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Die böse BWL. Sackgasse, Irrweg oder Karriereturbo?

| 30. März 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 131

Foto: Teresa RothwanglEin Essay von Günter Riegler. Betriebswirt und designierter Grazer Finanzstadtrat Günter Riegler über die Sinnhaftigkeit eines BWL-Studiums.

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Dr. Günter Riegler, geboren 1966, ist Geschäftsführer der Fachhochschule Joanneum und war davor viele Jahre lang Lehrbeauftragter für Finanz- und Rechnungswesen. Er ist im erlernten Beruf Wirtschaftsprüfer und Steuerberater und ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Artikel auf dem Gebiet des Steuer-, des Bilanzrechtes sowie des Public Management.

Einen Tag vor Drucklegung dieser Ausgabe wurde bekannt, dass Günter Riegler von der Grazer ÖVP als Kandidat zum Finanzstadtrat aufgestellt wurde.

***

Vor 30 Jahren – also in den Achtzigern – galt die Matura an einer Handelsakademie als Karriereturbo. Wer darüber hinaus ein Studium der Betriebswirtschaftslehre (BWL) an einer Universität absolviert hatte, war entweder bereits Generaldirektor oder kurz davor. Vieles ist inzwischen passiert – Weltfinanz- und Bankenkrise, Digitalisierung, Aufstieg und Abstieg mancher Brics-Staaten, Negativzinsen und vieles mehr. Die Hochschulen haben sich ebenso verändert, wie die Bevölkerungsentwicklung. Es häuft sich Kritik an der Wirtschaftswissenschaft – diese würde mit den modernen Entwicklungen nicht Schritt halten, und an den Hochschulen würde zu viel Kapitalismus und zu wenig an alternativen Konzepten unterrichtet. Das BWL- und das VWL-Studium (Volkswirtschaftslehre) gleiche einer Gehirnwäsche und vermittle falsche Versprechen. Die Frage lautet: ist ein BWL-Studium noch ein Versprechen für einen Elitepartnerlebensentwurf oder eine Sackgasse? Unterrichten wir die richtige, oder eine falsche und böse BWL?

Sind Wirtschaftsfakultäten Zuchtstätten eines realitätsfernen Kapitalismus?

Nicht erst seit dem Erscheinen eines BWL-kritischen Buches im Jahr 2016 (Axel Gloger, Betriebswirtschaftsleere – Wem nützt die BWL noch? [1]) stellt sich die Frage, ob das, was unseren Schülern und Wirtschaftsstudierenden vermittelt wird, einerseits noch stimmt und andererseits für ein berufliches Fortkommen gebraucht wird. In einem Spiegel-Interview (erschienen am 13. Mai 2014 [2]) fordert eine Netzwerkerin für »Plurale Ökonomik« eine Umstrukturierung der Lehrpläne und kritisiert die Lehrpläne von VWL als »kapitalistisch, einseitig und realitätsfern«. Effiziente Märkte, quantitative Methoden und rational entscheidende WirtschaftsteilnehmerInnen seien realitätsferne Annahmen, die spätestens durch die Krisen der letzten Jahrzehnte »ad absurdum geführt« worden seien.
Gleicher Tenor in der BWL – auch hier lautet die Kritik, es werde ein Wirtschaftswissen »für Großkonzerne« unterrichtet, das »in den Neunzehnsechzigerjahren stecken geblieben« sei, auch hier lautet der Vorwurf, es herrsche eine »Überbetonung von Zahlendenken« sowie eine »Übernutzung von Planung, Budgetierung und Kontrolle« vor. Phantasie, Kreativität und Unternehmertum würden unterdrückt, die Tugenden des »German Mittelstand« seien in den Lehrplänen nicht repräsentiert und es werde zu wenig »gesunder Menschenverstand« und Querschnittswissen unterrichtet. Managerausbildung sei Gehirnwäsche, heißt es [3].

Die »Traumfabrik« sei eine »Produktionsstätte enttäuschter Erwartungen«, die beiden Studien BWL und VWL seien in die Jahre gekommen und das »gepaukte Wissen« sei nicht mehr aktuell und nicht mehr zeitgemäß – denn wer »ein selbstfahrendes Auto« habe, brauche »keinen Stadtplan im Handschuhfach«. Schaden wir unseren Kindern, machen wir sie zu fehlprogrammierten Zombies, wenn wir ihnen ein BWL- oder VWL-Studium empfehlen? Oder haben unsere Kinder das Lernen nicht gelernt, aus Angst, sie könnten nach zwei Schularbeiten in einer Woche ins Burnout abdriften?

Ein Blick auf das Mengengerüst – wer studiert BWL und VWL?

Von welchem Mengengerüst reden wir – wieviele junge Menschen werden derzeit mit Wirtschaftswissen versorgt, oder, wie es die Kritiker sagen würden, indoktriniert?
Das »Statistische Taschenbuch« 2016 des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) weist aus, dass in den Jahren 2011 bis 2015 jährlich rund 45.000 Schüler die Matura absolviert haben, davon rund 23.000 in Berufsbildenden Höheren Schulen und davon wiederum rund 12.000 pro Jahr an Kaufmännisch/Wirtschaftlichen Schulen. Rund 9.000 dieser MaturantInnen an HAK und HBLA sind übrigens weiblich, 3.000 männlich. Wirtschaftliches Wissen ist also zu 75 Prozent weiblich.
Rund 40 Prozent der Maturanten treten nach der Matura ein Universitätsstudium an, rund 13 Prozent gehen an die Fachhochschulen.

Pro Jahr beginnen rund 25.000 junge Menschen (15.000 Frauen/10.000 Männer) ein Sozial-/Wirtschafts- oder rechtswissenschaftliches Studium an einer Universität – 12.000 pro Jahr schließen ein solches Studium ab, auch hier sind die Frauen in der Überzahl (60 Prozent Frauen).

Zusätzliche 5.500 Absolventen von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen bzw. rechtswissenschaftlichen Studien werden pro Jahr von den Fachhochschulen hervor gebracht. Auch hier sind 60 Prozent der Absolventen weiblich. Kurz zusammengefasst: auf den österreichischen Arbeitsmarkt strömen jährlich rund 6.000 Maturanten und rund 17.500 Uni- oder FH-Absolventen wirtschafts- oder rechtswissenschaftlicher Studiengänge. In Deutschland, so das oben zitierte Buch [4], seien mehr als 200.000 derzeit im System des BWL-Studiums.

Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften sind daher – absolutbetraglich – die stärkste Fachrichtung; laut BMWFW-Statistik studieren derzeit rund 116.000 ordentliche Studierende SOWI/REWI an den Universitäten, an zweiter Stelle rangieren die Geisteswissenschaften und Künste (56.000), an dritter Stelle Ingenieurswesen, Herstellung und Baugewerbe (43.000). [5]

BWL-Monokultur in den Studienplänen und Instituten?

Unterrichten wir in BWL und VWL das Falsche? Um diese Frage fair und unvoreingenommen zu beantworten, empfiehlt sich zunächst ein Blick in die Studienpläne (Curricula) diverser in- und ausländischer Universitäten und Fachhochschulen.
Ein weiterer logischer Schritt muss sein, den aktuellen Stand der Wissenschaft und Lehre darauf hin zu untersuchen, inwieweit tatsächlich zu einseitig an neoklassischer Theorie und quantitativen Methoden (»Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft«) gearbeitet wird. Zu beiden Fragen versuche ich ansatzweise Stellung zu nehmen, wenngleich schon klar sein muss, dass hier nur eine kleine Auswahl und ein paar Schlaglichter gegeben werden können – möglicherweise wird man einwenden, meine Ausführungen seien nicht repräsentativ.

Was die Studienpläne betrifft: richtig ist, dass ein BWL-Studienplan in aller Regel Mathematik, Statistik , VWL und – in der Kerndisziplin BWL – sehr viel Rechnungswesen, Budgetierung und Controlling enthält. Das Ganze ist meist unterlegt mit einem Schuss Zivil- und Vertragsrecht sowie einer gewissen Abrundung in Soziologie, Ethik und Corporate Social Responsability (»CSR«).

Lädt man sich den Studienplan für das Bachelorstudium BWL an der Grazer Karl-Franzens-Universität (KFU) herunter [6], und studiert man eingangs die Zielbestimmungen für das BWL-Bachelorstudium, so wird schon in den »Leitprinzipien« auf »Förderung von Sozialkompetenz als Unterrichtsprinzip« und »Ethik und Ökologie als kernfachbegleitende Überlegungen« hingewiesen. Betriebswirtschaft sei die Leitdisziplin, die aber durch Veranstaltungen aus »Nachbardisziplinen« (hier werden Recht, VWL, Soziologie und Formalwissenschaften aufgezählt) ergänzt werden und zu den Leitfragen des Fachs in Beziehung gesetzt werden sollen [7].

Wenn es also nach den Zielbestimmungen des BWL-Studiums geht, sollte nicht bloß der Controller sprechen, sondern sollten gerade die sozialen, ökologischen und nachhaltigen Aspekte des menschlichen Wirkens zumindest abrundend mit im Lernzielkatalog enthalten sein.

Übrigens wird den Studierenden auch dringend ans Herz gelegt, neben dem Studium eine mindestens dreimonatige berufseinschlägige Praxistätigkeit im In- oder Ausland zu absolvieren – es wird also, zumindest an der KFU, darauf hingewirkt, Studierenden frühzeitig Einblick in »echte Unternehmen« zu geben. Bleibt zu hoffen, dass öfters auch der »German Mittelstand« dabei ist.

Geht man dann ins Detail des Curriculums, um zu überprüfen, ob den Zielbestimmungen auch Taten folgen, zeigt sich, dass VWL mit 20 ECTS, Recht mit 16 ECTS und Soziologie und VWL im Basismodul mit noch einmal 6 ECTS repräsentiert sind [8]. Insgesamt sind für den Bachelor 180 ECTS zu absolvieren – Volkswirtschaft und Soziologie sowie die abrundenden Rechtsfächer betragen 42 ECTS, somit also 23 Prozent des Gesamtstudienplanes. Von einer Monokultur an Controlling und Budgetierung kann zumindest hierorts nicht die Rede sein.
Zusätzlich lohnt sich ein Blick in das Verzeichnis der Institute, denn daraus kann man ableiten, welche Fächer von der jeweiligen Wirtschaftsfakultät für wichtig gehalten werden. Hier zeigt sich am Beispiel der Karl-Franzens-Universität, dass tatsächlich – wie oft kritisiert – ein bedeutender Teil der Organisation sich mit »Unternehmensrechnung, Reporting, Controlling, Wirtschaftsprüfung« sowie mit Mathematik und Statistik – der Basiswissenschaft für die Anwendung quantitativer Verfahren – zu befassen scheint. Ein »Zentrum für Entrepreneurship und angewandte Betriebswirtschaftslehre« ist allerdings ebenfalls eingerichtet, es sieht also so aus, als ob es auch eine BWL für Jungunternehmer, Startups und Kleinbetriebe gäbe – die Liste der an diesem Institut behandelten Themen ist beeindruckend und scheint zu belegen, dass nicht nur die BWL der Sechzigerjahre unterrichtet und beforscht wird [9]. Auch an der Wirtschaftsuniversität in Wien gibt es ein Institut für Entrepreneurship – laut Homepage mit mehr als 2000 Absolventen und schon 250 Startupunternehmen. Die Ambition scheint gegeben, dem Trend zum Beamtenjob bei den BWLern entgegen zu wirken.

Sieht man sich Studienpläne und Institute an Fachhochschulen an, so ergibt sich auch hier, dass man sich um ein ausgewogenes Verhältnis von klassischen Fächern – Rechnungswesen, Mathematik, Controlling und Finanzierung –, Soft Skills (Management und Führung, Kommunikation), Marketing, Personalwesen und auch Produktion, Logistik und Fertigungswirtschaft bemüht. Auch hier gilt, dass Pflichtpraktika und Auslandsaufenthalte die Regel sind und – insbesondere an der Fachhochschule Joanneum – auch ein starker Trend zum berufsbegleitenden und dualen Studium mit hohem Praxisbezug die Regel ist. Insofern können die Fachhochschulen den Vorwurf einer »Betriebswirtschaftsleere« sicher nicht auf sich sitzen lassen.

Ein Zwischenergebnis wäre aus meiner Sicht, dass man bei der Wahl des konkreten BWL-Studiums durchaus vertieft untersuchen sollte, welche Spezialisierungen und welche Gewichtungen sich im jeweiligen Curriculum finden und welche Professoren an der untersuchten Fakultät tätig sind.

Von den Allgemeinbildenden sowie Berufsbildendnen Höheren Schulen (also AHS und HAK/HTL/HBLA) wäre zu fordern, dass diese deren Bemühungen um die Studien- und Jobberatung vor der Matura noch intensivieren sollten. Hier in der Steiermark ist da bereits einiges Positives im Gange.

Planung, Budgetierung und Controlling überbewertet?

Die Kritik an einer zu intensiven Verankerung von Budgetierung und Controlling im BWL-Studium wird meist damit begründet, dass sich Planung und Budgetierung auf Grund der Unsicherheit künftiger Entwicklungen regelmäßig als bürokratisch, zeitintensiv, teuer und ineffektiv erweisen würden, weil man letztlich ja doch nie wisse, wie die Zukunft wird. Neuere Budgetierungsansätze [10] versuchen dem durch Vereinfachung, Erhöhung der Flexibilität sowie durch verbesserte Integration der Planungsebenen und durch effektiveren Einsatz von IT (Informationstechnik) wett zu machen. Ein klassischer Controllerspruch lautet: »Budgetierung ersetzt den Zufall durch den Irrtum.« Moderne Konzepte – zum Beispiel »Beyond Budgeting« – versuchen durch einen kontinuierlichen Planungsprozess und relative Ziele statt absoluter Zielwerte einen ganzheitlichen Ansatz zu finden und dem Irrtum durch kontinuierliches »Nachdrehen« an den Planreglern Herr zu werden.

Nichtsdestotrotz muss man die Begriffe, Werkzeuge und Methoden eben gelernt haben, um das »Alte« und »Altvaterische« durch das »Neue« zu ersetzen und fundiert kritisieren zu können. Insofern geht die Kritik jener Autoren völlig ins Leere, die meinen, man brauche ja keine Landkarte mehr im Handschuhfach, wenn man ein autonom fahrendes Auto fahre. Ganz im Gegenteil: wer die grundsätzlichen Denkansätze der Landkarte und der Navigation nicht gelernt hat, wird nicht verstehen, was die moderne Technologie mit einem tut. Gerade wer neue technologische Wege und Innovationen erzielen und beschreiten will, muss die grundlegenden Werkzeuge und Methoden seiner Wissenschaft kennen und erlernen, auch, wenn es manchmal mühsam ist. Wer also glaubt, sich die Themen »Budgetierung, Planung und Controlling« deshalb sparen zu können, weil die Zukunft ja doch nicht vorhersagbar wäre, ist schlicht naiv und hat keine Ahnung – weder von Wissenschaft, noch von Wirtschaft.

BWL – ein »Boulevard of broken dreams«?

Ein weiteres Killerargument gegen die moderne BWL lautet sinngemäß: alle werden zum Topmanager ausgebildet, aber nur die wenigsten werden es.
Die einfachste Antwort kennt man in der Steiermark, indem man sagt: »Von Nix kommt nix.« Soll heißen: ja, die BWL lehrt Dich, zu schwimmen, aber ob es für die Durchquerung des Ärmelkanals reicht, hängt auch von der persönlichen Weiterentwicklung ab.

Wer in zwanzig Jahren zu den Topentscheidern seines Jahrganges gehören möchte, muss früh anfangen. Er oder sie sollte Freude am Teamwork haben und dies so früh wie möglich in ehrenamtlichen Funktionen – etwa bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im Sportverein – erproben. Dort kann man auch gleich erlernen, wie man Verhandlungen führt, Mehrheiten organisiert und für Organisationen Finanzmittel und Unterstützer rekrutiert. Wer in zwanzig Jahren zu den Topentscheidern gehören möchte, sollte politisch interessiert sein, sollte früh aufstehen, sich engagieren, sollte Bücher lesen, sich musisch bilden, Ausdauersport betreiben und sich von Leuten beraten lassen, die in irgendeiner Disziplin Spitzenleistungen erbracht haben. Wer in zwanzig Jahren zu den Topentscheidern gehören möchte, sollte Geschichte studieren und sich damit beschäftigen, warum manche Fehler und Verhaltensmuster sich beständig wiederholen. Wer das alles nicht tut, kann schlicht und einfach Glück haben, aber die Wahrscheinlichkeit spricht eher dafür, dass es mit der Generaldirektorenkarriere nichts wird. Wer immer die leichtesten Wahlfächer und Diplomarbeitsbetreuer wählt, wer gerade das Minimum tut, weil es ja angeblich auf die Noten im Abschlusszeugnis nicht ankommt, wird bestenfalls mittelmäßige Leistungen erbringen und daher voraussichtlich über die Bereichsleiterebene nicht hinaus kommen. Vielleicht wird er oder sie dann aber ein Buch darüber schreiben, dass die Hochschule eine falsche und veraltete BWL oder VWL angeboten habe, und deshalb an seiner oder ihrer persönlichen Unzufriedenheit mindestens mitschuldig sei. Aber ich sollte nicht sarkastisch werden.

Ist die Wirtschaftswissenschaft zu kapitalistisch – oder wollen wir schlicht
keine Verantwortung für unser Handeln übernehmen?

Womit wir beim wohl grundsätzlichsten Vorwurf mancher Kritiker angekommen sind: ist die Wirtschaftswissenschaft zu sehr am »Homo oeconomicus« und am »neoklassischen Paradigma« angesiedelt? Wäre selbst die moderne Verhaltensökonomik nur eine Verfeinerung des neoklassischen Modells und keinesfalls ein Gegengewicht zum »Neoliberalismus«? [11]

In diesem Punkt ist eine argumentative Beweisführung deshalb schwierig, weil man die »Richtigkeit« einer wissenschaftlichen Lehre nicht beweisen, sondern lediglich falsifizierbare Theorien einer ständigen Prüfung unterziehen kann. Die Wirtschaftswissenschaft befasst sich mit etwas zutiefst Menschlichem: mit den menschlichen – individuellen oder kollektiven – Wirtschaftsentscheidungen. Wirtschaftswissenschaft ist keine exakte, sondern eine Sozialwissenschaft, die sich mit Annahmen über das menschliche Verhalten behelfen muss. Wenn man nun meint, die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und danach und die wachsende Ungleichheit in Teilen der Bevölkerung seien das Ergebnis und das Verschulden neoliberaler Ökonomen sowie einer verfehlten BWL-Ausbildung, so bewegt man sich wohl außerhalb einer beweisbaren Argumentation. Wenn man die Annahmen der Zweckrationalität hinterfragt, was im Übrigen in der Wirtschaftswissenschaft auch regelmäßig getan wird, so muss einem doch bewusst sein, dass es eine Vorhersagbarkeit des menschlichen Verhaltens eben nur sehr eingeschränkt geben kann. Mit anderen Worten: wir wissen tendenziell, wo die Reise hingeht, im Einzelfall kann aber dennoch alles ganz anders kommen.

Wenn Manager sich unethisch verhalten, indem sie immer neuere, undurchschaubarere Finanzprodukte generieren und verkaufen, oder bei Autos Abgaswerte versprechen, die diese nicht erfüllen können, so liegt es nicht an der »falschen Lehre«, oder am fehlenden Ethikunterricht oder an einer unrichtigen Theorie, sondern vielmehr an der Natur des Menschen, der nun einmal nach hoher Rendite und großer Bequemlichkeit strebt, wohl wissend, dass er mit Rendite und Bequemlichkeit auch übermäßigen Ressourcenverzehr, Kohelndioxidausstoß und die Suche nach Billigpreisen in Niedriglohnländern unterstützt. Wer gerne Verzicht predigen möchte, sollte probeweise mit dem Verzicht auf Heizung und warme Morgendusche beginnen.

All dies ist bekannt und war auch schon vor dreißig Jahren bekannt. Schon damals lernten wir an der Universität von »externen Effekten«, »Pigou-Steuern« und dem »Coase-Theorem« als einem möglichen Lösungsansatz. Und schon seit damals weiß die Menschheit, dass es nicht die eine richtige Lösung gibt, sondern das Entscheidungsproblem, ob man demjenigen Vorrang einräumen möchte, der ungestört sein möchte, oder demjenigen, der eine Aktivität entfalten möchte. Wem das zu abstrakt ist, dem sei veranschaulicht, wieiviele Behördenverfahren beispielsweise der Errichtung des Semmering-Basistunnels voran gegangen sind [12], oder wie derzeit anlässlich der geplanten Errichtung einer dritten Start- und Landebahn am Flughafen Wien argumentiert wird: Es herrscht nämlich ganz offensichtlich in der Gesellschaft kein abgestimmter Grundkonsens darüber, ob wir lieber Ackerflächen bestehen lassen oder Mobilität und Wirtschaftskraft haben wollen. Beides gleichzeitig geht leider nicht – da hilft auch keine noch so pluralistische Wirtschaftstheorie.

Das Murkraftwerk als Beispiel für das allgegenwärtige Florianiprinzip

Auch anhand der im Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages gerade herauf dräuenden Eskalationen am Beginn der Errichtungsarbeiten für ein weiteres Murkraftwerk zeigt sich, dass es um ein Dilemma zwischen Ungestörtsein (sprich: Bestehenlassen der auch bisher schon künstlich geregelten und mittelmäßig hübsch bewaldeten Mur) und Aktivität (der Errichtung eines Flusskraftwerkes im städtischen Raum) geht. Den Aktivisten von »Rettet die Mur« muss man – bei allem Respekt für die Liebe zu den bis dato unberührten Murauen – vorhalten, dass sie im Grunde auch nur das Florianiprinzip vertreten. Der eigene Lebensraum möge möglichst verschon bleiben, der tägliche Strombedarf möge tunlichst von Kraftwerken außerhalb des eigenen Lebensraums – zum Beispiel von Atomkraftwerken in Frankreich – gedeckt werden.

»Schuld« ist nicht die falsche Theorie, schuld ist auch nicht die falsche Lehre an den Hochschulen, schuld ist gar niemand; zu entscheiden ist, ob wir selbst die Kosten und Folgen unserer persönlichen Bedürfnisse und damit die Konsequenzen unseres Handelns tragen wollen. Nobelpreisträger Ronald Coase und viele andere Ökonomen – keinesfalls nur neoliberalistische Vordenker – beschäftigen sich bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Frage, wie das aufgezeigte Dilemma – der eine wird gestört, der andere möchte stören – gelöst werden kann. Immer geht es letztlich um die Frage, wem seitens der Gemeinschaft das stärkere Recht zuerkannt werden soll, dem Störer oder dem durch die Störung Beeinträchtigten. Und immer geht es letztlich um eine Entschädigung, die man zahlen muss; sei es, indem man dem Beeinträchtigten einen Preis bezahlt, sei es, indem man die Kosten für die Störung exorbitant in den Himmel treibt – durch Behördenverfahren oder durch Auflagen –, sei es, indem man die Sache ganz verbietet und sich ins Mittelalter zurück schießen möchte.

Fazit

Was fehlt, ist nicht eine passende Theorie, was fehlt, ist die Bereitschaft, anzuerkennen, dass wir in einem Dilemma zwischen Bequemlichkeit und Beeinträchtigung von Umwelt und Ressourcen gefangen sind. Die oben kurz dargestellte ökonomische Theorie ist jedenfalls seit vielen Jahren gesichertes Basiswissen der modernen wirtschaftswissenschaftlichen Literatur und – soweit ich das überblicke – auch fester Bestandteil der Hochschullehre in der BWL und VWL. Zahlreiche Nobelpreise für Wirtschaftswissenschaften wurden in den vergangenen fünfzig Jahren gerade für die Erforschung der aufgezeigten Problematiken bis hin zur Frage der nur begrenzten Rationalität bei ökonomischen Entscheidungen vergeben – man denke an Kenneth Arrow 1972, an Ronald Coase und viele andere.

Nicht die BWL oder die VWL sind falsch, nicht sind die Professoren schuld an Fehlentwicklungen, vielmehr müssen wir täglich hart daran arbeiten, unser gemeinschaftliches Handeln so zu organisieren, dass wir Verantwortung für unsere Bedürfnisse übernehmen.

In einem Punkt ist den Kritikern recht zu geben: wer glaubt, ein BWL- oder VWL-Studium müsse hauptsächlich »anwendbar« auf konkrete Arbeitgeberbedürfnisse sein, der übersieht, dass man die Studierenden in die Grundzusammenhänge, in die Werkzeuge und Methoden der jeweiligen Wissenschaft einweihen muss, lange, bevor man beginnt, die konkreten praktischen Lösungen zu pauken. Studieren ist nicht lesen, ist nicht Berieselung, sondern erfordert Sitzfleisch und Disziplin.

Fußnoten
1. http://www.fazbuch.de/buecher/wirtschaft-sachbuecher/betriebswirtschaftsleere
2. http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/vwl-studium-netzwerk-plurale-oekonomik-fordert-neue-lehrplaene-an-unis-a-968341.html (abgerufen am 15. Februar 2017).
3. http://www.spiegel.de/karriere/manager-ausbildung-oekonomie-ist-gehirnwaesche-a-748834-2.html (abgerufen am 15. Februar 2017).
4. Gloger, am angegebenen Ort.
5. Alle in diesem Abschnitt angegebenen statistischen Werte sind auf ganze Tausend gerundet und entstammen – wenn nicht anders angegeben – dem Jahr 2015 der jährlichen Unidata-Auswertung des Wissenschaftsministeriums (BMWFW).
6. https://static.uni-graz.at/fileadmin/sowi/Curricula/Curriculum_f%C3%BCr_das_Bachelorstudium_Betriebswirtschaft_13W.pdf (abgerufen am 15. Februar 2017)
7. https://static.uni-graz.at/fileadmin/sowi/Curricula/Curriculum_f%C3%BCr_das_Bachelorstudium_Betriebswirtschaft_13W.pdf, Seite 5.
8. Das »ECTS-System« dient einer europaweit einheitlichen Klassifizierung von Studienanforderungen (European Credit Transfer System – Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen) – die Höhe der ECTS-Punkte wird nach dem erforderlichen (Zeit-)Aufwand für das Absolvieren des betreffenden Fachs bzw. der betreffenden Lehrveranstaltung bemessen.
9. https://online.uni-graz.at/kfu_online/lv.liste?corg=22408 (abgerufen am 15. Februar 2017).
10. Im Überblick siehe bei: https://www.icv-controlling.com/fileadmin/Wissen/Frei_f%C3%BCr_alle__Statement__White_Paper__Schriftenreihe__Dream_Car_Bericht/Moderne_Budgetierung_f%C3%BCr_Nicht-Mitglieder.pdf (abgerufen am 15. Februar 2017)
11. http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/vwl-studium-netzwerk-plurale-oekonomik-fordert-neue-lehrplaene-an-unis-a-968341.html
12. http://www.oebb.at/infrastruktur/de/5_0_fuer_Generationen/5_4_Wir_bauen_fuer_Generationen/5_4_1_Schieneninfrastruktur/Suedstrecke/Semmering_Basistunnel/__Dms_Dateien/llDok_Bescheide.jsp

Vorliegender Text verzichtet aus Gründen der leichteren Lesbarkeit und größeren Verständlichkeit auf geschlechtsneutrale Schreibweise und versteht das generische Maskulinum als Form, die selbstverständlich Frauen wie Männer einschließt.

Essay, Fazit 131, (April 2017) – Foto: Teresa Rothwangl

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