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»Ach, like mich doch!« Influencer und Instagram

| 29. Mai 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 163

Foto: PaperwalkerEin Essay von Maryam Laura Moazedi. Über den Zauber der Banalität und Artifizialität, Hintern, Influencer und Instagram.

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Mag. Maryam Laura Moazedi ist Universitätslektorin an der Karl-Franzens-Universität. Ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte sind Diversity Management und Human Resources. moazedi.org

Ein sanft-verklärter Blick in die Ferne, Pastellfarben, im Hintergrund harmonisch der Sandstrand … ein lasziv-scheuer Augenaufschlag über die Schulter, den tätowierten Schmetterlingsflügel andeutend, das Licht gewusst dosiert … ein ekstatisch-exaltiertes Lachen, feuchte Farben, viel Zahn und der Niedrigkalorien-Brunch nach dem fernsehformatierten Einkauf mit Lara, Lena und Lotte, allesamt geklont … der Kopf von hinten, der Blick nicht sichtbar doch bedeutungsschwanger auf den Sternenhimmel gerichtet, oder die Berge, oder die Skyline, oder die Liebe ihres Lebens … alle Fotos durch den Farbfilter romantisiert, Farben, die die dahinterliegende Stimmung mittransportieren und die Bildaussage unterstreichen sollen, uns atmosphärisch davon erzählen, dass es gut ist zu einem, das Leben. Und immer ist sie da, genau im richtigen Moment, ganz zufällig, die Handykamera, um diesen ganz besonderen Augenblick einzufangen, der so einzigartig ist, einzigartig in der Intensität seiner gefühlt ewigen und lähmenden Repetition. Wie schrieb einmal jemand für die Süddeutsche Zeitung? »Es gibt Ikea-Bilderrahmen, die man seltener sieht als dieses Motiv.«
Der selbsterwählte Konformitätsdruck scheint kein geringer, die Verlockung, Klischees zu reproduzieren, andere und sich zu plagiieren, von unwiderstehlichem Zauber zu sein. Gleichschaltung ist die Maxime, Individualität bewusstlos gestellt. Permanente Dèjà-vus, gefangen in einer Möbiusschleife. Ein Mal geht noch. Klick. Hashtag. Like.

Make-up, Botox, Silikon, Bildbearbeitungs-Apps und irreführende Posen, die Körperstellen – je nach Laune des Modediktats – dünn oder fett wirken lassen. Am Pool räkelnd, den Hintern gen Kameralinse gepresst, eine Haltung, die künstlicher nicht sein könnte und irgendetwas im Dunstkreis von Peinlichkeitsgefühlresistenz assoziieren lässt, ein Blick, der mit dem Vakuum hinter den Augen spielt. Dazu noch eine Reihe sich selbst sexualisierender Selfies, vor dem Spiegel, weil die Schönste im Land, von oben, weil macht jünger, Mund halb offen, weil generiert mehr Likes, den Bauch betonend, weil lange dafür trainiert; … das Gesicht zu einem als erotisch missverstandenen Duckface verzerrt, das laut einer Dating-Seite zu mehr Zuschriften führt, aber ansonsten – da gibt es zumindest einen Minimalkonsens, – als äußerst unbeliebt gilt. Der durch fortwährende Diät und permanente Übungen gemachte Körper wird zum sinnstiftenden Lebensquell und Objekt, der Mensch zu seinem eigenen Voyeur.

Und der Mensch wird auch zu seinem eigenen Paparazzo, folgt sich selbst auf Schritt und Tritt, schraubt Alltagsg‘schichten mit einer Melange aus Enthusiasmus und Pflichtgefühl zu Ereignissen hoch, lässt Indifferenz als Reaktion nicht gelten. Nicht so sehr: Der Mensch landete auf dem Mond, der Mensch spaltete Atome oder der Mensch rettete Kinder aus dem Mittelmeer. Eher: Der Mensch hatte Frühstück. Der Mensch traf Freunde. Und der Mensch gab der Katze Futter. Alles wird festgehalten, nicht immer von Belang. Groß ist die Sehnsucht nach der Suggestion, dass viel los wäre im Leben, das keine Eintönigkeit kennen darf.

Ich lieb ein pulsierendes Leben,
das prickelt und schwellet und quillt,
ein ewiges Senken und Heben,
ein Sehnen, das niemals sich stillt.
Rainer Maria Rilke

So kann das lästige Korsett der Alltagsroutine, die schon per definitionem kein ständig pulsierendes Leben zulässt – das, mit Rilke, prickelt und schwellet und quillt – manch einen und manch eine zum Gedanken verführen, dem Publikum mehr bieten zu müssen, um es bei Laune zu halten. 259 Selfie-Tote soll es zwischen 2011 und 2017 gegeben haben, Tendenz steigend. Alle lebensverkürzenden Register werden gezogen, beim spektakulären, unfreiwilligen aber wahrscheinlichkeitstheoretisch doch eher wenig überraschenden Tod: Sturz von Bergspitzen oder Wolkenkratzerdächern, Ertrinken in Seen, Begegnung mit nicht domestizierten Tieren, Stromschlag, Feuer, Schusswaffen. Es wird in Postings gedacht, in Postings gelebt … in Postings gestorben. Das Like wird zur Währung, das Leben zum Preis, den man zahlt.

Geht es nach Jean Baudrillard, dem »philosophischen Halbgott der Postmoderne«, so produzieren wir eine künstliche Hyperrealität, in der der Bezug zum Realen keinerlei Rolle spielt. Die wahrnehmbare Differenz zwischen Original und Kopie wird aufgelöst, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Blendwerk unmöglich. Baudrillards Simulationstheorie lässt sich nicht wirklich in wenigen Zeilen erklären. Auch war Instagrams Hochglanzrealität abgegriffener Lebensstilklischees nicht seine inspirierende Referenz. Aber sie lässt an sie denken, an die Chimäre des zweidimensionalen Glücks und die Irrelevanz des Realen mit dennoch lebensechten Folgen für Jung und Labil, wie Zweifelund Defizite, wenn der Tag von dem schablonierten Soll abweicht: ein Latte Macchiato hier (der Kaffee von der Rösterei des Vertrauens, die Milch Soja), ein Mittagessen dort (low-carb, low-fat), ein Erfolgserlebnis bei der Arbeit (Hashtag LoveMyJob), ein After-Biz-Treffen mit Freundinnen (jede ein Abziehbild der anderen und ihrer selbst), eine Stunde im Fitnesscenter (Fitness-Selfie, Hashtag FitnessGirl), ein Abendessen bei Kerzenlicht (er reich und daher schön), zuhause angekommen Golf-und-Wellness-Kombinationswochenende (wieso eines, wenn man beides haben kann), Urlaub in der Karibik (ins Meer hinausschwimmen, Hashtag Freiheit), Bergtour mit Zelt (Naturverbundenheit trendet und wirkt sympathiefördernd) und einen kurzen Städtetrip (die »most instagramable« Orte ansteuernd) buchen. Die nächsten zwei Wochen können kommen. So geht Leben mit 23 Jahren.

Und immer weiter rücken die Grenzen ins Maßlose und Karikatureske, werden Schwellen fürs Zumutbare und ästhetische Mindestanforderungen herabgesetzt, bereiten die Bilder einem mehr Schmerz als die Vorstellung, sich verzweifelt eine Gabel ins Auge zu rammen, um ihrem Anblick zu entkommen: ungeniertes Neureichengepose, viel billig servierter Körper, unfreiwillige Komik, endlose Vulgarität. Peinlich berührt war gestern, selbstbewusst stillos ist heute. So begegnet man den »Rich Kids of the Internet« (mit Lokalkoloriten wie Rich Kids of Russia, Rich Kids of Saudi, etc.), die zur Schau stellen, was sie haben, was andere nicht haben: Jacht, Privatjet, fünfstellig bepreiste Armbanduhr, Brunch am Pool, Pudel in der Louis-Vuitton-Tasche, Champagner statt Milch in den Frühstückscerealien, zu kleine Bikinis auf zu viel Silikon in übergrell betonten Körpern, aufgeklebte Nägel in schreiend leuchtendem Rosa, Bugatti und noch mehr Autos und Hintern, die beide mühelos, in ihrer Optik und (wenn es sie gäbe) künstlerischen Botschaft, Analogien zu Erwin Wurms aufgeblähten »Fat«-Plastiken herstellen lassen. Hinzu kommen regelmäßig »Challenges«, wie beispielsweise die »Falling Stars«, die Instagram-Menschen vor zwei Jahren dazu bewog, einen »Huch, ich Ungeschickte ich, jetzt bin ich aber aus meinem Luxusvehikel gefallen«-Sturz zu arrangieren, bei dem ihnen beim Fall aus ihrem geparkten Hauptsacheteuerauto, gelandeten Hubschrauber oder Privatjet beispielsweise Designerhandtasche mitsamt der Inhalte, alle von müder Statussymbolik, schön geordnet auf den Boden fallen und, wie es das Schicksal will, abfotografiert werden.

Fake ist Zeitgeist, mehr noch, ein Substitut für Authentizität, die mit synthetischer Natürlichkeit imitiert wird. Hinter einem vermeintlichen Schnappschuss verbergen sich ein Dutzend Anläufe, das Essen ist nach dem Kriterium Fotogenität selektiert, der Smoothie auf die Farbe der Bluse abgestimmt, der Tisch sorgfältig für den Fotoausschnitt arrangiert, die Alltagssituation mit Platituden vermittelnden Hashtags aufgeladen. Eine ganz zufällige Momentaufnahme, Jung und Glücklich schlecken gesichtschoreographiert glutenfreies Eis, Verträumt und Weiblich in Blumenkleid sieht gedankenverloren aus dem Fenster, kleiner Mensch sitzt in der Wiese, ein dekorativ platzierter Schmutzfleck am Knie, weil gehört dazu, wenn echt, dazu die Hashtags: TreatsAndFriends, SearchingForHappiness, ProudMum. Die Inszenierung von Familienglück ist lukrativ, Nachwuchs wird zum Geschäftsmodell, die Hobbyfotografie dient aus, Fotografinnen und Fotografen werden engagiert, die professionelle Bilder mit einem fein dosierten Hauch des Nichtprofessionellen, mit kalibrierter Amateurhaftigkeit machen, damit der Identifikation mit dem harmonierten Kind-Natur-Setting und dem Durchbruch des »kid influencer« nichts im Weg steht. Deutungslenkende Hashtags stehen für die eine, wahre Interpretation der Bildsprache, ach, haben wir ein verrückt-lustig-abenteuerliches Familienleben und sind dabei doch so bodenständig. Nur einen Klick entfernt sind sie, die zahllosen Mummy-Blogs und Mummy-Instagram-Accounts – mit einem Muttchen für jeden Geschmack: die perfekte oder doch die Bad-Ass-Mutter, vegan, urban, Häkeltalent, Kochgenie, Diva, Mid-Century-Hausfrau, Impfgegnerin. Sie nennen sie, Instagram hat sie, die Familienidylle Ihrer Wahl, hinter der eine wenig subtile Industrie steckt.

Und immer wieder werden die gleichen, normierten, Sujets adressiert und readressiert, in dem Instagram-Biotop. Pittoresk muss es sein, am besten mitten in einem Tulpenfeld, Blumenleichen hinterlassend, sowie einen Schaden von 10.000 Euro für niederländische Tulpenbauern, die dann die Felder sperren. Gleiches gilt in Orange für Mohnblumenfelder in Kalifornien, in Gelb für Sonnenblumenfelder in Ontario, in Violett für Lavendelfelder in der Provence. Eine Influencerin postet ein Foto von sich im Sonnenblumenfeld, aus den wenigen hundert Besucherinnen und Besuchern pro Woche werden mehrere tausend am Tag, das Sonnenblumenfeld ist überlastet. Auf den kleinen 4.000-Seelen-Ort Valensole kommen über 80.000 Instagram-Einträge – nicht genug, für Selfie-Menschen eine unmissverständliche Aufforderung, noch mehr von dem Gleichen zu reproduzieren. Aus den Lavendelfeldern wird ein Fotofriedhof, die Lebensgrundlage der Bauern gefährdet. Natur wird zur Dekoration degradiert, der Hashtag zur Pilgerstätte.
Taktloser geht. Die Folge, wenn Instagrammer nach einer gleichbenannten Netflix-Serie Tschernobyl »entdecken«, ist, dass der Ort, an dem tausende von Menschen durch die Nuklearkatastrophe starben, zu einer Massendestination wird, junge Frauen selbstgeblendet ihr Fleisch zur Schau stellen. Auch das Holocaust-Mahnmal in Berlin, zum Gedenken der sechs Millionen ermordeten Juden, erweist sich als selfietauglich, zumal sich die von Peter Eisenman eingesetzten Betonstelen zweckentfremden, zu einem fotogenen Hintergrund reduzieren und einem Erlebnispark umfunktionieren lassen. Selbst das größte Vernichtungslager der SS, die Todesfabrik Auschwitz, in der die Mehrheit der Menschen direkt in Gaskammern geschickt und eine Minderheit aussortiert wurde, um zeitversetzt an Hunger, Kälte, Krankheit, »Vernichtung durch Arbeit«, Experimenten, Schüssen, Schlägen, Folter und anderen Sadismen zu sterben, wird zu einem bedeutungsleeren Ort, aus der Gedenkstätte eine Kulisse, wenn in ihr primär Motive für das perfekte Selfie gesehen werden.

Zurück zu den so gern stimulieren wollenden Fotos aus Tschernobyl, die, temperiert formuliert, eine mild irritierende und leicht fremdschamevozierende Wirkung auf mich haben. Und, fürs Protokoll, dahinter stecken keine Prüderie, keine Scheu vor nacktem Körper, keine reflexhafte Assoziation letzteren mit Moralität, auch nicht der Anspruch, jedes Bild müsse einen pädagogischen Wert haben oder von fotografischer Brillanz sein. Ich frage mich nur, was geht in Frau vor, wenn sie mit unzähligen anderen Influencerinnen, in morbid-kitschiger Geigenzählerromantik (in den Neunzehnachtzigerjahren hätte sie Weichzeichner verwendet, jede Wette), ihren Strahlenschutzanzug fallen lässt und deplatziert zwischen den Ruinen in Pose verfällt, verloren in der Trostlosigkeit, ostentativ den Hintern im Stringtanga zur Kamera dreht (oh ja, dieses Foto gibt es tatsächlich). Ich denke an eine weitere Aufnahme, die ich wünschte ungesehen machen zu können: verträumt an die Wand gelehnt, die Visage durch die Gasmaske verhüllt, die Brust frei gelegt. Ist es Exhibitionismus, der geht ja auch anders, ist es ein autoerotischer Anfall, geht ja auch anders, ist es das verzweifelte Spiel um Likes und Follower (ganze 13.000 zusätzliche soll erstes Foto gebracht haben), imaginierter Omnivoyeurismus, beschränkte Innerlichkeit, Herdenzwang mit resultierender Nivellierung des kollektiven Niveaus? Worum geht es ihr im Grunde genommen bei der Ausstellung des Körpers in jedem Kontext, und ich meine wirklich in jedem verdammten Kontext?

Es mag wohl an der Bildlastigkeit liegen. Instagram wird, weit mehr als andere Social-Media-Kanäle, mit psychischen Störungen unter Teenagern und jungen Erwachsenen in einen kausalen Zusammenhang gebracht und gilt als ein nicht zu unterschätzender Wegbereiter für fragwürdige Schönheitsoperationen. In einer letztes Jahr in Deutschland unter Ärztinnen und Ärzten der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie durchgeführten Befragung gaben etwa 60 Prozent an, dass vereinzelt Patientinnen mit zwei Dingen in die Praxis gekommen waren, a) einem Selfie von sich, das mit Filtern der Social-Media-Apps bearbeitet worden war und b) dem Wunsch, zu diesem hinoperiert zu werden; mehr als neun Prozent der Befragten hatten dieses Phänomen sogar häufig erlebt. Filtermutierte Gesichter, öffentlich und anpassungswillig gemachte Körper im Wetteifer, in Formen gezwungen und nach paradoxen Diktaten zurechtgeknetet. Beliebige Vorgaben ändern sich in kurzen Intervallen, fordern einen flexiblen Umgang mit der Oberfläche, pendeln von einem Extrem zum anderen, mit »Challenges« und Hashtags wie: »Bikini Bridge« (hervorstehende Beckenknochen und Zwischenraum zwischen Bauch und Slip), »Ribcage Bragging« (Brustkorb mit hervorstehenden Rippen), »Ab Crack« (angehungert-antrainierte Spalte von Brustbein bis Nabel), »Collarbone Challenge« (Münzen oder Kleiderhaken auf das Schlüsselbein legen, um zu zeigen, dass knochig), »Bellybutton Challenge« (Hand hinter Rücken vorbei bis Bauchnabel), »A4 Waist« (Taille nicht breiter als ein vertikales DIN-A4-Blatt), »Hip Dents« (Hüftwölbungen weghungern), »Thigh Gap« (Lücke zwischen Oberschenkeln) oder vielleicht doch voluminöse »Mermaid Thighs« und ein »Belfie« vom großen Hintern?

Mit Glück, Operation und Investition gibt es nicht nur Likes und weitere Nachahmerinnen, sondern auch Einnahmen durch Werbekooperationen. [Die Rechnung, in Handtaschen und Urlaube zu investieren, die man sich nicht leisten kann, geht nicht immer auf, so manche verschuldet sich in den finanziellen Ruin ohne ein Instagram-Starlet zu werden, als Trost bleiben teure Erinnerungsfotos an das Leben, das eigentlich nie wirklich das eigene war.] Das Festhalten der Beschäftigung mit der eigenen Oberfläche wird zum Traumberuf mit Bühne und Glamour und man darf sich, je nach Reichweite, von zwischen tausend bis über einer Million Abonnentinnen und Abonnenten, Nano-, Micro-, Macro- oder Mega-Influencer nennen. Erfolg wird primär durch die Größe des Publikums definiert, das die Fotoinszenierungen goutiert, konsumiert und reproduziert – die Medien haben ein kreislaufförmiges Eigenleben der ewigen Repetition entwickelt. Die Ansprüche sind zuweilen wohl eher bescheiden, eine Instagram-Frau bricht mit 20 ihr Studium ab und postet seitdem – mittlerweile sind mehrere Jahre vergangen – Fotos von ihrem Hintern in unterschiedlichen Sporttextilien. Erfreulich für sie und irgendwo zwischen kurios und trist für das Gesellschaftsbild, sie hat 3.6 Millionen Follower und lebt davon. Wie ist das, bildet da der Hintern eine Station im Lebenslauf, so ganz offiziell?

Doch irgendwann will nicht jeder Influencer den Auftritt auf den visuellen Selbstentwurf beschränken und es entrückt das Sendungsbewusstsein in den Bereich selbst generierter Lebensweisheiten. So lässt sich beispielsweise die Geburtsstunde des – von einem farbakzentuierten Selbstgemachter-Smoothie-Bildklischee begleiteten – Aufrufs von Influencern zum Trockenfasten erklären. Man solle kein Wasser trinken, das sei leer und ohnehin voller Chemikalien, Bakterien und Giftstoffe und stattdessen wasserreiches Obst und Gemüse essen (letztere sind ja auch fotogener als Wasser). Andere zeigen, wie sie in Zeiten einer Pandemie die Quarantäne verlassen, einer leckt als Demonstration seines »rebellischen« Aktes frei von Sorge, Ekel und Verstand öffentliche Toiletten ab.

Sie sind nicht immer die hellsten, auch nicht immer beliebt und glamourös, die Influencer-Menschen. Die Praxis, ihren Einfluss nach dem ökonomischen Prinzip »quid pro quo« einsetzen zu wollen, um kostenlos in Hotels unterzukommen oder für das Pistazieneis Geld nicht als Zahlungsmittel zu akzeptieren, tut ihrem Ruf wenig Gutes und bringt ab und an auch Hausverbote ein. Vielleicht nicht repräsentativ – und, nein, natürlich sind nicht alle so, und Sie ahnen schon vollkommen richtig, dass es in diesem Essay nur um jene mit sinnarmen Inhalten geht, – aber durchwegs interessant ist der Zugang eines deutschen Influencer-Pärchens, das seine fast 42.000 Abonnentinnen und Abonnenten auffordert, insgesamt 10.000 Euro zu spenden um ihre Reise mit einem Tandem nach Afrika zu finanzieren. Das Geld wäre eine Investition, schließlich seien die Geldgeberinnen und -geber ja indirekt dabei und würden über Instagram an dem »riesigen Abenteuer teilhaben«, wenn das Paar »das Leben und die Freiheit zelebriert, durch Berge und Großstädte fährt und am Meer entlang«, den Zuhausegebliebenen »die schönen Seiten des Planeten und seiner Einwohnerinnen und Einwohner aufzeigt, aber auch die hässlichen«. In diesem Licht betrachtet müssten wir beinahe dankbar für ihr Opfer sein, an unserer statt mit unserem Geld zu reisen. Ähnlich altruistisch sieht ihr Tun eine 23-jährige Instagram-Frau, die einen fünfstelligen Betrag in die Verzerrung von Brust, Lippen und Hintern investiert und mit jedem Posting, mit dem sie für Kleidung, Makeup oder Hotels wirbt, eigenen Angaben zufolge mindestens 5.000 Dollar macht. Dies sind Fakten von nahezu plumper Offensichtlichkeit an den oberflächlichen Betrachter adressiert, dem feinfühligen Beobachter mit Sinn für Mehr erschließt sich der wahre Wert ihrer Fotos, ohne dass die Dame darauf hinweisen müsste, was sie dennoch tut: Mit ihren »sexy Selfies« würde sie »positive Energie« verbreiten. Ihrem synthetisierten Hintern sei also unser tiefster Dank für die guten Schwingungen in unserem Leben geschuldet.

Essay, Fazit 162/163 (Juni 2020), Foto: Paperwalker

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