksfeste auf dem Marktplatz; und die Kinder setzte man auf die Schultern, damit sie besser sehen konnten. Familiäre Gewalt war der Normalfall, nicht nur die Züchtigung von Kindern; persönliche Übergriffe gegen Frauen und sexuelle Übergriffe gegen das Dienstpersonal waren üblich. Europa hat einen langen Entwicklungsprozess vollzogen, in dem es sich von dieser gewalttätigen Mentalität distanziert hat.

Mittlerweile, nach der Klimax der Gewalt in der Mitte des letzten Jahrhunderts, dem Höhepunkt der Selbstvernichtung, haben die Europäerinnen und Europäer eine hohe Sensibilität entwickelt. Europa ist sich einig in der Ablehnung der Todesstrafe; vermeintliche und wirkliche Verbrecher werden nicht ausgepeitscht, nicht gesteinigt, nicht zu Tode gefoltert. Verstöße gegen einen solchen Konsens gibt es immer, wie gegen alle rechtlichen Bestimmungen, aber es gibt keinerlei öffentliche Legitimation dafür. In den letzten Jahrzehnten wurde auch eine erhöhte Sensibilität bei der Gewalt gegen Kinder und Frauen erarbeitet. Und auf der Makro-Ebene verfügen wir immerhin über die Erfahrung der politischen Friedlichkeit des letzten halben Jahrhunderts. Viele haben deshalb das Gefühl entwickelt, dass es in Europa gar keinen Krieg mehr geben könne. Für die »großen Kriege«, wie sie noch in den letzten beiden Jahrhunderten gängig waren, ist diese Vermutung vielleicht berechtigt. Allerdings haben wir gerade zu der Zeit, als sich diese Friedlichkeitsvermutung verfestigt hat, auch den Balkankrieg erlebt, samt seinen Kriegsverbrechen, und eine leichte Irritation im Hinblick auf die »ausweglose Friedlichkeit« erfahren. Die Ostukraine dünkt uns weit weg. Wir leben in »friedlichen Zeiten« – das ist in Erinnerung an die letzten Abendnachrichten und mit dem Blick auf den Nahen Osten ein paradoxer Befund.

Ohne alle diese gewalttätigen Erfahrungen und ihre Begleiterscheinungen werden wir alt. Wenn man einen einzelnen Indikator für die Qualität und den Lebensstandard einer Gesellschaft verwenden möchte, dann ist die Lebenserwartung eine sehr brauchbare Messgröße (viel brauchbarer als das Sozialprodukt). Die Lebensbedingungen (von der Nahrungsversorgung über die Hygiene bis zu den medizinischen Kenntnissen) haben sich in den europäischen Ländern so verbessert, dass diese Standards dazu beitragen, im Rahmen einer friedlichen Ordnung eine schier unglaubliche Lebenserwartung zu ermöglichen, in die Normalität der achtziger und neunziger Jahre des Lebenszyklus hinein, und diese Lebenserwartung steigt noch immer, etwa drei Monate pro Jahr.
Freilich gilt auch für die festgestellte Friedlichkeit im europäischen Raum, dass es leichtsinnig wäre, sich auf solche Dispositionen und Gegebenheiten allzu leichtsinnig zu verlassen. Das Eis der Zivilisation ist dünn, und in außerordentlichen Verhältnissen, wenn der äußere gesellschaftliche Rahmen zerbricht, wie bei kriegerischen Ereignissen, sind die Menschen zu allen Gewalttaten fähig. Es gibt genug Psychopathen und Abenteurer; so wie viele von ihnen, die jetzt in den Nahen Osten ziehen, um etwas zu »erleben«. Wir dürfen uns vorderhand eines zuverlässigen Rahmenwerks erfreuen, aber niemand weiß, was geschieht, wenn der Rahmen brechen sollte.

3. Das respektvolle Europa

Europa hat eine Kategorie des Respekts entwickelt und formalisiert: eine Entwicklung von der Grausamkeit zur Menschenwürde. Die Geschichte liefert horrible Bilder der Entwürdigung, Versklavung und Beleidigung – denn das waren die Selbstverständlichkeiten des Lebens: die Verachtung der Untertanen, die man in beliebiger Weise drangsalieren, demütigen und quälen konnte.

Der Respekt vor dem Individuum, den Europa (mit seinen Ablegern, insbesondere Amerika) entwickelt hat, mündet in die Idee einer Menschenwürde, die unterschiedslos allen Menschen zukommt. Diese Idee ist im Christentum verwurzelt, mit seiner Idee einer Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Idee einer unzerstörbaren Seele. Wenn jeder Mensch ein (schwaches) Abbild Gottes ist, ist es eine Sünde, auf ihm herumzutrampeln. Wenn in jedem Individuum ein Hauch von Gottes Geist gegenwärtig ist, darf man von jedem Einzelnen etwas erwarten. Aber es hat auch in Europa ziemlich lange gedauert, bis diese Idee (in Form von Menschenrechten) sich im Bewusstsein der Menschen »selbstverständlicht« hat.

Damit steht die in Europa entwickelte Idee einer demokratischen Ordnung in Zusammenhang: die Willkür des Herrschers zu begrenzen. Europa hat in jahrhundertelanger Diskussion darum gerungen, wie man eine solche Herrschaftskontrolle gestalten kann, ohne ein soziales System – durch die wechselseitige Blockade aller Mächte – unregierbar zu machen. Zu den Quellen für solche Ideen zählt die Tradition von Ständen, die (auch den Herrschern gegenüber) nicht rechtlos waren, die nicht durch unübersteigbare Schranken voneinander getrennt waren und die eine Repräsentanz im hierarchischen Gebilde fanden. Auch Städte als Institutionen mit anerkannten Rechten gab es, mit wenigen Ausnahmen, nur im Abendland. In Europa ist in die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Entscheidung die römische Tradition ebenso eingegangen wie das Gewohnheitsrecht der germanischen Stämme, aber die Aufklärungsphilosophen haben diese Idee ausformuliert, die Engländer haben pragmatische Schritte gesetzt.

Die Idee, den Herrscher auf begrenzte Zeit zu wählen, wird ergänzt durch Ideen der Rechtsstaatlichkeit und der Liberalität. Rechtsstaatlichkeit ist, im historischen Kontext betrachtet, eine ungeheuerliche Idee: das Prinzip, dass auch die Herrschenden an Gesetze gebunden sind, dass sie nicht tun können, was sie wollen. Manchen Kulturen kommt das bis in die Gegenwart absurd vor: Der Herrscher (religiös oder säkular) ist der Herrscher, und er kann deshalb tun, was ihm gefällt. Auch für diese Entwicklung ist der islamische Machtbereich ein illustratives Gegenstück: weil mehr oder weniger demokratische Ordnungen in allen Teilen der Welt zu finden sind, nur nicht dort. Das hängt mit religiös-fundamentalistischen Grundannahmen zusammen: Wenn Toleranz und Menschenrechte in bestimmten Interpretationen der Gegenwart als Verirrungen einer dekadenten und gottlosen (westlichen) Gesellschaft betrachtet werden, kann es logischerweise keine demokratische Ordnung geben.

Alle Religionen und Ideologien eignen sich, in unterschiedlicher Brauchbarkeit, für Dogmatisierungen, Totalisierungen und Massakrierungen. Das war der Fall beim Sozialismus (mit seinen vielen Millionen Opfern von Stalin bis Mao Tsetung, von Kambodscha bis Nordkorea), und auch im christlichen Europa hat man einst gedacht, Ungläubige einfach umbringen zu müssen. Doch seit solchen religiösen Deutungen sind ein paar Jahrhunderte vergangen; hingegen scheint der Weg zu einem hochkulturellen friedlichen Islam (auf dem Wege der Historisierung und Rationalisierung) noch weit zu sein. Ungefährdet freilich sind die europäischen Errungenschaften (sowohl die Demokratie, die Domestizierung der Machthaber als auch die Menschenwürde, der jedem zustehende Respekt) auch in Europa nicht; es beginnt mit korrupten, quasi-korrupten und nepotistischen Praktiken, setzt sich fort bei rechts- und linkspopulistischen Botschaften und führt in einen schleichenden Autoritarismus, wie am Beispiel Ungarns ersichtlich.

4. Das reiche Europa

Europa ist ein Luxusland. Es herrscht Wohlstand. Auch daran haben sich die Europäerinnen und Europäer gewöhnt, und sie haben fast vergessen, dass man durch die ganze Geschichte hindurch extreme Ungleichheit und Ausbeutung zu verzeichnen hatte. Karl Marx hat zwar gemeint, dass die Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe sei, aber die Kämpfe selbst waren immer nur kurze Perioden – in Wahrheit ist die Geschichte eine Geschichte der Ausbeutung. Die herrschenden Klassen (König, Adel, Kirche) haben abgeschöpft, was die Existenzsicherung der normalen Bevölkerung überstiegen hat. Für die Letztere war es durchwegs ein hartes Leben, gekennzeichnet von Aberglauben und Hoffnungslosigkeit.

In vielen Teilen der Welt ist es immer noch selbstverständlich, dass die Erlangung einer politischen Herrschaftsfunktion bedeutet: Jetzt kann man abschöpfen, abkassieren; schnell ein paar Konten in der Schweiz eröffnen. In elenden kleinen Staaten in Afrika (wie etwa in Swasiland) können Menschen verhungern, während das Staatsoberhaupt 100 Millionen Dollar in die Schweiz verschiebt – ohne schlechtes Gewissen, ohne Skrupel. Für weniger entwickelte Gesellschaften sind diese Bereicherungspraktiken der Normalfall, in den meisten europäischen Staaten ist der Kampf gegen die Korruption recht erfolgreich. Europa hat ein historisch unglaubliches Ausmaß an Wohlstand und Sicherheit geschaffen, eben nicht nur für eine privilegierte Klasse, sondern für den Großteil der Bevölkerung, insofern auch ein hohes Maß an Egalität; und es konnte die Abschöpfungspraktiken der herrschenden Klassen einigermaßen domestizieren. Wenn von Wohlstand und Luxus die Rede ist, so liegen die Standard-Einwände auf der Hand: Es gibt immer noch Armut, Exklusion, Diskriminierung, Obdachlosigkeit. Aber es gibt auch einen wohlfahrtsstaatlichen Rahmen, der viele Bedrängnisse mildert. Es gibt eine soziale Peripherie, doch sie kann nicht den materiellen Reichtum des Mainstreams dementieren.

Grundlegend für die wirtschaftlich-technische Dynamik Europas war die Herausbildung eines positiven Verhältnisses zur Arbeit, welche nicht nur als bittere, nach Tunlichkeit zu vermeidende Notwendigkeit gesehen wurde, als Angelegenheit der Sklaven, als unerfreuliche Konsequenz der Vertreibung aus dem Paradies; sondern als sinnerfüllte, ja zum Teil religiöse Arbeit an dieser Welt, als Teil des Schöpfungsauftrages, als Teilhabe an Gottes Werk. Schließlich hat auch der christliche Gott »gearbeitet« und am siebten Tag geruht. Aber letztlich war es insgesamt diese kulturelle Mischung, die eine europäische Dynamik ausgelöst hat: die positive Einschätzung von Vernunft und Arbeit, individuellem Recht und gemeinschaftlicher Pflicht, rechtlicher Bindung und politischer Mitwirkung, der Sicherung von Eigentum und der Beschränkung von Willkür. So ist die moderne Welt entstanden: als eine europäische Welt.

Dass technische Geschicklichkeit und wissenschaftliche Erkenntnis in dieser produktiven Weise umgesetzt werden konnten, hat den Unterschied Europas zu den großartigen Zivilisationen in Indien und China ausgemacht: Was sie an technischem Wissen hervorgebracht haben, konnten sie nicht in einen gesellschaftlich fruchtbaren, massenwirksamen Ertrag umsetzen. Dass dies in Europa gelungen ist, hat die zeitweilige Weltherrschaft Europas bewirkt. Errungenschaften wie die medizinische Versorgung und das saubere Trinkwasser sind zu Selbstverständlichkeiten geworden, die fast nirgends auf der Welt Selbstverständlichkeiten sind. Der Wohlstand bedeutet ja nicht nur Urlaub in der Karibik, sondern vor allem Lebenssicherheit: Wir müssen nicht von Woche zu Woche damit rechnen, das Zeitliche zu segnen, weil beispielsweise das Kinderkriegen eine grundsätzlich lebensgefährliche Sache ist. Und letzten Endes hat Europa sogar eine unglaubliche Menge an »Spielzeug« hervorgebracht, wie etwa Smartphones und Flachbildfernseher, ein großes Repertoire an Sportschuhen, eine überwältigende Welle an Textilien. Mit diesem Spielzeug können die infantilsten konsumistischen Verhaltensweisen ausgelebt werden, und das auf ganz unterschiedlichen Einkommensniveaus.

Ambivalenz gibt es freilich auch bei diesen Fortschritten: Die Technik schlägt zurück, und die Menschen haben gute Aussichten, dass es ihnen gelingt, sich längerfristig selbst umzubringen. Aber das ist nicht Schicksal, das ist nicht europäische Notwendigkeit, sondern hausgemachte Dummheit der Völker und ihrer Politik. Dazu kommt die zunehmende Sorge, dass die kapitalistische Entwicklung jene kulturellen Bestände reduziert oder beseitigt, die als Grundlage der europäischen Dynamik identifiziert worden sind.

5. Europa ist schön

Ein denkendes, friedliches, respektvolles und wohlhabendes Europa, wie es sich in der Gegenwart zeigt, ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist eher ein höchst unwahrscheinlicher Zustand. Das Europa der Gegenwart ist als Ganzes ein unwahrscheinliches Gebilde: eine Gnade der Geschichte. Wenn man es aufrechterhalten will, dann muss man auch bereit sein, sich dafür einzusetzen. Damit wir nicht in einigen Jahrzehnten erinnernd sagen: Europa ist eigentlich schön gewesen.

Vorliegender Text ist der im Frühjahr 2015 erschienen Aufsatzsammlung »Europa Wertvoll – Übergänge, Gefährdungen und Perspektiven« der »Edition Geist & Gegenwart« im Verlag Wieser entnommen.

Essay, Fazit 115, (August  2015) – Foto: Karl-Franzens-Universität/Kastrun

Kommentare

Eine Antwort zu “Europa ist eine historische Anomalie”

  1. Rede zum Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen | FazitOnline. Wirtschaft und mehr. Aus dem Süden.
    18. Februar 2016 @ 10:44

    […] falschen Seitentitel angebracht, nämlich »Europa ist eine historische Anomalie«, den Titel eines Essays von Manfred Priesching in Fazit 115. Wenn auch in letzter Konsequenz diese Seitentitulierung zumindest nicht vollkommen unpassend war, […]

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