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Wer meint, dass man »falsch« abstimmen kann, versteht Demokratie nicht

| 27. April 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Editorial, Fazit 132

Die Türkei hat sich also am Ostersonntag in Kleinasien – und weiten Teilen Westeuropas – bei einem Referendum für eine Verfassungsänderung hin zu einem präsidentiellen Regierungssystem entschieden. Recep Tayyip Erdogan wird in Zukunft über eine Machtfülle als Präsident verfügen, die in keiner westlichen Demokratie bekannt ist. Mir bleibt nur, dieses Abstimmungsergebnis zur Kenntnis zu nehmen. (Was Wahlmanipulationen betrifft, wird das die Zeit zeigen. Das knappe Ergebnis von 51 zu 49 Prozent spricht in einer Fernstbeurteilung eher dagegen.)

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Wie weit sich die Verfassungsänderung übrigens der Demarkationslinie zur Diktatur wirklich annähert – oder diese gar überschreitet – muss ich dahingestellt lassen; zu wenig Einblick habe ich in die rechtlichen Details, was die Auswirkungen des Referendums betreffen. Unumstritten scheint nur, dass Erdogan seit dem mysteriösen Putsch im Juli letzten Jahres despotennah regiert. Man denke nur an die vielen offenbar willkürlich verhafteten (vor allem) Beamten und Journalisten.

Interessant ist für mich das Wahlverhalten der Auslandstürken bei uns. Da haben 73 Prozent in Österreich bzw. 63 Prozent in Deutschland für »Ja« gestimmt. Und noch interessanter die Interpretation dieser Zahlen. Die Vizepräsidentin des deutschen Bundestages und grüne Politikerin Claudia Roth etwa bemängelt zwar stark, dass es Türken gibt, die bei einer – zumindest hier in Westeuropa frei abgehaltenen – Wahl anders abgestimmt haben, als sie das erlauben würde, »gegen die Demokratie« nämlich, rechnet sich aber gleichzeitig das Ergebnis in Deutschland so zurecht, wie es ihr gefällt. Es seien nämlich »nur« 13 Prozent, die für Erdogans Verfassungspläne gestimmt hätten. Sie hat da solange mit geringer Wahlbeteilung und – interessant für eine Grüne – Türken, die keinen türkischen Pass hätten (also Deutsche! Für Roth gilt, wenn es passt, das sonst eher unfeine »Einmal Türke, immer Türke.«) herumgetrickst, bis sie auf diese interessante Zahl gekommen ist. Die 13 Prozent sind ihr noch immer zu viel, sie hat aber auch da eine Lösung parat: Die Deutschen sind dran schuld! Also wir Gesellschaften in Deutschland und Österreich, die offenbar den türkischen Mitbürgern gegenüber alles falsch gemacht haben, was man nur hat falsch machen können.

Natürlich ist das Humbug, nur wenn wir schon bei Zahlenspielen sind, sollte man auch jene des Publizisten Hamed Abdel-Samad bedenken. Der weist darauf hin, dass 25 Prozent der in Deutschland lebenden Türken eigentlich Kurden und Aleviten seien und noch christliche Assyrer und Aramäer zu berücksichtigen wären. Gruppen, die aus »existenziellen Gründen eine solche Systemänderung ablehnen« würden. Nach Abdel-Samads Rechnung würde die Zustimmung in Deutschland dann bereinigt sogar bei fast 90 Prozent liegen; ein für ihn eindeutiges Zeichen der gescheiterten Integration türkischer Muslime in Deutschland. Welche Rechnung ist jetzt Fakenews, welche kommt der Realität etwas näher?

Roths Schönrechnerei – der Fairness halber muss ich anführen, dass auch Politiker anderer Parteien ihren Zahlenspielen nachhängen – halte ich jedenfalls für aberwitzig und keiner Sache dienlich.

Fakt ist offenbar, dass die hier lebenden Türken sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, ein Demokratiedefizit nach westeuropäischen Maßstäben zu haben. Fakt ist auch, dass es mit Migration aus muslimischen Ländern verstärkt Probleme gibt. Jedenfalls sind von uns, um mit Merkel zu sprechen, »Schon-Länger-Hier-Seienden« Fehler gemacht worden. Jedenfalls aber sind unsere neuen muslimischen Mitbürger in die Pflicht zu nehmen, auch ihren Anteil an einer gelungenen Integration zu leisten. Stärker als bisher!

Eines aber geht mir – als der Massenimmigration seit 2015 sehr kritisch gegenüberstehend – gegen den Strich: Die in diesen Tagen oft gehörten Aufforderungen, wer in der Türkei »falsch« abgestimmt hat, der möge sich in die Türkei begeben. Um es höflich auszudrücken.

Wer hier lebt, der ist Teil dieser Demokratie! Und wesentlicher Teil dieser Demokratie ist es, seine eigene Meinung haben zu dürfen. Die kann einem unsympathisch sein, die kann man ablehnen. Die wird mir aber nie eine grüne Politikerin vorschreiben. Und auch nicht meinen türkischen oder türkischstämmigen Nachbarn.

Editorial, Fazit 132 (Mai 2017)

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