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Die vereinten Nationen von Alpbach

| 11. Oktober 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 156

Foto: Matteo Vegetti

Thomas Goiser hat für uns das Europäische Forum besucht und berichtet von aktuellen Herausforderungen und deren Konfrontation mit den Themen »Freiheit und Sicherheit«.

::: Text von Thomas Goiser
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Jährlicher Fixpunkt im österreichischen Veranstaltungsreigen ist das Forum Alpbach, das 2019 bereits zum 74. Mal stattfand. Heuer war unter dem Generalthema »Freiheit und Sicherheit« dennoch einiges anders. Bedingt durch die Neuwahlen war die Dichte an Bundesministerinnen und -ministern (vorläufig a. D.) sehr hoch, dazu kamen natürlich ein Großteil der aktuellen österreichischen Übergangsregierung, ehemalige deutsche Spitzenpolitiker mit Zukunftspotenzial (Karl Theodor zu Guttenberg, Friedrich Merz), Intellektuelle von Weltrang wie Jeffrey Sachs, Joseph Stiglitz, Bundespräsident Alexander Van der Bellen, EU-Kommissar Günther Oettinger, die Präsidentin der UNO-Generalversammlung, Maria Fernanda Espinosa Garces, der ehemalige UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon und der frühere Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), Pascal Lamy. Wer einen Spitzengast nicht beim (meist überfüllten) Plenarauftritt sehen konnte, hatte im Umfeld – mit Einladung – die Chance bei einem Empfang, einer Sonderveranstaltung eines Partners oder bei einem Kamingespräch mit einer der Stipendiateninitiativen und -Clubs anzutreffen. Dies galt auch für den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin. Es zeigte sich auch eine Tendenz zur Größe, die das Fassungsvermögen des Raums sprengt: Rund 5.000 Gäste, davon etwa 700 Stipendiatinnen und Stipendiaten aus 95 Ländern. Apropos Größe: Der Steiermark-Empfang ist der wohl traditionsreichste und – neben jenem Niederösterreichs – einer der größten Bundesländerempfänge.

Die schwierige Balance von Freiheit und Sicherheit
Aber zum Inhaltlichen: Klimawandel und Digitalisierung im Allgemeinen sowie die politische Verfasstheit der Europäischen Union und der Republik im Besonderen prägten die Diskussionen. Grundtenor war eine Art qualifiziertes Problembewusstsein mit verhaltenem Optimismus. Die Herausforderungen für die »Nächsten« sind groß, das gilt für die künftige EU-Kommission wie für die nächste Bundesregierung wie auch für die anstehenden Nachfolger in diversen führenden Staaten der Welt. Einige Regierungsmitglieder nutzten die Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit und ließen hier mit sehr klaren Botschaften aufhorchen. Werte- und Kostenfragen zu Freiheit und Sicherheit kamen auf den Tisch: Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein sprach sich für Balance im Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus: »Der demokratische Rechtsstaat geht von einem idealistischen Fundament aus, das auf dem Primat der Freiheit basiert. Demokratie ist fragil. Grundrechte sind nicht selbstverständlich. Sie müssen Tag für Tag verteidigt werden.« Junge Menschen müssten darüber aufgeklärt werden, was Freiheit, Sicherheit und Demokratie in ihrer Abhängigkeit voneinander bedeuteten und dass es sich lohne, dafür aufzustehen.
Vizekanzler Justizminister Clemens Jabloner warb dafür, Gerichtsurteile zur Kenntnis zu nehmen. Kritik an diesen sei natürlich erlaubt. Urteile hätten es aber an sich, dass sie nicht alle glücklich machen können. Man solle Richtern deshalb nicht reflexartig unlautere Motive unterstellen. Außerdem hält er den Siegeszug der Grundrechte ungeachtet ihrer steten Vermehrung und Verfeinerung ernstlich bedroht. Dagegen sollte man sich stellen und es ansprechen, findet Jabloner. Verteidigungsminister Thomas Starlinger wiederholte in einem kurzen Vortrag seine Kritik an der schwierigen finanziellen Situation des Ressorts. Dass das Heer in jedem Fall zur Hilfe eilen könne, nannte Starlinger eine Illusion. Dies könne schon jetzt nicht mehr gewährleistet werden, da das Bundesheer heute nicht mehr (voll) handlungsfähig sei. Wer die Aufrechthaltung der Organisation wolle, müsse auch daran denken, dass das etwas koste.

Klimafragen im Plenum und auf der Straße
Drastische Worte fand Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei seiner Warnung vor einem Scheitern der Pariser Klimaziele: »Wenn es der Weltgemeinschaft nicht gelingt, die Pariser Klimaziele einzuhalten, sind (…) alle anderen Fragen, die die Menschheit hat, schlicht und einfach nebensächlich und egal.« Anlass zur Hoffnung sah Van der Bellen darin, dass die künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula Van der Leyen Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent machen will. Überhaupt gab es erneut ein Bekenntnis des Bundespräsidenten zur EU, die in den eigenen Grenzen zu wenig geschätzt werde: »Von außen gesehen ist das, wo wir da leben, ein Paradies.«

Was erwartet uns in den nächsten Jahrzehnten konkret?
Wissenschafter sprachen bei den im kleineren Kreis abgehaltenen Arbeitskreisen einige spannende Themen an: Gesundheitswesen und Klimawissenschaft etwa müssen systemübergreifend betrachtet werden. Hitzeschutzpläne, Klimawandel-Anpassung (vor allem an häufigere Extremwetterereignisse), neue invasive Insektenarten und Allergien. In Städten wird mehr Grünraum nötig sein, um das Mikroklima zu stabilisieren. Wohnen, Ernährung und Mobilität werden sich verändern. Die Bevölkerung wird mehr über Zusammenhänge für ihre eigene Gesundheit wissen müssen – nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels. Das alles neben den globalen Migrationsströmen, die vom Klimawandel verursacht werden. Jeweils an den Freitagen fanden drei »Fridays For Future«-Demonstrationen statt – kontrollierte Verkehrsverzögerungen inklusive. Auch so kamen die globalen Probleme im blumigen Bergdorf an. Im kommenden Jahr feiert das EFA übrigens sein 75-jähriges Bestehen und wird dabei von 19. August bis 4. September unter dem Generalthema »Fundamentals« abgehalten.

Weitere Informationen
In Alpbach kamen heuer in der 2. Augusthälfte insgesamt wieder mehr als 5.000 Menschen aus über 95 Nationen, um Zukunftsfragen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu diskutieren. Rund 800 Sprecherinnen und Sprecher trafen auf etwa die gleiche Anzahl von 720 Stipendiatinnen und Stipendiaten unter 30 Jahren. 2019 findet das Forum von 19. August bis 4. September  unter dem Generalthema »Fundamentals« statt.
Reisetipps: Frühzeitig buchen. Festes Schuhwerk und wetterfeste Kleidung einplanen. Nehmen Sie sich für mehr als ein »Gespräch« Zeit (also vier bis fünf statt zwei bis drei Tage), blicken Sie mit Freude etwas über den Tellerrand und vielleicht auch von einem Gipfel auf das Geschehen.
alpbach.org

Fazit 156 (Oktober 2019), Foto: Matteo Vegetti

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