Stadtluft macht frei
Redaktion | 25. März 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 121, Fazitthema
Erstmals in der Menschheitsgeschichte lebt der überwiegende Teil der Bevölkerung in Städten – und zwar nicht nur in Asien oder Afrika, sondern auch bei uns in Österreich. Überall ziehen Menschen vom Land in die Stadt. Und so leben in Europa inzwischen drei Viertel in den Ballungsräumen, in den USA sind es sogar mehr als 80 Prozent.
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Obwohl die meisten Lebensstilstudien ergeben, dass der Traum vom Häuschen im Grünen gerade bei Familien intakt ist, zieht es die Österreicher in die Zentren. Das hängt auch damit zusammen, dass jene Gegenden, in denen die Grundstückspreise für Normalverdiener noch niedrig genug sind, um sich ein Einfamilienhaus selbst erarbeiten zu können, weniger werden. Und meistens sind diese Orte dann so weit weg vom städtischen Arbeitsplatz und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel, dass der Traum zerplatzt. Anstatt für ein Haus reicht es daher – selbst bei zwei Vollverdienern – oft nur für eine Wohnung im Speckgürtel.
Dazu kommt, dass das Leben in den Großstädten lebenswerter wird. Wer sich einmal an die Angebotsvielfalt – vom Biosupermarkt bis zum Szenelokal und vom umfassenden Freizeitangebot für die Kinder bis zum Yoga-Loft – gewöhnt hat, mag nicht mehr darauf verzichten. Zum modernen Lebensstil gehört längst auch jene kulturelle, kulinarische, aber auch sportliche Vielfalt, die eben nur ein großstädtischer Ballungsraum bieten kann.
Chancengleichheit für den ländlichen Raum? Die gibt es nicht!
Entsprechend anders sieht es in den Randregionen abseits der Ballungszentren aus. Dort, wo der Schrumpfungsprozess einmal eingesetzt hat, ist er kaum aufzuhalten. Und obwohl die Politik behauptet, für eine Chancengleichheit des »ländlichen Raumes« zu sorgen, sind das Sonntagsreden, die keiner näheren Überprüfung standhalten. Auf dem Land ist das Leben zweifellos erheblich schwieriger. Die Infrastruktur ist für die wenigen Menschen längst viel zu teuer geworden und die »Öffis« fahren nicht im Viertelstundentakt, sondern nur alle zwei Stunden. Gemeinden werden fusioniert und Schulen sperren zu, weil es zu wenige Kinder gibt. Das Gleiche gilt für Banken und neuerdings auch für Krankenhäuser. Auch viele kommerzielle Angebote sind auf eine hohe Einwohnerzahl angewiesen. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen kann daher gar keine Rede sein.
Und so ist die Steiermark inzwischen zweigeteilt. Sie besteht aus einem Ballungsraum rund um die Landeshauptstadt Graz der inzwischen bis Leibnitz, Köflach, Frohnleiten, Weiz oder Gleisdorf reicht und in dem etwa die Hälfte der Steirerinnen und Steirer lebt. Daneben gibt es die alte Industrieregion entlang der Mur-Mürz-Furche, deren Städte es mit Millioneninvestitionen zuletzt zumindest geschafft haben, die jahrzehntelange Abwanderung und Ausdünnung zu bremsen oder gar zu stoppen. Obwohl etwa Leoben zweifellos zu den schönsten und modernsten Städten der Steiermark gehört, ist es schwierig, die jüngere Bevölkerung zu halten und dem Sog der Großstädte Graz, Wien oder Linz zu entziehen.
Die Urbanisierung betrifft sowohl Industriestaaten
als auch die Entwicklungsländer
Schon im Mittelalter galt der Grundsatz »Stadtluft macht frei!«. Damit waren aber nicht die guten Job- und Ausbildungschancen oder die besseren Möglichkeiten zu einer unabhängigen und individuellen Lebensgestaltung gemeint, sondern der Rechtsgrundsatz, dass Leibeigene ihre Freiheit erlangen, wenn sie es schafften, in eine Stadt zu fliehen und sich dort ein Jahr und einen Tag lang den Häschern ihres Grundherren zu entziehen. Damals begründete sich ein Teil des urbanen Wachstums im wahrsten Sinn des Wortes in der Landflucht. Und auch heute verdanken die Städte einen wesentlichen Teil ihres Wachstums den globalen Migrationsströmen.
Während um 1900 nur etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung in den Städten lebten, sind es heute 53 Prozent. Weltweit ziehen täglich 220.000 Menschen in die Großstädte. Die Urbanisierung ist ein Phänomen, das sowohl die Schwellen- und Entwicklungsländer als auch die hochentwickelten Industriestaaten betrifft. Und sämtliche Prognosen weisen aus, dass sich die Landflucht in den nächsten Jahren noch deutlich beschleunigen wird.
Natürlich unterscheidet sich die Verstädterung der Entwicklungsländer von jener Europas. In den afrikanischen Megacities wuchern riesige Slums und stoßen an die Grenzen einer Infrastruktur, die mit der großen Zahl an Menschen nicht Schritt halten kann. Aber sowohl dort als auch in den hochentwickelten Industrieländern ist das urbane Wachstum zu einem Motor für die wirtschaftliche Entwicklung geworden. Der neueste Trend in Europa ist der Umbau alter Industrie- und Arbeiterbezirke zu hippen Gentrifizierungszonen.
Doch trotz unterschiedlicher Ausprägungen leisten Großstädte in jedem kulturellen Umfeld einen enormen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. Denn ganz egal ob in der 10 Millionen Einwohner zählenden nigerianischen Metropole Lagos oder im beschaulichen Graz mit seinen 270.000 Einwohnern – finanziert wird der Boom mit einer Wette auf steigende Immobilienpreise. Und wenn die Grazer Bevölkerung jährlich um eineinhalb Prozent zunimmt, sind das knapp 3.000 Wohnungen, die jährlich zusätzlich benötigt werden. Und weil diese Nachfrage nicht zur Gänze erfüllt werden kann, steigen die Preise und die Rechnung geht auch sieben Jahre nach dem Platzen der großen amerikanischen Immobilienblase immer noch auf.
Städte sind aber auch Orte des sozialen Wandels. Sie fördern die Chancengleichheit und schaffen ein Klima, in dem sich auch Randgruppen ökonomisch und politisch entfalten können. Die Ursache hierfür liegt in der Anonymität der Stadt. Menschen, die man nicht kennt, werden anders als auf dem Land beurteilt – nämlich weniger nach ihrem individuellen soziokulturellen Umfeld als nach dem »Jetzt« und »Heute«. Und so tritt in der Stadt an die Stelle der traditionellen dörfischen Entscheidungsmuster sehr oft eine soziale und politische Teilhabe. Die Anonymität der Stadt bietet somit ein gutes Umfeld für eine soziale Harmonisierung.
Die Zukunft gehört den »Smart Cities«
Die Städte verbrauchen heute auf nur zwei Prozent der Landfläche 75 Prozent der globalen Ressourcen. Damit verbraucht jeder Stadtbewohner beinahe die eineinhalbfache Ressourcenmenge eines Dorfbewohners. Entsprechend negativ wirkt die Urbanisierung auf menschengemachte Klimaeffekte. Dabei bieten die Städte wesentlich bessere Voraussetzungen für einen nachhaltigen Lebensstil als ländliche Regionen. Schließlich bieten Städte enorme Effizienzvorteile in Bezug auf die Infrastruktur – etwa im Bereich des öffentlichen Verkehrs, aber auch im Energieverbrauch von Gebäuden. Die EU unterstützt mit ihrer »Smart-Cities-Initiative« Pilotprojekte, die darauf abzielen, die Städte effizienter, technologisch fortschrittlicher, ökologischer, aber auch »sozial inklusiver« zu gestalten. Soziale Inklusion zielt in diesem Zusammenhang darauf ab, Maßnahmen zu unterstützen, welche das gesellschaftliche Zusammenleben homogener machen.
Die Steiermark nimmt mit mehreren Projekten an der Smart-City-Initiative teil. Das größte davon ist die »Smart-City Graz-Mitte«. Dabei wird ein neuer Stadtteil in einem ehemaligen Industrieviertel in Bahnhofsnähe entstehen, der sowohl in Errichtung als auch im Betrieb mit minimalen Emissionen (Nullemissionsziel) das Auslangen findet. Das Projekt wird von der EU mit 4,5 Millionen Euro unterstützt, die beinahe achtzigfach gehebelt werden. Die tatsächliche Investitionssumme liegt nämlich bei über 350 Millionen Euro. Die Projektbetreiber sind die RLB Steiermark und der Technologiekonzern AVL List. Beide wollen beweisen, dass energieeffiziente innovative Verbauung auch wirtschaftlich Sinn ergibt, solange der Aufwertungsgewinn der Grundstücke ebenfalls investiert wird. Die »Smart-City Graz-Mitte« soll 3.000 Bewohnern aus sämtlichen sozialen Schichten Platz zum Wohnen und Arbeiten bieten. Sie stellt einen innovativen Gegenentwurf zu den wuchernden Speckgürteln am Stadtrand dar, die sich vor allem deshalb so rasch entwickeln, weil dort die Baugrundstücke viel billiger sind als in den Kernzonen der Städte.
Mit den Erfordernissen der Speckgürtel beschäftigt sich das Smart-City-Projekt »I-Energy« der »Energieregion Weiz Gleisdorf«. Aufstrebende Umlandregionen haben ja vor allem mit besonderen Herausforderungen im Bereich der Raumordnung und einem ständigen Hinterherhinken der Infrastruktur zu kämpfen. Um eine nachhaltige Entwicklung der 18 Gemeinden in der Energieregion sicherzustellen, wurde ein »Nullemissionsszenario« für das Jahr 2050 entwickelt, welches die Systeme für Wirtschaft, Verkehr und Energie sowie die erforderliche Änderung der Verhaltens- und Lebensweisen der Menschen selbst umfasst. Diese Energievision soll nun Schritt für Schritt umgesetzt werden, wobei erste Nullemissionswohnbauprojekte bereits verwirklicht wurden.
Ohne Bürger keine Ökologisierung
Bei sämtlichen »Smartcity-Projekten« wurde inzwischen klar, dass die Stadt der Zukunft den öffentlichen Raum völlig neu ordnen muss. Als unabdingbar erscheint in diesem Zusammenhang eine massive Einschränkung des Individualverkehrs. Dass das funktionieren kann, zeigen Städte wie London oder Kopenhagen erfolgreich auf.
Weil aber die Widerstände gegen eine Zurückdrängung des Individualverkehrs überall extrem groß sind, kann die Umsetzung nur gelingen, wenn die wesentlichen Stakeholder eingebunden sind und den Großteil der Maßnahmen mittragen. So sorgte etwa in Wien die Verkehrsberuhigung der Mariahilferstraße, der wichtigsten Einkaufsstraße der Stadt, für Unmut unter den ansässigen Betrieben und Anrainern. Dieser Unmut war jedoch in erster Linie auf die Politik des erhobenen Zeigefingers durch die Stadtregierung und auf die Nichteinbindung der Betroffenen zurückzuführen. Selbst dass die Mariahilferstraße inzwischen als gelungenes Projekt für eine nachhaltige Mobilität in einer städtischen Kernzone gilt, kann über das Kommunikationsversagen nicht hinwegtäuschen. Denn erst wenn die Betroffenen realisieren, dass der Slogan »No Parking, no Business« dort, wo ein gut ausgestatteter öffentlicher Personennahverkehr und klimafreundliche Verkehrsmittel zur Verfügung stehen, keine Berechtigung mehr hat, werden sie dieses Umdenken unterstützen.
In Wien lebt es sich am besten
In diesem Zusammenhang mag es verwundern, dass weder London, Paris oder Zürich die höchste Lebensqualität unter den wichtigsten Städten der Welt aufweisen, sondern ausgerechnet die österreichische Hauptstadt. Wien führt nun schon zum drittenmal hintereinander das »Quality of Living Ranking« der Beratungsfirma Mercer an. Jetzt mag man meinen, dass Mercer die Städte vor allem in Bezug auf ihr typisches Klientel, das gehobene internationale Management, hin analysiert und Wien mit seiner Hochkultur, der allgemein guten Sicherheitslage und den vielen Tophotels besonders gut abschneidet. Doch auch beim internationalen Vergleich des Business-Magazins »Fast Company«, das Städte auf ihre »Smart-City-Eignung« bewertet, steht Wien an der Spitze. Und zwar vor Toronto, Paris und New York. Was die Tester an Wien regelmäßig beeindruckt, sind die hervorragenden öffentlichen Verkehrssysteme.
In Graz sind die Arbeitnehmer
zufriedener als überall sonst in Europa
Vor wenigen Wochen hat die Europäische Kommission eine Studie präsentiert, bei der 40.000 berufstätige EU-Bürger in etwa 80 Großstädten zu ihrer Arbeitszufriedenheit befragt worden waren. Dabei sollten sie angeben, wie glücklich sie mit ihrer persönlichen Arbeitssituation sind. Das überraschende Ergebnis sah auch in diesem Ranking eine österreichische Stadt und weder München oder Stockholm an der Spitze. Den ersten Rang nimmt nämlich die steirische Landeshauptstadt Graz vor Zürich, Reykjavík und Wien ein. Demnach sind 85 Prozent der Grazer Arbeitnehmer zufrieden mit ihrer Situation und nur sieben Prozent unzufrieden. In Genf – es belegt Rang neun in diesem Ranking – sind nur 76 Prozent der Arbeitnehmer zufrieden und 12 Prozent unzufrieden.
Megastädte – Viele ungelöste Probleme
sind der Preis der wirtschaftlichen Dynamik
Weltweit haben Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern die höchste Wachstumsdynamik. Sie liegen mit wenigen Ausnahmen in Ländern mit einer besonders schnell wachsenden Bevölkerung. Und die Herausforderungen für Stadtplaner, Architekten, Ökonomen und Politiker sind in Bezug auf Verkehr, Infrastruktur und die Aufrechterhaltung der elementarsten öffentlichen Aufgaben gewaltig. Trotzdem sind die Megastädte längst zu wirtschaftlichen, kulturellen und kreativen Zentren für den gesamten Planeten geworden. Daher greift es viel zu kurz, diese Metropolen auf ihre Megaprobleme zu reduzieren. Denn sie bieten selbst in den ärmsten Regionen ein enormes wirtschaftliches Potenzial, das weit über dem Durchschnitt der sie umgebenden Staaten liegt. Außerdem geht von ihnen ein riesiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungsdruck aus. So findet die Hälfte der Industrieproduktion Mexikos in Mexiko-City statt; Tokio erwirtschaftet 34 Prozent der Wirtschaftsleistung Japans und São Paulo ein Fünftel des BIP Brasiliens. Mega-Städte – vor allem jene in den Schwellenländern – mögen auf jemanden, der aus Europa kommt, aufgrund der vielen ungelösten sozialen und ökologischen Probleme einen trostlosen Eindruck hinterlassen. Sie sind dennoch von zentraler Bedeutung für die regionalen Ökonomien und für die soziale und kulturelle Entwicklung. In diesem Sinne macht Stadtluft auch im 21. Jahrhundert immer noch frei. -jot-
Titelgeschichte Fazit 121 (April 2016) – Foto: Unsplash
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