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Der blinde Fleck unserer Gesellschaft: Alte Menschen

| 3. Juni 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 153

Foto: PaperwalkerEin Essay von Maryam Laura Moazedi. Von der Hartnäckigkeit konstruierter Altersbilder und den Folgen mangelnder Logik und Empathie.

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Mag. Maryam Laura Moazedi ist Diversity-Fachfrau und -Bloggerin, sowie Universitätslektorin an der Grazer Karl-Franzens-Universität. moazedi.org

Früher einmal wurde das Alter wertgeschätzt, heißt es. Ältere Menschen sollen respektierte Mitglieder der Gesellschaft gewesen sein, deren Wissen und Erfahrung akzentuiert wurden. Irgendwann begann sich die Achtung der Verachtung zu nähern, schleichend, die Dosis des Verträglichen Schritt für Schritt vergrößernd. Vor allem in westlichen Kulturen wird ein deutlicher Trend zur Entwertung älterer Menschen verortet, ein Trend, der sich mit besorgniserregender Geschwindigkeit verschärft.

Ab einem gewissen Alter wird einem die Individualität abgesprochen und man endet undifferenziert in einem Einheitsbrei von Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, diverser Generationen und Altersgruppen. Dem Konstrukt der »50-plus«-Gruppe aus vergangenen Marketing-Tagen begegnet man angesichts des heutigen Wissensstandes noch viel zu häufig. Wer über 50 ist, ist gleich. Die mangelnde Differenzierung hat einen unschönen Beigeschmack, sie pauschalisiert, verzerrt nach oben, abstrahiert. Das Konzept einer einheitlichen »50-minus«-Gruppe hat sich im Gegensatz dazu nicht durchgesetzt, hier spricht man eher von Individuen, Generationen, Lebensabschnitten und Lebensstilen. Selbst Texten, die sich dem Thema Alter vermeintlich positiv nähern ist eine gewisse Defizitorientierung nicht abzusprechen. »50-plus«-Marketing (in den letzten Jahren haben einige Marketing-Beratungsunternehmen die Schwelle auf »60-plus« angehoben) bedeutet Alterssimulationsanzüge und die Erfahrung motorischer Einschränkungen dieser sogenannten Zielgruppe, ein sicherlich wichtiger Aspekt, der allerdings nur ein Aspekt ist. Wünsche und Charakteristika der älteren Konsumentinnen und Konsumenten werden in einer Sprache beschrieben, die aus den Anfängen der Kulturanthropologie stammen könnte. Die erste Begegnung mit der Spezies alter Mensch; so anders als die Norm, diese alten Menschen, kurios und befremdlich, manchmal niedlich, auf jeden Fall überholt. Und auch ein wenig widerspenstig, leisten sie oft Widerstand gegen das Label »alt«, das ihnen von außen verpasst wird, als wüssten sie mit ihren Selbstbestimmungsansprüchen besser, wann sie alt sie. Sie mögen es nicht so gerne als »alt« bezeichnet zu werden, liest man, das sollte bei der direkten Zielgruppenansprache vermieden werden, der Ratschlag. Als positives Kriterium wird in erster Linie ihre Kaufkraft genannt. Doch auch diese hat nur begrenzte Attraktivität. Als Zielgruppe sind ältere Menschen wenig begehrenswert. Sie bringen zwar Geld und gelten als loyal aber als Unternehmen befürchtet man eine Imageeinbuße. Die US-amerikanische TV-Serie »Dr. Quinn. Ärztin aus Leidenschaft«, beispielsweise, wurde in den 1990er-Jahren trotz des Erfolges vom Sender CBS eingestellt. Anlass war, dass sich im Laufe der Ausstrahlung die demografische Zusammensetzung der Zuseherinnen und Zuseher in eine nicht geplante Richtung geändert hatte. Frauen über 40 Jahre bildeten eine große Basis. Es folgte die Anweisung, das Drehbuch dunkler und weniger freundlich zu schreiben; man ließ in der sechsten Staffel mehrere Figuren sterben und die Hauptdarstellerin eine Fehlgeburt haben um ein jüngeres Publikum anzuziehen. Die unerwünschten 40-plus-Frauen blieben der Serie dennoch treu. Der Sender schüttelte sie ab, indem er die Serie einstellte. Nur der Fanclub überlebte.

Der Punkt, an dem »alt« angesetzt wird ist beliebig, bestenfalls kontextabhängig. Dienstleistungsunternehmen zur Vermittlung von Arbeitskräften lancieren Beschäftigungsinitiativen für »50-plus«, setzen diese gleich mit »Programmen für Ältere« und gehen noch einen Schritt weiter und wenden sich an »ältere Arbeitssuchende«, die »45-plus« sind. Die Grundlage dieses Gedanken ist nachvollziehbar, die Wahl der Altersgrenze beruht auf Fakten, denen zufolge ab 50 respektive 45 Jahren die Akzeptanz für Arbeitssuchende in Abhängigkeit von Qualifikationsniveau, Branche und Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt drastisch gering wird. Unverblümt formuliert: Es wird ungeniert diskriminiert. Durch den Gebrauch dieser Labels, allerdings, trägt man wesentlich dazu bei, diese weiter aufrecht zu erhalten. Gut gemeinte Initiativen perpetuieren Stereotype und zementieren die Idee, dass der Mensch ab 50 oder 45 plötzlich anders sei, schwierig, und schwer zu vermitteln. Mittlerweile wird auch diese Altersgrenze unterboten und »40-plus« kreiert.

Eine erste Zwischenbilanz wäre demnach, dass man mit 60, mit 50, mit 45, mit 40 als alt gilt. Doch die Grenze lässt sich noch früher ziehen, beispielsweise in der Werbeindustrie, in der das Durchschnittsalter Angestellter Anfang 30 ist und Bewerberinnen und Bewerbern jenseits der 30 mitgeteilt wird, sie stünden auf der falschen Seite der Altersgrenze, wären zu alt, um innovativ zu sein. Kreativem Denken wird die Grenze von 29 gesetzt, einfach so. Studien zufolge bezeichnet ein Gros Interner die Branche als hochgradig altersfeindlich. Das reflektiert auch eine Vielzahl des Outputs der Werbeagenturen: Models im jungen Erwachsenenalter werben für Hautcreme. Models im mittleren Erwachsenenalter werben für Anti-Ageing-Creme. Ab einem bestimmten Alter haben Frauen keine Gesichtshaut mehr, nur Falten – die es im Übrigen zu bekämpfen gilt. Familienidyllen zeigen strahlende Eltern zwischen Anfang und Mitte zwanzig mit acht- bis zwölfjährigen Kindern. Nicht als Ausnahmeerscheinung und auch nicht mit den statistisch korrelierenden Realitäten einer minderjährigen Mutterschaft, den eher ungünstigen soziodemografischen Bedingungen, versteht sich. Die Werbemutter zweier Werbekinder strahlt jung und glücklich in der Architektenvilla mit Designermöbeln neben ihrem jungen, erfolgreichen Werbeehemann und Werbekindesvater. Diese Inszenierungen evozieren selten Reaktionen; Gewöhnungseffekt und Akzeptanz sind groß – das Resultat der jahrelang konsequent und wenig subtil ausgesandten Begleitbotschaft »Du sollst nicht altern« beim Appell Butter, Parfum oder Telefone bestimmter Marken zu kaufen. In der Welt der Haute Couture sieht es nicht minder traurig aus; Prada wirbt mit einer 15-Jährigen für High Fashion, Versace mit einer 21-Jährigen als Mutter zweier schulpflichtiger Kinder. Und Miss America muss vor ein paar Jahren ihre Krone zurückgeben, weil sie mit 24 zu alt für die Teilnahme ist. In Hollywood ist, invers zur Entwicklung der Lebenserwartung, 30 das neue 50. Ältere Schauspieler und vor allem Schauspielerinnen werden maximal als Randfiguren besetzt, Narrative sind um zwanzigjährige Menschen zentriert, aus ihrer Perspektive bekommen wir Geschichten erzählt. Implizit lernen wir, die Welt aus der Sicht junger Erwachsener zu sehen aber auch zu bewerten. Die Marginalisierung ist schonungslos, weder Erfolg, Beliebtheit, noch Oskar-Prämierungen schützen. Meryl Streep beobachtete, dass sie ab 40 primär für Hexenrollen besetzt wurde, Dustin Hoffman, dass er nur mehr Nebenrollen bekam und Sir Roger Moore, dass man als Schauspieler nicht in Pension ginge, sondern das Telefon einfach aufhören würde zu läuten. Selbst 30-jährigen Schauspielerinnen wird ihr Alter zum Vorwurf gemacht. Während die Schieflage hinsichtlich Ethnizität und Geschlecht bei der Vergabe des Oscar-Filmpreises in jüngster Zeit für Diskussion, Aufsehen und Bewusstsein sorgte, war der Hashtag #OscarsSoYoung im Vergleich zu #OscarsSoWhite und #OscarsSoMale eine armselige Eintagsfliege. Parallelen zeichnen sich in der Musikindustrie ab. Mit 27 ist man zu alt für den Durchbruch, muss man bereits etabliert sein. Doch auch dann ist man nicht davor gefeit, ein Ablaufdatum zu bekommen. David Bowie, beispielsweise, wurden eigenen Angaben nach ab einem bestimmten Alter keine Fernsehauftritte angeboten, seine Lieder im Radio kaum mehr gespielt. Cher und Madonna erlebten Ähnliches zeitlich vorversetzt, Frauen verzeiht man das Altern noch weniger. Sharon Jones bekam von Sony zu hören sie sei zu alt (und hätte zudem nicht das »richtige« Aussehen). Das Argument ist nicht, dass sich etwa die Stimme negativ entwickelt hätte, die Musik nicht mehr nachgefragt oder einfach die Luft draußen wäre. »Zu alt« ist die Rückmeldung, unverblümt, unbekümmert und unsinnig.

Indes entwickelt sich Silicon Valley, das Mekka der IT- und Hightech-Industrie, zu einer Karikatur des Jugendwahns und der damit einhergehenden Altersphobie. Während das Medianalter des US-amerikanischen Angestellten 42 Jahre beträgt liegt es bei Facebook bei 29, bei Google und Amazon bei 30, bei Apple bei 31 und bei Microsoft bei 33 Jahren. In einem kausalen Zusammenhang mit dem dadurch verursachten Druck steht der über 200-prozentige Anstieg von Schönheitsoperationen unter Männern zwischen 2010 und 2016, die in Silicon Valley einen Job suchten oder ihren behalten wollten. Das Alter als reflexartiger Qualifikationsnachweis für den Umgang mit »neuen« Technologien verbreitet sich auch in unseren Breitengraden mit der Erfindung des »digital native«. Der Mythos suggeriert, dass der Umgang mit digitalen Medien eine biologische Verankerung hätte und Teil der DNA aller wäre, die nach 1980 geboren wurden. Er lässt sich mühelos in pseudowissenschaftliche, auf Stereotypen basierende horoskopähnliche Generationen-Einteilungen (z.B. die Mär von Generation X, Y, Z) eingliedern. »Digital native« als Voraussetzung in einem Jobinserat ist in erster Linie ein Hinweis auf das erwünschte Höchstalter der Kandidatinnen und Kandidaten und somit ein bestenfalls euphemistischer Ausdruck für Altersdiskriminierung. Dazu zählt auch die häufig anzutreffende Bedingung, man solle zwei oder drei bis maximal fünf Jahre Erfahrung im jeweiligen Bereich mitbringen. Unternehmen sträuben sich nicht gegen Mehrjahre an Erfahrung, es werden wohl die Mehrjahre an Lebensalter sein, die damit einhergehen.

Was bedeutet es nun, zu altern, alt zu sein? Aspekte wie kalendarisches, soziales und psychologisches Alter, sowie Kategorisierungen sind Versuche, es greifbar zu machen. Letztere variieren je nach Verständnis und verschieben sich mit der Zeit; Einteilungen sprechen beispielsweise ab dem 60 vom dritten und ab 80 vom vierten Lebensalter, andere wiederum ab 61 von älteren Menschen oder jungen Alten und setzen fort mit Hochbetagten und Höchstbetagten. Bei aller Varianz, gemeinsam ist den Klassifizierungen, dass keine im Zusammenhang mit 50, 45, 40, geschweige denn 30 Jahren von alten Menschen spricht.

Alter bestimmt unser Leben, leitet an wann wir wählen, alleine mit dem Lift und Autofahren dürfen, wann wir in Pension gehen. Mit den offiziellen und rechtlichen Vorgaben werden Grenzen mehr oder weniger direkt mit kommuniziert, die sich über das nahezu gesamte Leben erstrecken: wann wir studieren, heiraten, Klavier zu spielen lernen, Wochenends tanzen gehen, mit dem Skateboard fahren, den Spielplatz mitbenützen, Ermäßigungen für den Museumsbesuch erhalten, an Wettbewerben teilnehmen dürfen, wie viel Freiraum wir in unserer Bekleidungswahl haben oder als Nachwuchstalent entdeckt werden. Ab der frühen Kindheit ist das Leben vorgegeben in Kategorien, die nicht alle eine physiologisch gerechtfertigte Basis haben und teils nichts Anderes als gesellschaftlich konstruierte Grenzen sind, deren Nichteinhaltung Grenzüberschreitungen gleichkommen.

Ein rigides Framing macht uns beispielsweise glauben, das Lernen müsse in frühen Phasen des Lebens stattfinden und abgeschlossen werden. Diese Denke war früher einmal sicherlich praktikabel, als man noch von einem Arbeitgeber angelernt wurde und das gesamte berufliche Leben bei ihm verbrachte. Aus heutiger Sicht wirkt, laut Weltgesundheitsbehörde, ein solches Szenario unrealistisch und überholt. Durch das starre Festhalten daran werden die durch die höhere Lebenserwartung gewonnenen Jahre nicht integriert, sondern einfach hinten angehängt. Die zusätzlichen Jahre kumulieren sich dort, wo aus Sicht der Gesellschaft alles bereits abgeschlossen zu sein hat, berufliche Chancen, Veränderungen und Zukunftspläne keinen Platz haben und Angebote für eine aktive Lebensgestaltung relativ gering sind. Die Weltgesundheitsbehörde weist darauf hin, dass eine höhere Lebenserwartung zum Beispiel auch bedeuten kann, die Kinder aufzuziehen und mit 40 Jahren oder sogar später eine Karriere zu starten, in jedem Alter die Laufbahn zu ändern, sich mit 35 eine Auszeit zu nehmen und später wieder einzusteigen und das Konzept Pension mit Möglichkeiten zu mehr Selbstbestimmung zu sehen. Doch je mehr unsere Lebenserwartung steigt, desto früher setzen wir »alt« an, mit allen negativen Konnotationen und Konsequenzen. Erich Fromm stellte einmal die Frage, warum sich die Gesellschaft nur für die Bildung von Kindern verantwortlich fühlen solle und nicht für Erwachsene jeden Alters. Zwar wird die Notwendigkeit lebenslangen Lernens nahezu mantrahaft propagiert, sie wird aber eher als individuelle Aufgabe verstanden, nicht als gesellschaftliche. Zudem sollte man die Aufforderung zum lebenslangen Lernen nicht wortwörtlich nehmen. Das heißt, schon, aber dann doch nicht so ganz oder zumindest an vorgesehenen Orten mit vorgesehenen Inhalten, schön segregiert. So findet jeder seinen zugewiesenen Platz in einer Welt, in der ein intergenerationelles Miteinander exotisiert wird.

Die Gesellschaft bewertet laufend wann man alt genug oder zu alt für etwas ist und ist in der Rückmeldung wenig zurückhaltend. In diesem System gesellschaftlicher Interaktionen wird Altersidentität als eine soziale Identität konstruiert. Alter ist weit mehr als ein kalendarischer oder anatomischer Fakt. Es ist zu einem Gutteil auch das, was wir daraus machen. Verhalten wir uns den Erwartungen entsprechend alterskonform, so wird Alter unsichtbar und wirkt naturgegeben, Vorstellungen von Alter und »altersgemäßem« Leben entstehen durch das Zusammenspiel von Erwartung und Verhalten. Auf dieses Produkt werden schließendlich Erklärungen zurückgeführt. Wir zeigen eine deutliche Tendenz, ältere Menschen auf ihr Alter zu reduzieren und dieses zur Hauptdeterminante ihrer Identität zu erklären. Eigenschaften, Eigenheiten, Interessen, Biografie, Bedürfnisse und vieles mehr, das ein Individuum ausmacht werden dem Menschen abgesprochen. Der Mensch ist so wie er ist weil er alt ist. »Alt« verschleiert, dämpft und macht uns blind für das Individuum, das unserer Meinung nach irgendwann mit fortschreitendem Alter verloren ging. Nach dem Konzept des alterslosen Selbst setzt sich das einst junge Ich im alten Ich fort, gibt es keine substanzielle Veränderung. Was sich allerdings ändert sind Reaktionen des Umfeldes. Alter gehört zu den sogenannten primitiven, automatischen Kategorien, die abgerufen werden sowie man eine Person sieht – damit auch das gesamte Altersstereotypenregister: zerbrechlich, abhängig, unflexibel, starr, eine Last, den Anschluss verloren. In der öffentlichen Diskussion gelten alte Menschen als Kostenfaktor, der Wandel der Bevölkerungsstruktur zu einer alternden Gesellschaft wird als soziodemografisches Armageddon dargestellt. Irgendwie schwingt stets ein Vorwurf mit. Diese alten Menschen. Und dann noch so viele. Wie fühlt man sich, wenn man so beschrieben wird? Welche Spuren hinterlässt das in einem? Die Folgen von Altersstereotypen und -diskriminierung wiegen schwer. Sie wirken intensiv, weil wir sie schon in jungen Jahren aufnehmen, sie ein Leben lang einwirken lassen, diese Angst vor unserem zukünftigen Ich. Und sind wir alt, haben wir sie bereits internalisiert. Durch das frühe Ansetzen wirken sie auch glaubwürdiger, akzeptabler. Und gefährlicher. Zahlreichen Untersuchungen zufolge haben negative Altersbilder Auswirkungen auf kognitive und körperliche Fähigkeiten, auf Gang, Handschrift, kardiovaskuläres System, Rekonvaleszenz und Lebenserwartung. Altersstereotypen haben einen stärkeren Einfluss auf die Lebenserwartung als Blutdruck und Cholesterin, in Summe kosten sie uns 7.5 Lebensjahre. Dennoch bekämpfen wir sie zu wenig. Denn im Gegensatz zu anderen Diskriminierungen ist diese leise, gar lautlos, sind die damit verbundenden Emotionen flacher. Das Thema wühlt nicht auf. Es interessiert nicht.

Es trenden nicht nur keine Hashtags in den sozialen Medien mit Partizipation von Betroffenen und Verbündeten, sogenannten »allies«, wie wir sie von anderen Diversitätsdimensionen kennen (wie etwa Männer, die sich für die Rechte von Frauen und Heterosexuelle, die sich für die Rechte von  Homosexuellen einsetzen). Auch in der Forschung findet, Untersuchungen zufolge, das Thema »ageism« im Vergleich zu »sexism« und »racism« kaum Berücksichtigung.
Sprachlich reflektiert die mangelnde Sensibilität für das Zumutbare unsere Einstellung. Eine Analyse von Artikeln, die von 1997 bis 2008 in der Wochenzeitung »The Economist« erschienen – und das ist nur ein Beispiel – ergab, dass ältere Menschen in erster Linie sprachlich abwertend beschrieben werden: demografische Zeitbombe, finanzielle Belastung, Stigma, Last, nicht wünschenswert. Nur ein geringer Prozentsatz der Artikel war in der Darstellung ausgeglichen, ein noch geringerer war positiv.

Dramatischer ist es im Gesundheitswesen, das gegen negative Altersstereotype auch nicht immun ist. Ganz im Gegenteil, ein Handlungsrepertoire impliziter und expliziter Diskriminierungen bewegt sich zwischen Bagatellisierung und Pathologisierung gesundheitlicher Probleme älterer Patientinnen und Patienten. Konsequenzen reichen von der Verweigerung der Behandlung weil die Beschwerden reflexartig auf das Alter zurückgeführt und normalisiert werden bis zur Überbehandlung weil beispielsweise die persönliche Krankengeschichte nicht berücksichtigt wird. Diskriminierungen gelten als subtil, wenn der Patient von einem Familienmitglied begleitet wird und der behandelnde Arzt Gespräche ausschließlich mit dem Familienmitglied führt und bei Anwesenheit des Patienten über diesen nur mehr in der dritten Person spricht, ihn unsichtbar macht und eine umfassende und prinzipielle Unfähigkeit zu verstehen suggeriert. Gespräche auf einer Augenhöhe sehen anders aus. Ein wenig förderlicher Kommunikationsansatz von Medizinerinnen und Medizinern ist auch, automatisch langsam und laut zu sprechen und übertrieben zu betonen, selbst wenn keine Notwendigkeit besteht. Allgemein sprechen Untersuchungen dafür, dass die Auskunftsbereitschaft gegenüber jungen Patientinnen und Patienten eine größere ist. Informationen sind detaillierter, Unterstützungsangebote vielfältiger. Altersstereotype können zur Universaldiagnose reizen und den Blick auf variierende Ursachen verstellen. Berichte sprechen von Demenzdiagnosen, hinter denen Dehydration und damit vorübergehende Verwirrungen stecken, Nebenwirkungen von neu verschriebenen Medikamenten oder ein Gehirntumor. Bei einer tatsächlichen kognitiven Degeneration wird gerne ein oberflächlicher Screeningtest gemacht und ein Universalmedikament verschrieben. Langjährig angelegte Forschungen ergaben vor kurzem, dass ältere Ältere (Menschen in ihren Achtzigern) Alzheimerpräparate bekommen, die an jüngeren Älteren (Menschen in ihren Sechzigern) erprobt wurden. Die erhoffte Wirkung bleibt häufig aus, da es sich in vielen Fällen gar nicht um Alzheimer handelt. Krankenhäuser sind auf ältere Menschen selten eingestellt, was jeglicher Logik entbehrt. Es wird zwar Wert darauf gelegt, eine Operation gut hinzubekommen, sich davon zu erholen liegt aber in der persönlichen Verantwortung des Patienten. Fakt ist, dass ältere Menschen nach sozusagen geglückten Operationen ein deutlich erhöhtes Risiko tragen, ein postoperatives Delirium zu entwickeln, das gerne mit »Durchgangssyndrom« als vorübergehendes und unvermeidbares Phänomen verharmlost wird. Fakt ist auch, dass Prävention zu einem Gutteil möglich ist, diese aber nur in Ausnahmefällen angeboten wird. Durch ungünstige Bedingungen auf Krankenhausstationen wird die Entwicklung eines Deliriums sogar gefördert. Nach einer technisch betrachtet erfolgreichen Hüftoperation, beispielsweise, entwickeln etwa 65 Prozent der über 60-Jährigen ein Delirium. 86 Prozent der älteren Menschen zeigen nach der Krankenhausentlassung einen deutlichen Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit. Ein schlagartiger Alterungsprozess von 14 bis 15 Jahren ist eine potenzielle Folge. 40 Prozent werden zu einem Pflegefall und können nicht mehr alleine zuhause leben, viele entwickeln eine Demenzerkrankung als Folge des postoperativen Deliriums. Die Ein-Jahres-Mortalität nach dem operativen Eingriff steigt, etwa 34 Prozent der sogenannten Delirpatienten sterben innerhalb des ersten Jahres; das Risiko, die Klinik nicht lebend zu verlassen ist doppelt so hoch. Das Laissez-faire angesichts der dramatischen Folgen ist zutiefst erschütternd.

Ein ähnliches Ausmaß an Handlungsinaktivität zeigt sich im Umgang mit dem Tabuthema physischer, psychischer und finanzieller Missbrauch älterer Menschen und den Tätern, die in erster Linie in der eigenen Familie zu finden sind. Es setzt sich fort bei der Gestaltung urbaner Räume, aus denen ältere Menschen verdrängt werden, dem nichtinklusiven Design von Produkten, der Bekämpfung von Altersarmut, den Missständen in Altenheimen und vielem mehr. Wir werden infiltriert von Slogans wie »notwendiger Generationenwechsel«, die reflexartig Kompetenz und Inkompetenz mit Alter verknüpfen und selbst die Rhetorik der Klimakrise hat sich für den wenig konstruktiven Kampf der Generationen entschieden; der erhobene Zeigefinger richtet sich an die Nicht-Jungen (wir hätten mühelos eine beliebig andere Variable als Marker aussuchen können). Bildungsinstitute, Unternehmen, Fachleute aus Medizin, Architektur, Marketing und anderen Bereichen, sowie viele ältere und jüngere Menschen zeigen, dass es auch anders geht. Ansätze sind vorhanden, aber das Momentum fehlt aus diesen punktuellen Wirkungsbereichen flächendeckende zu machen und langfristig Veränderungen in Denkprozessen und Strukturen in Gang zu setzen. Selbst wenn es uns an Empathie mangelt und wir uns für das Wohl älterer Menschen nicht verantwortlich fühlen, so könnten wir doch zumindest aus eigennützigen Beweggründen heraus handeln. Da wäre zum einen, dass ältere Menschen gemeinhin als Kostenfaktor gesehen werden. Was wir dabei übersehen, ist, dass ihre gesellschaftlich bedingte Marginalisierung hohe Kosten verursacht. Beispielsweise gehen geschätzte 50 Prozent der Krankenhausaufenthalte auf Folgen des postoperativen Deliriums zurück, dem Krankenhäuser zu einem hohen Prozentsatz hätten vorbeugen können. Zum anderen betrifft das Thema irgendwann jeden einzelnen von uns, sofern wir das Glück haben zu altern, ebenso unsere Nachkommen. Kinder sind unsere Zukunft. Kinder sollen auch eine Zukunft haben … wenn sie alt sind.

Die klassischen Meilensteine im Leben haben sich durch die steigende Lebenserwartung nach hinten verschoben. Aufgrund dieser sozialen aber auch bestimmter biologischer Entwicklungen wurde vor kurzem der Anspruch erhoben, Adoleszenz offiziell als eine bis zum 24. Lebensjahr währende Phase auszudehnen. Rechnerisch ergibt das, dass wir ab 25 Jahren als voll und ganz erwachsen gelten und – geht es nach der Werbe- und Arbeitswelt – bis 29 jung sind. Fünf Jahre jung und sechs bis sieben Jahrzehnte alt? Das können wir besser.

Essay, Fazit 153 (Juni 2019), Foto: Paperwalker

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