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Sigmund Freuds Urenkel und seine verrückte Idee

| 26. April 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 152, Sichrovsky und ...

Foto: Adriane Benten

Die Zentrale und das Hauptgebäude der »Sigmund Freud Privatuniversität« (SFU) in Wien ist vom Zentrum der Stadt leicht zu Fuß erreichbar. Über die »Rückseite« des ersten Bezirks wo keine prominenten Gebäude wie Staatsoper, Burgtheater und Hofburg die Ringstraße verzieren, sondern der oft dunkelbraune Donaukanal fließt, kann man am Ufer entlang den zweiten Wiener Bezirk erreichen. Fotografiert von Adriane Benten.

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Dort, wo einst eine einfache Fähre mit Drahtseil und Dieselmotor den zweiten mit dem dritten Bezirk verbunden hatte und die Reste des Stegs noch sichtbar sind, verlässt man den Fluss und erreicht die Hauptallee des Wiener Praters, überquert sie und landet mitten im Wurschtelprater, mit Riesenrad, Schießbuden, einem altmodischen, halb verrosteten Ringelspiel und den Geisterbahnen, wo aus einem sich ein Riese mit einem Holzknüppel zu den Wartenden herunterbeugt und die kleinen Kinder erschreckt, bevor sie noch in den quietschenden Waggons durch das Haus der Geister fahren.

Wer die Geisterbahn verlässt und einfach weitergeht, erreicht nach wenigen Minuten das Hauptgebäude der SFU in unmittelbarerer Nähe dieses absurden Altwiener Freizeitsparks, der nicht nur an den bösartigen Film »Der Dritte Mann« erinnert, sondern auch an die Wiener Gleichgültigkeit und Sucht nach Vergnügen und gleichzeitig an den tiefgründigen Schwermut der Stadt, die ein Genie wie Sigmund Freud hervorgebracht hatte.

Im obersten Stock eines modernen Gebäudes mit einer Aussicht über Wien und dem Riesenrad so nahe, dass man die Passagiere in den Kabinen erkennen könnte, sitzt Alfred Pritz, Gründer und Rektor der SFU, mit mindestens vier Doktortiteln, zahlreichen Orden, Ehrenfunktionen in ausländischen Organisationen, Autor von Fachbüchern und Dutzenden wissenschaftlichen Arbeiten, Gastlektor auf Universitäten in China, Südafrika, Albanien und noch ein halbes Dutzend Länder, bequem zurückgelehnt in seinem Ledersessel und wartet geduldig auf die Fragen, die ich ihm stelle.
Selbst als Fragender fühlt man sich bei einem Interview mit einem Psychotherapeuten sofort in der Rolle des Beobachteten. Professor Pritz bleibt eher ruhig und zurückhaltend am Beginn des Gesprächs, seine Augen scheinen einen abzutasten, jede Regung und Bewegung registrierend und wahrscheinlich interpretierend, beantwortet er die ersten Fragen nur kurz und wartet eben, und beobachtet.

Zu meiner Überraschung beginnen wir das Gespräch nicht mit der Geschichte der SFU, sondern mit Brexit, den Professor Pritz erstaunlicherweise für gut hält. Er sei ein Anhänger von Brexit, erklärt er, und erinnert sich an seine Erfahrungen als Generalsekretär des Europäischen Psychotherapieverbandes, den er nicht nur gegründet, sondern auch 27 Jahre lang geleitet hatte, und vergleicht das Verhalten der Briten in dem Verband mit dem Chaos der Brexit-Verhandlungen. Bereits zwei Jahre nach Gründung der Vereinigung versuchten die Briten, ihn durch einen eigenen Mann zu ersetzen, verloren die Abstimmung, versuchten es ein Jahr später, schafften es wieder nicht, drohten auszutreten, traten aber nicht aus und stellten zwei Jahre später wieder einen eigenen Kandidaten auf. Nach 27 Jahren hatte er keine Lust mehr auf die Grabenkämpfe und verließ die Vereinigung.

Die Briten seien allen anderen auf die Nerven gegangen. Doch aus ihm spricht nicht nur der beleidigte Anklagende, sondern auch der reflektierende Therapeut, wenn er meint, es stelle sich die Frage, wie es den Briten dabei ginge. Wenn man allen anderen das Leben schwer machen würde, mache man es sich selbst auch schwer! In diesem Sinne würden ihm die Briten eher leidtun.
Nachdem wir die Briten »kollektiv zu Patienten« erklärt hatten, geht Professor Pritz auf die Geschichte seines Hauses ein. Begonnen habe alles mit dem Psychotherapiegesetz, das die Psychotherapie und Psychoanalyse in den Universitäten als eigenen Studienzweig sicherstellte, trotz größten Widerstands der etablierten Professoren. Sie kritisierten damals, die Psychotherapie sei unwissenschaftlich, weil nicht falsifizierbar, nicht messbar und naturwissenschaftlich nicht nachweisbar.

»Sie ist tatsächlich keine Naturwissenschaft, sondern eine interpretative Wissenschaft wie die Geschichtswissenschaft. Freud hat sie am ehesten noch mit der Archäologie verglichen«, beschreibt Professor Pritz sein Lieblingsfach und wirft den Kritikern vor, die Psychoanalyse bewusst unkorrekt beschrieben zu haben. 1990 beschloss der Nationalrat trotz massiven Widerstands der Ärztekammer, die ihr Behandlungsmonopol psychischer Erkrankungen gefährdet sah, dennoch ein Psychologie- und Psychotherapiegesetz.

Ein Leben für die Psychotherapie
Damit platzierte sich die Psychotherapie neben der Psychologie und Medizin als eigenständige Wissenschaft mit einem berufsorientiertem Studium und einer Berechtigung zur Berufsausübung. Diese Entscheidung Österreichs motivierte Professor Pritz, die rechtliche Sicherstellung der Psychoanalyse auch anderen Ländern vorzustellen. Er bezeichnete seine Idee als »exportfähig« und zahlreiche Länder folgten dem Beispiel Österreichs. Demnächst wird auch Deutschland ein eigenes Psychotherapiegesetz verabschieden. Sogar das zuständige Ministerium der Volksrepublik China schickte eine Delegation nach Wien und ließ sich von ihm bei der Formulierung eines neuen Psychiatriegesetzes beraten.

Foto: Adriane Benten

»Mein ganzes Leben habe ich der Freiheit, Autonomie und internationalen Anerkennung der Psychotherapie gewidmet«, sagt der 1952 in St. Lorenzen bei Scheifling geborene Wissenschaftler, der nach seinem Studium längere Zeit im Albert Einstein Hospital in New York arbeitete und eine entscheidende Rolle als Berater der Regierung bei der Beendigung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen hatte. Er beschreibt die Unterschiede der drei Gruppen – Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater – durch die verschiedenen Behandlungs- und Untersuchungsmethoden. Psychiater würden schwere psychische Erkrankungen meist medikamentös behandeln. Psychotherapeuten behandeln Menschen, die an sich selbst leiden, während Psychologen keine therapeutische Ausbildung haben und sich auf das Untersuchen und Testen spezialisieren sollten. Würden die drei Gruppen sich auf diese Bereiche beschränken, gäbe es auch keine Konflikte oder Überschneidungen. Nach einer Studie der Krankenkassen leiden mehr als 900.000 Österreicher an psychischen Störungen, nur etwa 100.000 bekommen eine adäquate Behandlung. Die meisten würden durch den Hausarzt medikamentös behandelt, weil es immer noch einen enormen Nachholbedarf an akademisch ausgebildeten Fachkräften gebe.

Trotz der rechtlichen Etablierung fehlten jedoch Fachkräfte mit einer entsprechenden akademischen Qualifizierung, da die Universitäten keine fachbezogenen Studien anboten, und so entstand die Idee, eine eigene Privatuniversität zu gründen.

Eine »verrückte« Idee
»Die Idee war verrückt und wir sahen uns von Feinden umgeben, die eine eigene Universität mit allen Mitteln verhindern wollten«, sagt Pritz mit dem zufriedenen Lächeln eines Siegers, der sich letzten Endes gegen alle Widerstände durchgesetzt hatte. Die Sigmund-Freud-Gesellschaft hätte ihn geklagt und vor Gericht verloren. Die aus Deutschland bestellten Gutachter stellten ein vernichtendes Gutachten aus und die etablierten Institutionen versuchten zu blockieren, wo es nur möglich war. Professor Pritz beschreibt die Gründung der Universität auch als persönlichen Entwicklungsprozess, mit Zweifel an sich selbst, deprimierenden Rückschlägen und einer ganzen Armee von Gegnern. Dennoch gelang 2005 die Akkreditierung der Privatuniversität, die heute immer noch von drei der vier Gründern geleitet wird, die zwar laut Pritz völlig unterschiedliche Persönlichkeiten sind und verschiedene Qualitäten haben, sich jedoch gegenseitig optimal ergänzen. Seit 2007 gibt es auch die Studienrichtung Psychologie. Die Universität bietet damit die Praxis zur Theorie, dass Psychologie und Psychotherapie zwei unterschiedliche Fächer sind. In beiden Richtungen wird Bakkalaureat, Magister- und Doktoratsstudium angeboten und einer der Gutachter lobte diese Struktur als das »Europamodell« für die Ausbildung im Bereich der Psychologie und Psychotherapie.

Pritz unterbricht plötzlich lachend die Aufzählung seiner Erfolge und erinnert sich an eine Anekdote, die seine Frau gerne erzählt, als er ihr zu Beginn versicherte, es sei zwar jetzt viel Arbeit mit der Gründung verbunden, aber nach zwei Jahren würde die Sache von alleine laufen. Seit damals seien fünfzehn Jahre vergangen und er arbeite immer noch mehr oder weniger Tag und Nacht an dem Projekt. Das größte finanzielle Risiko sei man mit dem Bau des ersten eigenen Institutsgebäudes eingegangen. Da hing alles an einem einzigen seidenen Faden und hätte auch schief gehen können, da die Universität sämtliche Mittel für Grundstück und Bauwerk selbst am Finanzmarkt aufbringen musste. Weder Staat noch Gemeinden gewährten Unterstützungen. Doch zum Erstaunen aller habe sich seine Idee auch kommerziell durchgesetzt.

Manchmal hätte man Pläne ändern müssen, weil in einem Bundesland Wahlen stattgefunden hatten und die neue Regierung Vereinbarungen stornierte, die die Vorgänger vereinbart hatten. Er könne stundenlang über Kuriositäten und Widersprüchlichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Strukturen Österreichs referieren, wie Behörden und Institutionen unkonventionelle Ideen und Projekte nicht fördern und unterstützen würden, sondern versuchten, sie mit allen Mitteln zu verhindern.

Doch Professor Pritz hat nicht nur unkonventionelle Ideen, er scheint auch für Kritiker ein unkonventioneller Gegner zu sein. Er überträgt Kenntnisse und Erfahrungen aus der Psychologie in seine Verhandlungstaktik, versucht die Gründe zu verstehen, warum sein Gegenüber mit einer bestimmten Strategie reagiere, und stellt sich darauf ein, als würde er in dessen Gedanken herumwühlen. Seine sanfte, ruhige Art zu sprechen täuscht. Er weiß, was er will, und scheint nicht der Typ zu sein, der schnell auf- oder nachgibt.

Mit der erfolgreichen Gründung der Universität in Wien schufen Pritz und sein kleines Team nach der exportfähigen Idee auch ein exportfähiges kommerzielles Projekt. 2006 eröffneten sie die erste Niederlassung in Paris, dann eine in Laibach und Berlin, Mailand und Linz folgten ein paar Jahre später. In allen Tochtergesellschaften wird in der Landessprache unterrichtet, mit unterschiedlichen kulturellen Schwerpunkten. In Wien wird das Studium auch in englischer Sprache angeboten.

Einer der Schwerpunkte, die ihn von anderen Universitäten unterscheide, sei die Beziehung zur Praxis, beschreibt er sein Modell. Sowohl in der Psychotherapie und Psychologie als auch in der Medizin lernen die Studenten von Beginn an am Objekt, arbeiten in Ambulanzen und Krankenanstalten und die Mediziner müssen für den Bachelor einen Rettungssanitäterkurs absolvieren. Er selbst habe während seines Studiums zwei Patienten untersucht. Seine Studenten heute würden 37 sehen, sagt er stolz und betont die praxisbezogenen Grundlagen seiner Lehrpläne.
Auf Modernisierung der Methoden angesprochen, beschreibt er die regelmäßigen Workshops zu verschiedenen Themenbereichen, zu denen Fachleute eingeladen werden und die den Studenten zugänglich sind. Wenn internationale Spezialisten zum Beispiel über Erfahrungen und neue Behandlungen der Depression diskutieren würden, könnten Studenten dabei zuhören. Auch das sei ungewöhnlich und unüblich für Universitäten, entspreche jedoch seinen Vorstellungen von einer modernen Ausbildung.

Jus als Schwester der Psychotherapie
Neben der internationalen Ausweitung beschlossen Pritz & Co auch eine Erweiterung des Studienangebotes. Seit 2015 bietet die SFU-Wien das Medizinstudium an und seit 2016 das Studium der Rechtswissenschaften. Besonders die Rechtswissenschaften sieht Professor Pritz in einem Naheverhältnis zur Psychiatrie. Er bezeichnet Jus sogar als die Schwester der Psychotherapie, da beide sich eines hermeneutischen Verfahrens bedienen, mit Methoden der Auslegung, des Erklärens und des Verkündens. Nächstes Projekt sei der Studienzweig Sportwissenschaften, das würde gut zu den anderen Richtungen passen. Heute studieren mehr als 5.000 Studenten aus 86 Ländern an den Instituten der SFU, die damit die größte Privatuniversität Österreichs ist. Für den Herbst 2020 haben sich zum ersten Mal Studierende aus Korea und Singapur angemeldet. Eines der vielen Geheimnisse des Erfolgs sei die Zufriedenheit der Studenten, die man wie zahlende Kunden behandle. Die Leitung der Universität lässt Professoren regelmäßig durch die Studierenden beurteilen und die Benotung hat einen Einfluss auf die Vertragsverlängerung. Schlechte Beurteilungen bedeuten für die Rektoren, dass das angebotene Lehrverfahren nicht den Bedürfnissen der Studierenden entspricht.

Eine neue Herausforderung sieht Professor Pritz in den modernen Medien und erzählt von einem Seminar in Moskau, wo die teilnehmenden Fachleute hauptsächlich mit Onlinetherapie gearbeitet hätten. Das größte Problem sieht er nicht im Mangel des persönlichen Kontakts, der könne kompensiert werden, sondern in der Datensicherung. Man stelle sich vor, ein Ehemann spricht über seine Frau während der Therapiestunde, die Ehefrau entdeckt das Gespräch auf dem Laptop und benutzt es vor Gericht bei einer Scheidungsklage.

Auf seine persönlichen Ziele in der Zukunft angesprochen, lehnt Professor Pritz sich lächelnd zurück und meint, er habe keine Ziele, was nicht ausschließe, dass so manches einfach passieren könne. Es gebe Interesse an dem Modell der Universität in Asien und anderen europäischen Ländern. Er habe nicht die Absicht, trotz seiner 67 Jahre in Pension zu gehen, solange Gehirn und Körper noch funktionierten. Es mache ihm immer noch Spaß und der Erfolg schaffe ein Klima der Gemeinsamkeit unter den Lehrenden und Verantwortlichen, das es sonst kaum an anderen Universitäten gebe.

Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Alfred Pritz wurde am 31. Oktober 1952 in Sankt Lorenzen bei Scheifling geboren und ist Psychoanalytiker, Publizist und Herausgeber. Nach seiner Promotion arbeitete er ab 1977 als Psychotherapeut am Ambulatorium der Wiener Gebietskrankenkasse und befasste sich überwiegend mit Therapien von alten Menschen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Bekannt wurde Alfred Pritz vor allem durch sein berufspolitisches Engagement und sein Bemühen, die zersplitterte und zerstrittene psychotherapeutische Landschaft in Österreich zu einen. 2005 gründete er gemeinsam mit Jutta Fiegl, Heinz Laubreuter und Elisabeth Vykoukal die Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien.

Sychrovsky und … (3), Fazit 152 (Mai 2019), Fotos: Adriane Benten

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